Psychotraumatologie 2001; 2(2): 12
DOI: 10.1055/s-2001-15743
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Abschied vom Stockholm-Syndrom

Farewell to Stockholm-SyndromChristian Lüdke, Karin Clemens
  • Universität zu Köln
  • Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie
Further Information
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Autoren:

Dr. phil Christian Lüdke
Dipl.-Psych. Karin Clemens

Universität zu Köln
Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie

Zülpicherstraße 45

50923 Köln

Email: dr.luedke@t-online.de

Publication History

Publication Date:
15 August 2001 (online)

 
Table of Contents #

Zusammenfassung

Die beobachteten psychischen Folgen bei den Geiselopfern einer Geiselnahme 1973 in Schweden wurden nachfolgend als „Stockholm-Syndrom” beschrieben. Das sogenannte Stockholm-Syndrom wird aus verschiedenen Perspektiven erläutert. Eine kritische Analyse der syndromalen Diagnostik im Vergleich zu einer ätiologischen Diagnostik zeigt, dass mit einer ätiologischen bzw. psychotraumatologischen Diagnostik die Chancen der Erforschung, Erklärung und Behandlung des sogenannten Stockholm-Syndroms erweitert werden.

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Abstract

The psychic effects observed with the victims of a kidnapping in Sweden in 1973 were later described as „Stockholm-Syndrom”. The so called Stockholm-Syndrom is being explained from different perspectives. A critical analysis of the syndromal diagnostic compared to a etiological diagnostic shows that with a etiological or psychotraumatic diagnostic respectively the chances for research, explanation and treatment of the so called Stockholm-Syndrom can be increased.

Am Donnerstag, den 23. August 1973, zerriss das ohrenbetäubende Feuern einer Maschinenpistole die routinierte Geschäftigkeit der Sveriges Kreditbank in Stockholm, Schweden. Als der Kalk- und Glassplitterregen um die 60 Anwesenden aufhörte, rief ein schwerbewaffneter Mann in Englisch: „The party has just begun!”

Die „Party” dauerte 131 Stunden. Während dieser Zeit war das Leben von 4 jungen Geiseln in ständiger Gefahr und man glaubte ein bis dahin noch nie wahrgenommenes psychologisches Phänomen zu beobachten, das seit diesem Bankraub als „Stockholm-Syndrom” bezeichnet wurde (Lang, D.: A Reporter at Large, in New Yorker, Nov. 1974, S. 56).

Vom 23. August, 10.15, bis zum 28. August, 21.00 Uhr, wurden Elisabeth (damals 21 Jahre, Kassiererin in der Sortenabteilung), Kristin (damals 23 Jahre, Stenographin in der Sortenabteilung), Brigitta, (damals 31 Jahre, Bankangestellte) und Sven (damals 25 Jahre, gerade neu eingestellt) in der Sveriges Kreditbank als Geiseln festgehalten. Der Geiselnehmer war der 32-jährige, bereits mehrfach vorbestrafte Jan-Erik Olsson. Die Geiseln wurden in einem ca. 47 qm großen Tresorraum festgehalten, in dem sich ein weiterer Geiselnehmer, der 26-jährige Clark Olofson befand (Lang, 1974).

Die Stockholmer Geiselnahme wurde in der Folgezeit aus verschiedenen Gründen in den Mittelpunkt der öffentlichen Berichterstattung gestellt. Zum einen wurde während der Geiselnahme die Angst der Geiseln offen gezeigt und zum anderen waren es die psychischen Folgen, die man bei den Geiseln zu beobachten glaubte. Es wurde berichtet, dass die Geiseln angeblich mehr Angst vor der Polizei als vor den Tätern hatten. Noch Wochen nach der Freilassung berichteten die Opfer von Alpträumen über die Flucht der Straftäter, ohne aber Gefühle von Wut oder Hass auf sie zu entwickeln. Sie glaubten, die Täter hätten ihnen ihr Leben zurückgegeben und waren ihnen für diese Großzügigkeit sehr dankbar [1].

