Fortschr Neurol Psychiatr 2001; 69(SH1): 2-7
DOI: 10.1055/s-2001-15929
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Die Bedeutung der Heidelberger Medizinschule für die Entwicklung der Medizin im 20. Jahrhundert

V. Becker
  • Erlangen
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Publikationsdatum:
31. Dezember 2001 (online)

Über ein dreiviertel Jahrhundert repräsentiert die Heidelberger Medizinschule mit all ihren Verzweigungen eine entwickelte und noch entwicklungsfähige, eine damals neuartige ärztliche Wirksamkeit. Die geistige Ausrichtung war keineswegs einseitig, aber im Grunde einheitlich. Einheitlich? - Hier stock ich schon angesichts der Vielfalt der ausgesprossten Äste, von denen wir heute ein eindrucksvolles Gebiet vorgezeigt bekommen. Ich bin mir der Schwierigkeit, ja der Brisanz bewusst, in diesem Kreise - dazu noch als Nichtkliniker, ja als Pathologe obendrein - die Heidelberger Medizinschule darzustellen, die bestimmt wurde und wird durch die Innere Medizin

zu der die Heidelberger Neurologie zunächst Hilfestellung geleistet hat, zuerst in der Form von Wurzeltätigkeit seit Friedreich und Erbund später durch Adaptationen bis zu der Selbständigkeit, aber auch immer im Gleichklang mit dem Kern der Heidelberger Entwicklung, im Gleichklang der Zielsetzung.

Ich rechne mir dadurch mildernde Umstände aus, dass ich einst als Student bei Paul Vogel gehört habe, wie auch drüben bei Richard Siebeck. Später als Assistent besuchte ich die Vorlesungen von Viktor v. Weizsäcker - so dass ich „Zeitzeuge”, wenn auch aus der Froschperspektive, bin.

Lassen Sie mich zunächst die Entwicklungslinien der medizinischen Wissenschaftsgeschichte in Erinnerung zurückrufen. So werden wir das Ereignis, die Aufgabe und die Bedeutung der Heidelberger Schule besser verstehen. Worüber wir uns heute unterhalten - die Heidelberger Schule mit dem ausgebildeten internistischen und neurologischen Flügel - geht in nuce auf Rene Descartes zurück. Rene Descartes hatte - nach seinen Erfolgen mit dieser Methode in der Mathematik - vorgeschlagen (1635/1636) das Problem „Mensch” methodisch zu zerlegen in die „res extensa” und die „res cogitans” [1]. So sollten die einzelnen Komponenten erforschbar, erklärbar und später wieder zusammensetzbar gemacht werden. So merkwürdig es klingt: Das Individuum, das Unteilbare, sollte geteilt, mit den entsprechenden Methoden erforscht und wieder zusammengesetzt werden. Diese Methode der Problemteilung hatte die Schleuse geöffnet für die naturwissenschaftliche Bearbeitung der res extensa, die messbar und dem Experiment zugänglich war.

Größere Schwierigkeiten machte die res cogitans, obwohl auch sie besser zugänglich geworden ist dadurch, dass sie von der Naturwissenschaft einerseits und der Theologie andererseits befreit war. Auf diesen Sachverhalt stützte sich die Romantische Naturphilosophie, vor allem Schelling, der mit der Kraft seiner Persönlichkeit und seinen Argumenten die Szene beherrscht.

Dann kam der Paradigmawechsel, nicht nur in der Medizin, wenn auch vor allem da, sondern in der Biologie schlechthin. Die Basis des neuen Pardigma war die Zellenlehre von Pflanze (Schleiden, 1804 - 1881) und Tier (Th. Schwann, 1810 - 1882) und vom Menschen: die Zellularpathologie von Rudolf Virchow. Nach Thomas Kuhn [2] ist ein Paradigmawechsel durch drei Phänomene gekennzeichnet:

durch den neuen, bisher unbekannten und nicht bearbeiteten Gegenstand, durch den völligen Unverstand der „Neuen” gegenüber den vorausgegangenen Vorstellungen, durch die Masse von „alltäglicher, normaler Forschung”, wie dies Kuhn genannt hat.