Das Stockholm-Syndrom wird beschrieben als ein Prozess, in dem Geiseln eine positive emotionale Beziehung zu ihren Geiselnehmern aufbauen; weiterhin sei es ein unbewusster psychologischer Schutzmechanismus, in der extreme Existenzangst abgewehrt wird. Dann suchen die hilflosen Opfer angeblich die Nähe der Gewalttäter, solidarisieren sich sogar mit ihren Peinigern, um die Bedrohungssituation erträglicher zu machen. Die Opfer, die keine Kontrolle mehr über die Situation haben, vermeiden alles, was ihre Lage verschlimmern könnte, und ordnen sich dem Täter unter. Dabei können sich Motive und Interessen annähern, da beide Seiten mit heiler Haut davonkommen wollen. Nach Aussagen verschiedener Autoren entstehen Bündnisse, die man hinterher nicht mehr verstehen kann. Ein weiterer Aspekt des Stockholm-Syndrom sei die Tatsache, dass die Geiseln gegenüber der Polizei eine Vorwurfshaltung einnehmen. Sie machen auch den potentiellen Helfern Vorwürfe, dass man sie nicht schnell befreit habe. Andere Autoren wiederum glauben, dass das Stockholmsyndrom nur bei Geiselnahmen mit gesellschaftspolitischen Anliegen vorkäme, es sei bei kürzeren Geiselnahmen eher unwahrscheinlich [2].

Auch in anderen Zusammenhängen findet man das Stockholm-Syndrom. So z. B. im tabuisierten Kindesmissbrauch: „Das unmündige Kind, dessen Beziehung - das ist „mein” Papa, „meine” Mama, „mein” Geschwisterchen, „meine” Familie - sein einziger Besitz sind und dessen Welt mit seinen Beziehungen endet, wird in emotionale Geiselhaft genommen. Was bleibt dem Minderjährigen übrig, als den Liebesentzug samt der begleitenden Gehirnwäsche als eine Jahre andauernde Amputation seiner ureigensten natürlichen Gefühle über sich ergehen zu lassen. Altersbedingt kann es sein Leid nicht einmal artikulieren, obendrein ist es dem Geiselnehmer als einzig verfügbarem Tröster ausgeliefert. Isoliert kontrolliert in einer Situation, in der „Herrschsucht” eines Elternteils in einem irrationalen Mutter-Egoismus auslebt, kann es nur durch totale Resignation und/oder durch Solidarisierung - Übernahme des Expartner Feindbildes als eigenes Feindbild - (Stockholmsyndrom) überleben” [3].

Das Stockholm-Syndrom, so meinen Harnischmacher/Müther [1], sei wohl eine automatische, wahrscheinlich unbewusste, emotionale Reaktion auf das Trauma, ein Opfer zu sein. Obwohl einige Geiseln ihr Verhalten planmäßig gestalten, sei die Entscheidung einiger Opfer, sich mit den Geiselnehmern anzufreunden, nicht rational getroffen worden. Das Verhalten, sich in einer hilflosen und nicht mehr zu kontrollierbaren Situation mit seinen Geiselnehmern anzufreunden, sei für die Geiseln am vorteilhaftesten. Ein weiterer Grund für die Entstehung des Stockholm-Syndroms sei ein extrem hohes Stressniveau in einer lebensbedrohlichen Situation, in der jeder der Beteiligten neue Formen der Anpassung praktizieren oder in frühere Stadien der Entwicklung des Ichs zurückfallen muss, um zu überleben. Dieses Phänomen betrifft Geiseln und Geiselnehmer gleichermaßen [1]. Die gefühlsmäßige Verbindung bei oder vielleicht auch wegen der Belagerung durch die Sicherheitskräfte vereint Geiselnehmer und ihre Geiseln gegen „Außenseiter”. Es scheint sich eine Stimmung zu entwickeln, bei der Geiseln und Geiselnehmer sich als ein Gegenüber der Polizei erleben: „wir gegen die da”. Diese emotionale Bindung ist offensichtlich außerhalb der bewussten Kontrolle von Geiseln und Geiselnehmern. Bis jetzt gibt es keinen Hinweis darauf, wie lange sie dauert.

Zusammenfassend kann der Meinungsspiegel über das Stockholm-Syndrom folgendermaßen wiedergegeben werden:

  • Mit dem Stockholm-Syndrom wird eine Art „Notgemeinschaft” beschrieben, die sich zwischen Täter und Geiseln gründet.

  • Die Geiseln zeigen in ihrem Handeln und ihrer Sprache Verhaltensweisen, die nicht mit Logik, sondern ausschließlich mit psychologischen Grundlagen zu erklären sind.

  • Es handelt sich um einen Selbstschutz des Ichs gegenüber einer seitens eines Angreifers drohenden Gefahr, wobei es unter seinen Verteidigungsmöglichkeiten jene aussucht, die ihm früher am besten gedient hat.

Erscheinungsformen:

  • Geisel identifiziert sich mit der Täterhandlung

  • Entwicklung starker persönlicher Bindungen

  • Umlenkung der Angstrichtung bzw. Tausch der erlebten mittelbaren und unmittelbaren Bedrohung

  • Angst um das eigene Leben

Voraussetzungen:

  • Zeitabhängig, fortschreitend

  • „abgeschotteter Raum”, „Insellage”

  • ausgewogenes Verhältnis Täter/Opfer

  • Druck (Polizei) von außen

Vorteil:

  • Relativ hohe Sicherheit für die Geiseln durch sinkende Gewaltneigung der Täter

  • Von Tätern akzeptierte, steigende Selbständigkeit der Geiseln einschließlich räumlicher Trennungen

  • Ermöglichung insgesamt günstigerer Interventionsmöglichkeiten

Nachteil:

  • Unterstützung der Täter in jeglicher Hinsicht

  • Planung: Idee für Fortsetzung der Geiselnahme

  • Warnung: Erkannte Aktivitäten der Polizei

  • Kommunikationsverweigerungen gegenüber der Polizei.

Um das Stockholm-Syndrom besser verstehen zu können, wird im folgenden die Geiselnahme aus verschiedenen Perspektiven und die Entstehung von syndromalen Diagnosen erläutert.

Eine Geiselnahme (GN) im polizeitaktischen Sinne (PDV 132, Nr. 1.1) liegt vor, wenn Täter unter der Verwirklichung der Tatbestände der §§ 239a und/oder 239 b StGB Personen zur Durchsetzung ihrer Ziele an einem der Polizei bekannten Ort in ihrer Gewalt haben. Ist der Ort nicht bekannt, spricht man im polizeitaktischen Sinne von einer Entführung.

Die Geiselnehmer und ihre Motive sind sehr unterschiedlich. Gefangene wollen fliehen, Tatverdächtige sich der Festnahme entziehen. Räuber wollen Geld erpressen, psychisch Kranke persönliche Probleme lösen. Um an ihr Ziel zu kommen, bringen sie andere Menschen in ihre Gewalt. Besonderes Aufsehen erregten in jüngster Zeit folgende Fälle:

Im August 1988 zogen 2 bewaffnete Gangster nach einem Banküberfall in Gladbeck eine blutige Spur über Bremen zur holländischen Grenze bis ins Siebengebirge. 2 Geiseln wurden erschossen.

Im September 1991 nutzte ein Gefangener einen Zahnarztbesuch in Schwalmstadt zur Flucht. Er brachte insgesamt 6 Menschen in seine Gewalt und wurde schließlich erschossen.

Im November 1991 hatte ein Hafturlauber zeitweilig bis zu 18 Menschen in einer Bank in Lüdenscheid in seiner Gewalt. Die Polizei erschoss ihn nach 21 Stunden.

Im Juni 1992 überwältigten 2 Gangster im Krankentrakt des Gefängnisses in Werl (Westfalen) mehrere Bedienstete. Als die Polizei eingriff, überschüttete einer der Männer 2 Geiseln mit Benzin und zündete sie an.

Im Juli 1994 nahmen rund 40 Abschiebehäftlinge in Kassel einen Justizbeamten als Geisel und steckten einen Teil des Gefängnisses in Brand.

Im Oktober 1994 bedrohte ein Bankräuber in Herzogenrath bei Aachen 14 Stunden lang das Leben von 17 Menschen, dann tötete er sich mit einer Handgranate.

Ebenfalls im Oktober 1994 hatten 2 flüchtende Verbrecher auf ihrer 2-tägigen Irrfahrt durch sechs Bundesländer zeitweise 9 Menschen, darunter 2 Polizisten, in ihrer Gewalt.

Im Juni 1996 nahmen Bankräuber in Berlin 16 Geiseln und verschwanden nach 17 Stunden durch einen zuvor gegrabenen Tunnel mit mehr als 15 Millionen Mark, davon 5,6 Millionen Mark Lösegeld.