Alles dies trifft für den naturwissenschaftlichen Neubeginn von Biologie und Medizin zu. Das Neue war die Zellenlehre, die den gerade überwundenen Systemen der Naturphilosophie verständnislos gegenüberstand. Und dann die Masse der gewöhnlichen Forschung - die medizinischen Zeitschriften der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind voll von solchen Forschungsergebnissen, ja sie sind dieser Ergebnisse wegen gegründet worden. Unter dem Einfluss von Rudolf Virchows Zellularpathologie wurde die Medizin auf eine pathologisch-anatomische Basis geteilt. Bei jeder Obduktion konnte man etwas bis dahin nicht Bekanntes, eine neue Krankheit, eine neue Befundkonstellation erkennen.

Was sich nicht bei der Sektion erfassen ließ, war nicht vorhanden. Aber bald wurde der - in unserem Zusammenhang müssen wir sagen: der erste - Mangel einer solchen Betrachtungsweise evident: Bei den Allgemeinkrankheiten, vor allem bei den Stoffwechselleiden konnte man anatomisch nichts feststellen. Vielmehr wurde die Diagnose im Laboratorium durch Blut- und Urinuntersuchungen - mit physiologischen Mitteln - gemacht. So ergab sich der physiologische, besser pathophysiologische Aspekt.[1]

Man kann den Schritt von der Pathologischen Anatomie, von der Allgemeinen Anatomie, die die Szene beherrscht haben, zu der Pathologischen Physiologie sich nicht groß genug vorstellen. Es war eine Tat, alle Funktionsvorgänge der Organe durch Laborleistungen bestimmen zu wollen und dadurch die Organe in ihrer Leistung besser erkennen, das Organversagen fassen zu können.

Durch die aufkommenden physiologischen und biochemischen Methoden entstand das Bedürfnis, die pathologisch-physiologischen Befunde mit den pathologisch-anatomischen zu korrelieren. Diesen Schritt von der pathologischen Anatomie über die Masse der Laborbefunde zu der systematisierten Pathologischen Physiologie tat Ludolf Krehl (1861 - 1937) [3] [4] [5] [6] [7]. Ludolf Krehl lenkt den Blick auf die Pathologische Physiologie als Grundlage der Funktionsstörungen der Organe - also der Krankheiten [6]. Er gibt an, wie man diese Störungen mit physiologischen Methoden messen kann. Damit tritt er eine Lawine von Untersuchungen bei den verschiedenen Organstörungen los, die zu bewältigen - wie er in den verschiedenen Vorworten zu den rasch notwendigen neuen Auflagen seines Werkes betont - nur mit der Mitarbeit seiner Assistenten möglich ist. Da kommt schon der Schule-Charakter heraus. Ich bin entfernt von der modern gewordenen Verächtlichmachung der „Schulen”. Ich halte viel von Schulen, weil sie einmal den Humus für weitere wissenschaftliche Pflanzungen darstellen und weil sie die Basis für tägliche Fachkommunikation bilden. In derartigen Gemeinschaften, die man als Schule bezeichnen kann, die man nicht mit Domestikation verwechseln darf, entstehen die nötigen Reibungen, Kämpfe und produktive Misserfolge, vor allem das immerwährende alltägliche Gespräch über die unterschiedlichen Probleme der einzelnen Wissenschaftler. Diese alltägliche Kommunikation schafft Bindungen für das ganze Leben [8]. Der Wert der Schule ist gerade am Beispiel von Heidelberg erkennbar - sie hält sich, wie die heutige Feier beweist, - fast einhundert Jahre.

Bevor wir uns mit der Heidelberger Schule befassen, sollten wir einen Blick auf den Lebensweg von Krehl werfen, da er viel erklärt und auch die Besonderheit der Geburt dieser Schule, wenn man das so sagen darf, hervorheben lässt. Krehl wurde 1861 in Leipzig geboren. Er studierte in Leipzig, Jena, Heidelberg - hier war er aktiv in der Burschenschaft Frankonia (Abb. [1]). Seine theoretische Ausbildung erhielt er in Leipzig bei Carl Ludwig, dem großen Physiologen, seine klinische Ausbildung ebenfalls in Leipzig bei Leberecht Wagner und Heinrich Curschmann. Er habilitierte sich 1888. Dann machte Krehl eine akademische Wanderzeit durch viele (Poli)kliniken, 1899 in Marburg, 1901 in Greifswald, 1902 in Tübingen, 1904 ging er nach Straßburg als Nachfolger von Bernhard Naunyn - bis er dann 1907 nach Heidelberg kam und die alte Medizinische Klinik übernahm. 1922 konnte er die damals neue Klinik beziehen, die später seinen Namen trug.

In Leipzig widmete sich Ludolf Krehl in enger Verbindung mit der Allgemeinen Pathologie dem neuen Gebiet der Laboratoriumsmedizin. Er hatte bei Carl Ludwig, dem damals führenden Physiologen, eine gründliche Ausbildung in Physiologie erhalten. So entstand die „Pathologische Physiologie” von Ludolf Krehl, 1892 das Werk, das insgesamt 14 Auflagen bis 1934 erlebte. Die Pathologische Physiologie von Ludolf v. Krehl wuchs in Verbindung mit der wachsenden Bedeutung der Laborwerte zur selbstverständlichen Grundlage allen medizinischen Handelns. Sicher ist es verständlich, dass Krehl, nachdem er sich bei dem Physiologen Carl Ludwig mit der Herzleistung und in der Klinik mit den Herzkrankheiten beschäftigt hatte, zu einer speziellen Pathologischen Physiologie drängte nach dem Grundsatz, was dem Herzen recht ist, möge der Leber, der Niere, der Lunge billig sein (Abb. [2]). In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Jahre später (1917) Viktor v. Weizsäcker bei Krehl noch über ein Herzthema habilitiert hat, also noch ganz in den „physiologischen Gedanken” des frühen Krehl und des frühen Weizsäcker befangen. Die Arbeit hatte den Titel „Über die Energetik der Muskeln und insbesondere des Herzmuskels sowie ihre Beziehung zur Pathologie des Herzens”.

Das Buch „Pathologische Physiologie” war ein Standardwerk, das durch die Entwicklung der Laborbefunde einerseits und die aufkommende Therapie andererseits ein Eigenleben entwickelte. Krehl, der ja von der Physiologie kam, arbeitete unablässig daran. „Die Geschichte dieses Buches ist seine Geschichte, sein Leben und Streben” [9]. Krehl holte sich, als er 1907 in Heidelberg die Klinik übernahm, den ebenfalls von der Physiologie kommenden Viktor v. Weizsäcker. Wenn Sie heute über ihn, den Lehrer von Paul Vogel, hören, so mag nicht vergessen werden, dass er von der Physiologie kam, zur Pathologischen Physiologie der Heidelberger Schule Krehls stieß. Es ist wahrscheinlich, dass Krehl sich den in der Physiologie ausgebildeten Viktor v. Weizsäcker[2] - außer aus Gründen persönlicher, familärer Beziehungen zu dem Vater - für den Ausbau seiner Pathologischen Physiologie geholt hat. Die Pathologische Physiologie in die klinische Form gebracht zu haben, war das Verdienst von Ludolf Krehl (Abb. [3]). Durchdrungen von dem Gedanken der Pathologischen Physiologie hielt Ludolf Krehl stets enge Verbindung mit der als selbstverständlich empfundenen Partnerdisziplin Pathologie. Mit dem Leipziger Pathologen Felix Marchand gab er das damals führende Handbuch der Allgemeinen Pathologie heraus[3]. Später in Heidelberg war die Beziehung zur Pathologie besonders eng, zumal mit dem geistig gleichgesinnten Paul Ernst. Dieser war im gleichen Jahr wie Krehl nach Heidelberg gekommen, mit ihm hat er 20 Jahre zusammengearbeitet (Abb. [4]). Krehl hat immer eine innere Beziehung zur Pathologie gehabt, was Viktor v. Weizsäcker - viel später in der „Pathosophie” [10] - zu einer spitzen Bemerkung veranlasste. Ihm war eine derartige Beziehung ein Anachronismus.

Eine Besonderheit der Zeit war, dass in diesen Jahren die Therapie gewissermaßen neu entdeckt wurde. Gerade in dieser Zeit, als das Krehlsche Buch zur Pathologischen Physiologie erschien, also am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, begann zaghaft das Zeitalter der Therapie. Viktor v. Weizsäcker hat kurz nach dem Zweiten Weltkrieg (1949) gesagt, dass man der gegenwärtigen Generation kaum klar machen könne, dass vor dem Ersten Weltkrieg so gut wie keine Therapiemöglichkeit gegeben war.