Im Juli 1995 kaperte ein Israeli in Köln einen Bus und ermordete 2 der 26 Insassen, ehe er sich nach 7 Stunden selbst erschoss.

Im Februar 1996 brachte ein Schwerverbrecher in einem Celler Gefängnis 2 Anstaltsmitarbeiterinnen in seine Gewalt und vergewaltigte sie.

Kurz vor Weihnachten 1999 bringt ein Schwerverbrecher 8 Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma in Aachen in seine Gewalt. Mit 3 seiner Geiseln verbringt er mehr als 50 Stunden in der Landeszentralbank. Er verletzt eine Geisel lebensgefährlich und wird am Ende von der Polizei erschossen.

Im Sommer 2000 werden 3 deutsche Touristen auf der Insel Jolo zusammen mit anderen Menschen mehr als 100 Tage von politisch motivierten Tätern in Geiselhaft genommen. Nach Zahlung von mehreren Millionen Mark Lösegeld kommen die Geiseln frei.

Eine Auswertung der polizeitaktischen Geiselnahmen von 1991 bis 1999 hat ergeben, dass es in dem genannten Zeitraum zu 126 Geiselnahmen gekommen ist. In 11 Fällen wurden Geiseln körperlich verletzt, davon nur drei Geiseln im Zusammenhang mit nicht erfüllten Täterforderungen. In 112 Geiselnahmen blieben die Geiseln unverletzt (AG „Einsatzkonzeptionen für Fälle schwerster Gewaltkriminalität” / Geiselnahmen: Arbeitstagung der Fortbildungsstelle für Spezialeinheiten des Landes NRW, 12.08.1999).

Über die psychische Befindlichkeit der Geiseln wurden keinerlei Daten erhoben. Eine Beschreibung oder Erklärung darüber, ob und wie viele der Geiseln das o. g. Stockholm-Syndrom entwickelt haben, erfolgte nicht. Auch fehlen Ausführungen darüber, in welcher psychischen Verfassung sich die Geiseln nach ihrer Freilassung befanden und ob diese im Rahmen psychologischer Akutinterventionen fachlich beraten wurden.

Aus psychologischer Sicht sind Geiselnahmen insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass Täter und Geiseln unter einer besonderen physischen und psychischen Belastung stehen. In beiderlei Hinsicht stellt eine Geiselnahme eine weit außerhalb der sonst üblichen Erfahrungen liegende Extremsituation dar. Für die Opfer bedeutet dies zweifelsfrei eine traumatische Situation .

Weiterhin ist die Beendigung einer Geiselnahme für die Polizei mit erheblichen Problemen behaftet. Gelingt es der Polizei durch geschickte Verhandlungsführung den Täter zur Aufgabe zu bewegen oder entschließt man sich für einen Zugriff, wenn die Bedrohung der Geiseln nicht mehr zu verantworten ist? Oft werden die Geiselnahmen auch durch unbeteiligte Dritte oder die Medien beeinflusst, wie man z. B. traurigerweise in dem Gladbecker Geiseldrama unschwer feststellen konnte. Diese Probleme verschärfen die traumatische Situation erheblich.

In einer Geiselnahme entsteht ein Beziehungsgeflecht zwischen den Opfern, den Tätern, der Polizei und anderen. Dieses Beziehungsgeflecht ist nicht stabil, sondern gestaltet sich in Abhängigkeit zu den Interaktionsprozessen: Die Geiseln bangen um ihr Leben und wollen frei kommen, die Täter wollen ihre Forderungen nach Lösegeld und Fluchtwegen durchsetzen und die Polizei soll bedrohtes Menschenleben schützen und ihrem Doppelauftrag nach Gefahrenabwehr und Strafverfolgung gerecht werden.