Damals gab es - nach einem Wort von v. Weizsäcker [11] - nur

Chinarinde gegen Malaria Quecksilber gegen Lues und Digitalis Dekokt.

Die Therapie begann - neben den Impfbestrebungen Emil v. Behrings - mit dem Salvarsan als Modell der Vorstellung Paul Ehrlichs von der „Therapia magna sterilians”. Dann in enger Verbindung mit der Heidelberger Schule, aber doch distanziert, das Strophantin von Albert Fraenkel, der gastweise bei Krehl in Straßburg gearbeitet hatte.

Die Basis war mit der pathologischen Anatomie gelegt, nach der heute noch die meisten Krankheitsbezeichnungen erfolgen. Die Folge war dann die Pathologische Physiologie in enger Verbindung mit der aufkommenden Therapie. Das erklärte Ziel Krehls war es, seine Pathologische Physiologie zur Grundlage einer gewissermaßen pathophysiologischen Therapie umzusetzen. Auch das war ein neuer Gedanke, weil eben die Therapie auch erst sich neu entwickelte. Krehl sagt einmal: „Als ich in Leipzig Assistent war, haben wir überhaupt nicht behandelt” ([12], S. 44). So war der ursprüngliche Plan L. v. Krehls das große „Opus tripartitum”, das aus der Pathologischen Physiologie, aus der Klinik der Krankheiten und aus der sich die daraus entwickelnde Therapie bestehen sollte.

So war Pathologische Anatomie, Pathologische Physiologie und aufkommende Therapie in vollem Zuge als das Entscheidende, um nicht zu sagen, Unvorhersehbare - bis der große Einbruch kam. Der „Einbruch” ist die Geburtsstunde der Heidelberger Schule.

Ludolf Krehl empfand die Dringlichkeit und als Provokation den Mangel - und das war der zweite Mangel, der Krehl bewusst wurde - an Einheitlichkeit des Kranken. Nachdem Krehl durch seine Pathologische Physiologie die Organisation des menschlichen Organismus und das Fehlverhalten der Organe bestimmt, abgegrenzt und therapeutisch zu nutzen versucht hatte, wurde ihm angesichts des vor ihm stehenden kranken Menschen klar, dass er den Menschen selbst, die Persönlichkeit, sagen wir einmal: vergessen hatte. Diese Gedanken prägten seine Tätigkeit an der Klinik in Heidelberg, also seit 1907.

Und nun stellen Sie sich vor: Ludolf Krehl, der Erzeuger der Pathologischen Physiologie, die er gerade in der Inneren Medizin heimisch gemacht hatte, bemerkte plötzlich den Defekt. Es erfasste ihn eine „monumentale Unruhe” (W. Jacob, 1985): Ihm wurde mit einem Male bewusst, dass er zwar die Leistungen der Organfunktionen messen und bestimmen konnte, jedes Organ kannte, vielleicht sogar die Organisation der Körperfunktionen erfassen konnte - aber der menschliche Organismus als Ganzes, der Mensch, der Patient schien verblasst, ja vergessen. „Vom Jahre 1910 ab - wesentlich früher, als es die Krehl-Schüler vermutet haben - zeichnet sich eine deutliche Wendung zum Kranken Menschen ab” ([13], S. 201 vgl. Pathologische Physiologie Vorwort zur 7. Auflage, 1912).

Daraus ergibt sich Krehls Seufzer, dass es ein unrealistischer Traum sei, sein großes dreiteiliges Werk, eben die pathologische, die klinische und die therapeutische Medizin, unter einheitlichen Gesichtspunkten gliedern und darstellen zu können.

Krehl stand vor der gleichen Situation, in der wir uns heute vielfach mit unserem molekularbiologischen und molekularpathologischen Umdenken befinden. Durch seine eigene Schöpfung, die Pathologische Physiologie, hatte er viele Daten veränderter Organfunktionen in der Hand - aber es fehlte das „geistige Band”, eben die Person des Kranken. Und nun fing Krehl ganz von vorne an. Er hat die Heidelberger Schule tatsächlich so geführt, dass im Mittelpunkt der Patient stand - bei aller Anerkennung der Organfunktionen und der Pathologischen Physiologie. Krehl hat auch in der Anthropologischen Medizin eine wichtige, notwendige Ergänzung der Vorgänge in der Pathologischen Physiologie gesehen. Das war dann auch der Grund der Gründung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Medizinische Forschung: er wollte die klinische Forschung mit den theoretischen Fächern verzahnen, wobei die Klinik, also die Beurteilung des Patienten führend sein sollte.

Die Erkenntnis, dass die reine naturwissenschaftliche Medizin keine „Ganzheit” darstellt, die Person des Kranken vergisst, ist eine Erkenntnis seit Krehl. Der Schrei nach Ganzheit [14] ist aus dieser Erkenntnis zu verstehen.[4] Auf dem Einbau des Persönlichen - in die Biographie der Krankheit, von Emotionalität und Rationalität - aufbauend sind alle folgenden Richtungen - z. B. auch die Individualpathologie -, aber auch Überschätzungen, Einseitigkeiten und Fehldeutungen entstanden. Später hat Krehl einmal gesagt, „die Persönlichkeit erhielt nur schwer das Bürgerrecht in der Medizin als Wissenschaft”. Ohne allzu genau zu sein, kann man sagen, dass die Heidelberger Schule den Begriff der Persönlichkeit in die klinische Medizin und in die medizinische Wissenschaft eingebracht hat [13].

Wenn wir die Heidelberger Schule hier hervorheben, dann sagt das nicht, dass nicht andere in gleicher Weise - wie z. B. Friedrich Kraus [15], Theodor Brugsch [16] - erkenntnismäßig und tatkräftig in diese Richtung gearbeitet haben. Hier ist die Heidelberger Schule pars pro toto angeführt, weil an ihr die Zielrichtung besonders gut und dauerhaft deutlich zu machen ist. Viktor v. Weizsäcker [16] spricht von zwei Flügeln der Krehl-Schule: Die innere klinische Medizin und die Neurosenlehre. Der Nachfolger von Ludolf Krehl auf dem Lehrstuhl der Inneren Medizin war Richard Siebeck (Abb. [5]). Auch er war zunächst in der Physiologie vorgebildet - bei Bohr in Kopenhagen und bei v. Frey in Würzburg. Auf der internistischen Seite hat Richard Siebeck die Schule seines Lehrers fortgeführt. Er war - wie hätte es anders sein können - auch zunächst in den pathophysiologischen Gedankengängen Krehls erzogen und beschäftigte sich mit Fragen des Wasserhaushaltes und der Beurteilung von Herz- und Nierenkranken. Sehr bald aber gehörte er zu den Vorreitern der Krankenbetrachtung Ludolf Krehls: Für Siebeck ist die Krankengeschichte zugleich identisch mit der Lebensgeschichte [17] (wie er in „Medizin in Bewegung” [1949] formulierte), damit war für ihn die personale Medizin in der internen Krankheitslehre heimisch geworden. Er spricht von der Biographischen Medizin. Die Heidelberger Schule entwickelte den Medizinischen Personalismus [18]. Siebeck [19] hat es auf den Punkt gebracht: Es gibt keine Funktionsprüfungen der einzelnen Organe. Es gibt eine Leistungsprüfung des Kranken im Hinblick auf ein Organ.

Die personale Medizin bringt mit der sicher auch notwendigen statistischen Medizin Pathologie und Klinik in ein Dilemma, das eben auch personal gelöst werden muss.

Diejenigen, die sich in der Pathologie mit diesem Gegenstand beschäftigten - Paul Ernst, Wilhelm Doerr, Wolfgang Jacob, Volker Becker - in der Physiologie Hans Schaefer - sind durchdrungen von der Individualpathologie (und waren Heidelberger). Derjenige, der die Pathologische Anatomie der Individualpathologie im Sammelband von Adam und Curtius [20] verfasst hat, ist Curd Froboese, ein Schüler von Paul Ernst, ein Partner von Ludolf v. Krehl.