2 weitere sehr wichtige Faktoren, von denen eine Geiselnahme bestimmt werden sind:

  • die Zeit und der Raum: eine Geiselnahme kann nur wenige Minuten dauern oder viele Stunden, manchmal Tage oder auch Wochen. Viele Fragen werden aufgeworfen: Bleibt eine Geisel am Ort des Überfalls oder wird sie verschleppt? Wie sind die Täter bewaffnet? Gibt es etwas zu Essen und zu Trinken und kann eine Geisel zur Toilette gehen oder nicht? Dabei spielt die Frage eine Rolle, ob eine Geisel in dieser Zeit alleine ist oder in einer Gruppe von anderen Geiseln. Sind die Geiseln isoliert vom Täter oder sind Täter und Opfer während der gesamten Zeit im gleichen Raum? Wie lange sind zeitliche und räumlich Kontakte zwischen Opfern und Tätern? Wie verläuft die Beziehungsdynamik zwischen Geiseln und Geiselnehmern? Wie werden die Geiseln behandelt? Sind sie gefesselt und werden misshandelt oder werden sie gut versorgt? Wie weit werden die persönlichen und intimen Grenzen der Geiseln von den Tätern verletzt? Wie bedrohlich werden die Täter von den Geiseln erlebt? Können die Geiseln Verhandlungen zwischen den Tätern und der Polizei mit verfolgen oder werden sie sogar von den Tätern als Sprecher eingesetzt um selbst unerkannt zu bleiben? Was passiert unmittelbar nach einer Beendigung einer Geiselnahme mit den Geiseln? Wie beeinflusst die Beendigung einer Geiselnahme das Entstehen eines Stockholm-Syndroms?

Die zentralen Beziehungsmuster in der Geiselnahme werden durch verschiedene Erwartungen bestimmt:

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Veränderungen in diesen Beziehungsmustern ergeben sich aus gelungenen oder misslungenen Kommunikations- und Interaktionsprozessen durch Polizei, Täter und den Opfern selbst, aber auch unbeteiligten Dritten und die Medien.

Nähert man sich dem zu untersuchenden Stockholm-Syndrom aus wissenschaftlicher Sicht, sollte man darum bemüht sein, die Phänomene des Untersuchungsgegenstandes nach bestimmten Gesichtspunkten zusammenzufassen und zu ordnen, z. B.:

  • Dauer der Extremsituation

  • Anzahl der Täter

  • Erkenntnisse über die Täter (Ersttäter oder bekannte Gewaltverbrecher? Einzeltäter oder Mittäter? Politisch oder kriminell motiviert? „Normal” oder psychisch gestört?)

  • Anzahl der Opfer

  • Kenntnisse über die Geiseln (mögliche Erkrankungen; Familienstand etc.)

  • Ätiologische Faktoren der GN (wie kam es dazu? Geplant oder spontan?)

  • Räumliche Bedingungsfaktoren (wo findet die Geiselnahme statt? Inland/Ausland? Stationäre GN oder mobile GN? Bank, Kindergarten, Flugzeug, Gefängnis, JVA, etc.)

  • Erstkontakte (durch Polizei oder andere?)

  • Täterforderungen (Lösegeld, Fluchtfahrzeug, Presse, etc.)

  • Bewaffnung der Täter

  • Bedrohung der Geiseln (verletzt oder unversehrt?)

  • Drohungen des Täters und Ultimaten

  • Polizeiliche Maßnahmen

  • Verhandlungsführung und Lageentwicklung (Wer verhandelt mit wem? Werden Täterforderungen erfüllt? Werden Geiseln während des Verlaufs der GN freigelassen oder bleiben alle zusammen?)

  • Beziehungsgeflechte (Täter - Opfer - Polizei - Andere)

  • Aufgabe des Täters

  • Zugriff der Polizei

  • Erfüllung der Täterforderungen

  • Medienarbeit

  • Unbeteiligte Dritte

  • Beendigung der Geiselnahme

Dadurch sollen die Phänomene einer systematischen Erforschung und Beeinflussung zugänglich und die Beobachtungsergebnisse mitteilbar und vergleichbar gemacht werden.

Aus psychiatrischer Sicht gesehen, besteht ein Problem der psychiatrischen Diagnostik darin, dass ätiopathogenetische Faktoren bei vielen Störungen unzureichend bekannt sind oder nicht immer eindeutig zu klären sind. Bevor die eigentliche Krankheitsdiagnose präzisiert wird, wird daher oft als Zwischenschritt eine Syndromdiagnose eingeschoben.