Die Heidelberger Schule, zunächst der Inneren Medizin, war auf einem vielseitigen, fruchtbaren Boden errichtet. Die Auswirkungen dieser Krankheitsauffassung und Krankenbetrachtung strahlte zunächst und zuvorderst auf die Neurologie aus, aber auch auf die theoretischen Fächer, vor allem auf die Pathologie - Paul Ernst - und Physiologie, schließlich sogar auf die Chirurgie [21]. Das Konzept der Heidelberger Schule hat Schipperges ([13], S. 208) zusammengestellt:

Grundsätzliche Anerkennung der naturwissenschaftlichen Methode in der Medizin Respektierung der Komplexität lebendiger Organisation, insbesondere am erkrankten Menschen Notwendigkeit mehrerer alternierender und kompensierender methodologischer Schritte Berücksichtigung ökologischer und sozialer Faktoren im Krankheitsbild eines jeden Menschen Hereinnahme historischer Momente und irrationaler Elemente in eine „Medizin der Person”

Es war eine „Verbindung naturwissenschaftlicher Schulung mit anthropologischer Orientierung” [13].

Karl Matthes [22] der Nachfolger von Richard Siebeck, hat das Erbe, das er übernahm, so bezeichnet: „Neben den somatisch-naturwissenschaftlichen mussten psychologische und menschlich soziale Aspekte berücksichtigt sowie der Geschichtlichkeit des Menschen in der Biographie Rechnung getragen werden: gewiss ein Programm, das weit in die Zukunft weist”.

Dabei begegnen wir den Dingen, die die Heidelberger Medizinschule von Krehl erfassen wollte: Die Pathologische Physiologie, das messbare, somatische - res extensa - und die „Persönlichkeit”, die eben nicht messbar erfasst werden kann. Der cartesische Dualismus war methodisch gedacht und hatte in dieser Form einen großen Effekt gehabt. Die Überwindung der cartesischen Teilung, das war das Problem der Heidelberger Schule.

Zu dem Neurologie-Flügel gehört Paul Vogel, dem wir heute gedenken, erst 6 Jahre als Assistent von Viktor v. Weizsäcker. Nicht ferne von der Heidelberger Schule war Paul Vogel in Berlin, als er die Neurologische Abteilung an dem Hansaplatz leitete, die zu der I. Medizinischen Klinik der Charité gehörte, - die von Richard Siebeck (von 1934 bis 1941) geleitet wurde. Vogel wurde dann sicher durch den Einfluss von Richard Siebeck in der Fakultät nach dessen Rückkehr aus Berlin nach Heidelberg als Nachfolger von Viktor v. Weizsäcker berufen. Darin zeigt sich, dass die beiden Flügel - auch nach dem Ausscheiden von Krehl - sich nicht fremd entwickelt haben.

Ich will doch einmal die Namen der Internisten - nach einer Zusammenstellung von Karl Hansen [23] - nennen, die aus der Krehlschen Schule kamen, um den Umfang des Einflusses der Heidelberger Schule zu kennzeichnen. Vor dem Ersten Weltkrieg: Morawitz, der mit nach Heidelberg kam, ferner Schwenkenbecher, Grafe, Dreyfuss, Michaud, Siebeck, Fischler, Warhus, Freund, Masing, Fritz Marchand, A.W. Meyer, Holthusen, V. v. Weizsäcker, Fahrenkamp, nach dem Kriege: Gessler, Slauck, Reinwein, Stein, Dennig, Bohnenkamp, Hansen, Glatzel, F. Curtius - und auch Paul Vogel. Das Datum des I. Weltkrieges ist nicht nur wegen des großen Einflusses des Kriegsgeschehens auf Ludolf Krehl, Richard Siebeck und Viktor v. Weizsäcker wesentlich, sondern weil sich hier die Caesur deutlich machen lässt, wie die jeweiligen Mitarbeiter gedacht und auch unter dem Einfluss der Kriegserlebnisse gelernt haben, sich einzudenken.

Wenn man die Menge der Schüler von L. v. Krehl ansieht, erkennt man in deren weiterer Entwicklung noch die jeweils vorherrschenden Themen der „Schule” während ihrer Lehrzeit. Es gibt solche, die mehr der Pathologischen Physiologie zugeordnet werden sollten, wie z. B. Grafe, der den Stoffwechsel und seine Krankheiten bearbeitete - während andere - insbesondere die, die nach dem Ersten Weltkrieg zu Krehl stießen, bereits die personale Medizin vertreten - wie z. B. Helmut Reinwein später in Kiel. Schließlich findet bei allen eine besondere Eigenständigkeit, die sie bei Krehl in seinem Sinne und in dem Rahmen der Klinik erreichen konnten wie Karl Hansen, Lübeck. Es sind Viele Meister geworden, die Großes geleistet haben, und Viele assoziative Meister, die Stück für Stück ihr Teil zum Gesamtbild beigetragen haben. Immerhin sind 13 ordentliche Professoren und drei Nobelpreisträger aus der Krehl-Schule hervorgegangen!

Die Namen der Neurologen brauche ich nicht hervorzuheben. Ihnen gerecht zu werden, ist Aufgabe dieser Sitzungstage.

Die Wirkungszeit des vielseitigen Ludolf v. Krehl war also durch zwei von ihm empfundene Mängel gekennzeichnet, die für ihn Provokation waren, und die er überwand. Der erste Mangel war die Ausschließlichkeit der pathologischen Anatomie in der Krankheitsauffassung. Er schuf das Konzept der Pathologischen Physiologie. Jahre später stieß Krehl auf den zweiten Mangel - den Verlust der Einheit des kranken Menschen. Da schaffte er auf zwei Flügeln die ärztliche Betrachtung des ganzen Menschen in der Medizin der Persönlichkeit. Auf diesem Fundament wurde die Heidelberger Schule aufgebaut, die über die Zeit eines dreiviertel Jahrhunderts deutlich erkennbar war - und in die ärztliche Tätigkeit der ganzen Welt einwirkte. Die Teilung der Heidelberger Schule in die beiden Flügel, von denen Viktor von Weizsäcker sprach, in der Zusammenschau des Ganzen, des Personalen, zeigt das Dilemma der Medizin, die eben nicht ausschließlich Naturwissenschaft und nicht ausschließlich Geisteswissenschaft ist. Lassen Sie mich schließen mit einem oft zitierten Wort Ludolf v. Krehls, das kennzeichnend für seine Denkart in seinen letzten Jahren ist: „Ich bin Arzt und für den Arzt ist der Mensch alles. Seine Erkrankungen und ihr Verständnis ist etwas für sich, wie es immer etwas Besonderes ist, wenn der Mensch als ganzes zum Vorwurf der Forschung dient. Da kann man nicht mehr fragen, gehört eben diese Forschung zu der Naturwissenschaft, zur Biologie, zu den Geisteswissenschaften? Sie braucht sie alle, sie steht zu allen in Beziehung, ja sie selbst ist in mehr als einer Hinsicht auf sie begründet, sie muss sie verstehen - aber sie geht in keiner von ihnen auf, weil etwas Besonderes, ihr Eigenartiges und in ihrem Wechsel Begründetes hinzu kommt.” (aus dem Vorwort der 13. Auflage 1930 der „Pathologischen Physiologie” bzw. „Die Entstehung innerer Krankheiten” [6], auch zitiert von W. Jacob in „Semper apertus” 1985, S. 145).

Abb. 1Ludolf Krehl als Heidelberger Student. Das Bild stammt aus der Reihe der Bundesbrüderbilder aus der Kneipe der Burschenschaft Frankonia, bei der Krehl aktiv gewesen ist.

Abb. 2Titelblatt der Arbeit Krehls über die Physiologie des Herzens.

Abb. 3Ludolf v. Krehl, ord. Professor für Innere Medizin in Heidelberg 1907 - 1931.

Abb. 4Pathologisch-anatomische Konferenz mit Ludolf v. Krehl (rechts) bei Paul Ernst (mit grau-weißem Vollbart). (Abbildung mit freundlicher Genehmigung von Professor Eckart, Medizingeschichte Heidelberg.)

Abb. 5Richard Siebeck, ord. Professor für Innere Medizin 1941 - 1951 (Zeichnung des Anatomen Professor Max Kantner, der die meisten Vertreter der Medizinischen Fakultät Heidelberg etwa 1949 in charakteristischen Haltungen portraitiert hat).