Eine Syndromdiagnose fasst in der Regel eine Reihe von psychopathologischen Symptomen, die erfahrungsgemäß häufig zusammen vorkommen, abstrahierend zusammen. Auch wenn nicht alle zum Syndrom gehörenden Symptome vorliegen oder im Moment nicht nachweisbar sind, wird ein solches Syndrom diagnostiziert. Nicht selten treten einige zum Syndrom gehörige Symptome zu einem späteren Zeitpunkt noch auf oder werden erst dadurch nachweisbar, dass ein Patient zu einem späteren Zeitpunkt darüber sprechen kann [4].

Unter Syndrom versteht man die Kombination bestimmter Symptome, die gehäuft auftreten [4]. Insbesondere in jüngster Zeit wird der syndromatologischen Klassifikation wieder vermehrt Rechnung getragen. Dies steht u. a. in Zusammenhang mit der Kritik an der von einigen Autoren als empirisch unzureichend fundiert angesehenen Nosologie und der als zu gering erachteten Reliabilität nosologischer Diagnostik. Die Syndromatologie psychischer Störungen ist auf klinisch-intuitiver Basis entstanden. Sie beschreibt das gemeinsame Auftreten von Symptomen ohne Rücksicht auf deren Entstehungsbedingungen.

Statistische Methoden, mit denen das gehäufte Auftreten von Einzelsymptomen untersucht werden kann, sind Faktoren- und Clusteranalysen. Bei den mit diesen Methoden der multivariaten Statistik durchgeführten Auswertungen verwendet man als Ausgangsmaterial Daten aus mittels Beurteilungsskalen erhobenen psychopathologischen Befunden. Derartige Untersuchungen, die mit verschiedenen Patientenkollektiven und in verschiedenen Ländern durchgeführt wurden, ergaben insgesamt gesehen immer wieder ähnliche Gruppenfaktoren oder Symptomcluster. Diese durch multivariate statistische Methoden ermittelten Syndrome entsprechen einigen der auf klinisch-intuitiver Basis entstandenen tradierten Syndrome [4].

In der klinischen Praxis begnügt man sich nur selten mit einer Syndromdiagnose als Enddiagnose, sondern verwendet sie zumeist als zuverlässig nachvollziehbaren Zwischenschritt vor der Erstellung einer nosologischen Diagnose. Die statistische Herausarbeitung umschriebener Syndrome bewegt sich auf rein deskriptivem Niveau. Zum Studium der Syndromgenese müssen neben psychopathologischen Symptomen auch Informationen über Biographie, Primärpersönlichkeit, schädigende Noxen usw. herangezogen werden [4]. Auch die umfassenden, empirisch wie klinisch gesicherten Erkenntnisse der Psychotraumatologie [5] müssen bei den Bedingungsfaktoren zum einheitlichen klinischen Syndrom aufgedeckt werden.

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Multifaktorielle Syndromdiagnose (nach Franke und Hippius in Möller, 1994)

Im September/Oktober 2000 wurde am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität zu Köln eine Literaturrecherche zum Thema „Stockholm-Syndrom” durchgeführt. Es wurden nur empirisch-wissenschaftliche Studien in die Literaturanalyse einbezogen. Für den deutschsprachigen Raum wurde keine Studie gefunden, die sich mit einer empirisch-wissenschaftlichen Untersuchung des „Stockholm-Syndroms” befasst hat. Im englisch-amerikanischen Sprachraum fanden sich zwei Artikel, die den o. g. Kriterien entsprachen; sie beschreiben die Phänomenologie, liefern Faktorenanalysen zur Entstehung des „Stockholm-Syndroms”, die Ergebnisse und hypothetischen Theorien bleiben jedoch nur bedingt aussagefähig. Vom methodischen Ansatz wird nicht zwischen einem hypothesenprüfenden oder hypothesengenerierenden Verfahren differenziert. Hinsichtlich Reliabilität und Validität begründen sie das „traumatic bonding” oder „terror bonding” als Synonym für das Stockholm-Syndrom nicht als ein eigenständiges Syndrom. Auch sie kommen nicht zu einer klinischen Enddiagnose sondern bleiben bei einem Zwischenschritt des beschriebenen Phänomens stehen.