Literatur

  • 1 Descartes R. Discours de la methode 1635/1636. Herausgegeben von St. Meier-Oeser. München: Diederichs 1997
  • 2 Kuhn Th S. Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 25,. 1973
  • 3 Krehl v L. Beiträge zur Kenntnis der Füllung und Entleerung des Herzens. Abhandl mathem-phys Classe der Kgl Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften XVII Band. Leipzig: Hirzel 1891
  • 4 v Krehl L. Grundzüge der allgemeinen klinischen Pathologie. Leipzig 1893
  • 5 v Krehl L. Die Bedeutung der Medizinischen Klinik für Forschung und Unterricht der Hochschule. Festvortrag bei der Einweihung der Medizinischen Klinik. Heidelberg 1922
  • 6 v Krehl L. Entstehung, Erkennung und Behandlung innerer Krankheiten. 1. Band: Pathologische Physiologie. Leipzig 1929
  • 7 v Krehl L, Marchand F. Handbuch der Allgemeinen Pathologie. Leipzig: Hirzel 1908
  • 8 Jaspers K. Allgemeine Psychopathologie. Heidelberg: Springer 1946
  • 9 Feil F. Männer aus der Frankonia: Geheimrat Dr. Ludolf v. Krehl. Ordentlicher Professor der Medizin an der Universität Heidelberg (1861 - 1937). MEO (1957) Nr. 144, 8 - 12. 
  • 10 v Weizsäcker V. Pathosophie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1956
  • 11 v Weizsäcker V. Begegnungen und Entscheidungen. Stuttgart: Koehler 1949
  • 12 v Weizsäcker V. Natur und Geist. Erinnerungen eines Arztes. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1954
  • 13 Schipperges H. Ärzte in Heidelberg. Heidelberg: Edition Braus 1995
  • 14 Vollmer G. Das Ganze und seine Teile. Holismus, Emergenz, Erklärung und Reduktion. In: Deppert W, Klient H, Lohff B, Schaefer J. Wissenschaftstheorien in der Medizin Berlin: Walter de Gruyter 1992
  • 15 Kraus F. Die allgemeine und spezielle Pathologie der Person. Berlin 1919
  • 16 Brugsch Th, Levy F H. Die Biologie der Person. Berlin: Urban & Schwarzenberg 1926
  • 17 Siebeck R. Medizin in Bewegung. Stuttgart: Thieme 1949
  • 18 Christian P. Anthropologische Medizin. Theoretische Pathologie und Klinik. Berlin - Heidelberg: Springer 1989
  • 19 Siebeck R. Die Medizin in der Verantwortung. Furche Verlag 1947
  • 20 Adam C, Curtius F. Individualpathologie. Jena: Fischer 1939
  • 21 Rost F. Pathologische Physiologie des Chirurgen. Leipzig: F.C.W. Vogel 1925
  • 22 Matthes K. Pathologische Physiologie als Arbeitsrichtung von Ludolf Krehl. Heidelberger Jahrbücher VI. 1962: 202-206
  • 23 Hansen K. Ludolf von Krehl. In: Medicus viator Stuttgart: Thieme 1961

1 Schon Rudolf Virchow, der ja die Medizin als Naturwissenschaft mit den Mitteln der Morphologie, der Organveränderung und der Zellabartigkeit propagierte, kannte die Sehnsucht nach der Pathologischen Physiologie. In dem ersten Heft seines Archivs 1847 sprach er schon von der „Veste der Pathologischen Physiologie, zu der Klinik und pathologische Anatomie nur Vorwerke” seien. Auch im Titel seines neugegründeten Archivs war die pathologische Physiologie benannt, ohne da besonderen Widerhall zu finden.

2 Weizsäcker war zum Physiologen ausgebildet bei Johann v. Kries (1853 - 1928) in Freiburg, wollte aber dann zur Klinik, so dass sich die Krehl'sche Klinik mit der ausgeprägten Pathophysiologie anbot.

3 Ich halte es für möglich, dass die Beziehungen zu Felix Marchand auf das Marburger Jahr 1899 zurückgehen, in dem dieser dort den Lehrstuhl für Pathologie inne hatte, Krehl die Poliklinik leitete.

4 Es erstaunt, dass seit Descartes immerhin fast 300 Jahre vergangen sind, seit dem der Mangel vielleicht gespürt, aber nicht als Provokation zum Handeln empfunden wurde.

Prof. Dr. V. Becker

Rathsberger Str. 32

91054 Erlangen

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