Vom derzeitigen Forschungsstand kann davon ausgegangen werden, dass es bisher keine empirisch-wissenschaftliche Studie gibt, mit der das sog. „Stockholm-Syndrom” umfassend erklärt und als Enddiagnose bestätigt werden kann. Damit ist die Frage, ob es das beschriebene „Stockholm-Syndrom” überhaupt gibt, noch nicht völlig geklärt. Vielmehr drängt sich nach Studium der verschiedenen Artikel und Veröffentlichung zum o. g. Thema die Frage auf, ob es sich bei dem „Stockholm-Syndrom” um eine Legende handelt, die in weiten Teilen mystifiziert wurde.

Wenn es ein Syndrom wäre, müssten auch die hierzu entwickelten Behandlungsverfahren publiziert werden. Auch in diesem Punkt gibt es nur Fehlanzeigen: Spezifische Interventionen hinsichtlich des Stockholm-Syndroms fehlen.

Aus psychotraumatologischer Sicht stellt die Geiselnahme für die Opfer eine traumatische Situation dar.

Eine psychische Traumatisierung lässt sich definieren als vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe der eigenen Persönlichkeit einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt [5 7].

Der Verlauf einer psychischen Traumatisierung [8 11] lässt sich in einer Geiselnahme in einer Art Zeitraffer nachweisen. Das Besondere daran ist, dass es zu einem wiederholten Phasenverlauf kommt:

  1. Schockphase

  2. Einwirkungsphase

  3. Erholungsphase

Die einzelnen Phasen wiederholen sich im Verlaufe einer Geiselnahme in Abhängigkeit zum Verhandlungsverlauf, an dessen Ende die Entwicklung eines erzwungenen Bindungstrauma steht. Auch hier finden sich Situationsfaktoren, die die Entstehung einer bPTBS begünstigen:

  • Bedrohung

  • Hilflosigkeit

  • Ohnmacht, Kontrollverlust

  • fight-flight-freeze-Zustand

Zu den beobachtbaren und diagnostizierten Kernsymptomen des „Stockholm-Syndrom” zählen:

  • Intrusionen

  • Emotionale Taubheit

  • Dissoziation

  • Übererregungssymptome

Diese lassen wiederum eher an ein erzwungenes Bindungstrauma oder ein Viktimisierungstrauma denken als an ein Syndrom.

Das erzwungene Bindungstrauma ist gekennzeichnet durch 2 Risikofaktoren:

  1. erzwungene Nähe

  2. paradoxe Dankbarkeit („es hätte ja auch noch schlimmer kommen können”).

Die „Parteinahme” und Identifizierung mit dem Täter bei dem Stockholm-Syndrom kann demnach als Versuch der „Reparation” des zerstörten Selbstverständnisses, insbesondere bzgl. der Fähigkeiten zur Selbstbestimmung und Selbstverteidigung, erklärt werden. Das kann zu einer Selbstaufgabe zugunsten des Täters führen (Introjektion des Täters) mit Übernahme von Weltbild, Ideologie etc. des Täter, um so besser geschützt überleben zu können.

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Fazit:

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass

  1. die Geiselnahme für das Opfer eine traumatische Situation darstellt

  2. nicht jedes Geiselopfer ein „Stockholm-Syndrom” entwickelt, aber jedes Geiselopfer erstmal Symptome zeigt

  3. es bislang nicht die standardisierte (Krisen-)Intervention gibt, die allen Geiselopfern gleich hilft und gleichzeitig effektiv sekundärpräventiv die Entstehung eines „Stockholm-Syndroms” verhindert

  4. das sog. Stockholm-Syndrom eine Form der Reduzierung des traumatisch bedingten vitalen Diskrepanzerlebnisses sein kann.

  5. eine syndromatologische Diagnostik der Geiselnahme bisher nicht zu einer effektiven Behandlungsform geführt hat.

  6. mit einer ätiologisch bzw. psychotraumatologisch orientierte Diagnostik die Chancen der Erforschung, Erklärung und Behandlung des sog. Stockholm-Syndroms erweitert werden.

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Literatur:

  • 1 Harnischmacher R, Müther J. Das Stockholm-Syndrom. Arch.-Kriminol 1987
  • 2 Lösel F. Leiter des psychologischen Instituts an der Universität in Erlangen in einer dpa-Meldung vom 21.12.99
  • 3 Ley. Studie der Kinderfreunde. Die Presse 1.Juli.1997
  • 4 Möller H -J. Psychiatrie. Stuttgart, Berlin, Köln; 1994
  • 5 Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Psychotraumatologie. Ernst Reinhardt (UTB für Wissenschaft) München; 1998
  • 6 Fischer G, Becker-Fischer M, Düchting C. Neue Wege in der Opferhilfe. Ergebnisse und Verfahrensvoschläge aus dem Kölner Opferhilfemodell (KOM). Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales Nordrhein-Westfalen Schriftenreihe des Ministeriums 1998
  • 7 Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Psychotraumatologie. Ernst Reinhardt (UTB für Wissenschaft) München; 1998
  • 8 Fischer G, Becker-Fischer M, Hofmann A, Klein B, Licher H, Ukschewski S, Schneider I, Sülzer A. Abschlussbericht zum Forschungsprojekt: Prävention chronischer psychischer Störungen und Behinderungen bei Opfern von Gewaltverbrechen. Vorgelegt der Stiftung des Landes NRW für Wohlfahrtspflege durch das Deutsch Institut für Psychotraumatologie Köln/Much in Zusammenarbeit mit dem Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität zu Köln 1999 Anzufordern über das Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität zu Köln
  • 9 Fischer G. Kölner Dokumentationssystem für Psychotherapie und Traumabehandlung. Verlag Deutsches Institut für Psychotraumatologie Köln; 2000 a
  • 10 Fischer G. Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie-MPTT. Manual zur Behandlung psychotraumatischer Störungen. Asanger Heidelberg; 2000 b
  • 11 Fischer G. Neue Wege nach dem Trauma. Information und Hilfen für Betroffene. Vesalius Konstanz; 2000
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Autoren:

Dr. phil Christian Lüdke
Dipl.-Psych. Karin Clemens

Universität zu Köln
Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie

Zülpicherstraße 45

50923 Köln

Email: dr.luedke@t-online.de

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Literatur:

  • 1 Harnischmacher R, Müther J. Das Stockholm-Syndrom. Arch.-Kriminol 1987
  • 2 Lösel F. Leiter des psychologischen Instituts an der Universität in Erlangen in einer dpa-Meldung vom 21.12.99
  • 3 Ley. Studie der Kinderfreunde. Die Presse 1.Juli.1997
  • 4 Möller H -J. Psychiatrie. Stuttgart, Berlin, Köln; 1994
  • 5 Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Psychotraumatologie. Ernst Reinhardt (UTB für Wissenschaft) München; 1998
  • 6 Fischer G, Becker-Fischer M, Düchting C. Neue Wege in der Opferhilfe. Ergebnisse und Verfahrensvoschläge aus dem Kölner Opferhilfemodell (KOM). Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales Nordrhein-Westfalen Schriftenreihe des Ministeriums 1998
  • 7 Fischer G, Riedesser P. Lehrbuch der Psychotraumatologie. Ernst Reinhardt (UTB für Wissenschaft) München; 1998
  • 8 Fischer G, Becker-Fischer M, Hofmann A, Klein B, Licher H, Ukschewski S, Schneider I, Sülzer A. Abschlussbericht zum Forschungsprojekt: Prävention chronischer psychischer Störungen und Behinderungen bei Opfern von Gewaltverbrechen. Vorgelegt der Stiftung des Landes NRW für Wohlfahrtspflege durch das Deutsch Institut für Psychotraumatologie Köln/Much in Zusammenarbeit mit dem Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität zu Köln 1999 Anzufordern über das Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität zu Köln
  • 9 Fischer G. Kölner Dokumentationssystem für Psychotherapie und Traumabehandlung. Verlag Deutsches Institut für Psychotraumatologie Köln; 2000 a
  • 10 Fischer G. Mehrdimensionale Psychodynamische Traumatherapie-MPTT. Manual zur Behandlung psychotraumatischer Störungen. Asanger Heidelberg; 2000 b
  • 11 Fischer G. Neue Wege nach dem Trauma. Information und Hilfen für Betroffene. Vesalius Konstanz; 2000
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Autoren:

Dr. phil Christian Lüdke
Dipl.-Psych. Karin Clemens

Universität zu Köln
Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie

Zülpicherstraße 45

50923 Köln

Email: dr.luedke@t-online.de

 
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Multifaktorielle Syndromdiagnose (nach Franke und Hippius in Möller, 1994)