PiD - Psychotherapie im Dialog 2001; 2(2): 215-216
DOI: 10.1055/s-2001-15594
Resümee
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Es geht um Emotionen

M.  Broda, W.  Senf
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

 

„Mal wieder ein ganz typischer Tag in meinem Leben. Frühes Erwachen, alles schmerzt, draußen regnet es und es ist noch ziemlich dunkel. Ich fühle mich allein. Am liebsten würde ich die Decke über den Kopf ziehen und alles vergessen. Trotzdem ist dort ein Druck - du MUSST aufstehen, du musst dich anziehen, du musst dich hinsetzen und lernen. Widerwillig komme ich diesem Druck nach - unwissend, wer mir diesen Druck macht. Ich selbst? Nach ein paar Stunden widerwilligen Lernens schleichen sich schon die ersten Gedanken ums Essen ein. Ich werde sowieso versagen und meine Eltern enttäuschen. Womit haben die eine so schlechte Tochter verdient? Nicht genug, dass ich auch schon an dieser verdammten Ess-Störung leide, jetzt auch noch eine faule Tochter, die nichts kann und auch durch die Prüfung fallen wird. Ich fühle mich schuldig und meine Angst steigt. Es hilft mir auch nichts, wenn ich mir mehrmals sage, dass mich meine Familie - egal mit welcher Leistung etc. - lieben wird. Warum kann ich nicht abschalten wie all die Gesunden und mich meines Lebens freuen? Warum hat es mich erwischt, was habe ich falsch gemacht? Warum tue ich das meiner Familie an? Leider bringen mich die Gedanken nicht weiter - im Gegenteil, mein Selbsthass steigt, ich werde aggressiv. Am liebsten würde ich irgend etwas zerstören, mir selbst weh tun, aber was denken dann die Nachbarn, wenn sie den Lärm hören, wie erkläre ich meine Verletzungen? Automatisch erhalte ich die Lösung. Schließlich habe ich ja auch schon etwas gelernt und mir somit etwas verdient. Also rein in die Kleidung, aber da fängt es schon wieder an. Wie siehst du denn aus. Schlampe. Was werden die anderen Menschen denken. Hoffentlich treffe ich keinen, den ich kenne. Am besten beeile ich mich, dann falle ich vielleicht nicht so auf. Los geht’s zum Raubzug. Peinlich die zwei Tafeln Schokolade - was denkt wohl die Kassiererin? Und was denkt der Mensch hinter mir an der Kasse? Warum kann ich nicht so glücklich sein wie die Frau mit dem Kind an der Obsttheke? Bloß raus und nach Hause. Zu Hause fühle ich mich endlich etwas erleichtert und lege fast liebevoll die Reihenfolge fest. Ich zelebriere das Fressen und schaffe dabei, alles Unangenehme zu verdrängen. Nach dem Anfall bin ich fertig mit mir und der Welt, ich bin müde, weinerlich und vor allem dick und hässlich. Mein Hass auf mich wächst ins Unermessliche. Ich habe schon wieder versagt. Ich bin eine Schande. Es ist niemand da - ich bin allein. Leider nicht ganz allein - mein schlechtes Gewissen, Hass und meine Versagensängste sind wieder bei mir.”

Dies ist die Schilderung einer 23-jährigen Medizinstudentin kurz vor ihrem zweiten Staatsexamen, die wir gebeten hatten, eine Beschreibung ihrer inneren Wirklichkeit zu versuchen. Wie könnten wir PsychotherapeutInnen versuchen dieser Patientin zu helfen - welche Anregungen aus den unterschiedlichen Therapieschulen können wir aufnehmen?

Aus der Verhaltenstherapie wissen wir um die Wirksamkeit des Durchbrechens des bulimischen Zirkels, wir lernen, wie wichtig es ist, eine positive Einstellung zu Körper und Aussehen einzunehmen, würden mit der Patientin am Aufbau sozialer Kompetenz arbeiten. Im multimodalen stationären verhaltenstherapeutischen Ansatz werden Aspekte des Körperbildes und der Körperwahrnehmung mit einbezogen. Dies gibt uns einen Hinweis darauf, dass das Grundmodell auch in der verhaltenstherapeutischen Behandlung an sich schon über einen rein verbaltherapeutischen Ansatz hinaus geht.

Die Körpertherapie fokussiert auf diesen, in den meisten verbal orientierten Therapien vernachlässigten Aspekt. In dieser Arbeit wird auf die Beziehung zum eigenen Körper eingegangen - die Schwierigkeiten, aber auch die Chancen eines solchen Vorgehens sind klar erkennbar.

Das Katathyme Bilderleben arbeitet mit der Induktion positiver Vorstellungsbilder und entfernt sich gänzlich vom Symptom. Durch die Induktion positiver Emotionen gelingt es offensichtlich, die Störung in ihrer Funktionalität unbedeutender werden zu lassen.

Die Psychoanalyse konzentriert sich auf die in der Übertragung deutlich werdenden unbearbeiteten Beziehungskonflikte der Patientin. Durch das therapeutische Aushalten der Reaktivierung des Beziehungskonflikts erlaubt sie, neue Erfahrungen in der Beziehungsgestaltung zu gewinnen und andere Interaktionsmuster zur Konfliktlösung einzusetzen.

Systemische Überlegungen kommen zu dem Ergebnis der Unvereinbarkeit von Handlungsanleitungen: Sobald eine Anweisung befolgt wird, wird gegen die andere verstoßen. Die „Lösung” dieses Dilemmas ist die Störung.

Eingebettet ist diese Erkrankung in einen gesellschaftspolitischen und soziokulturellen Hintergrund einer Überflussgesellschaft mit Diätwahn und Körperkult. Offensichtlich bedarf es aber auch einer bestimmten individuellen Lebenssituation der Betroffenen, die sie von den Nicht-Betroffenen unterscheidet.

Have all won and must all have prices? Vielleicht geht keine der vorgestellten Ansätze als eindeutig überlegene Therapieform in der Behandlung dieser Ess-Störung hervor. Prof. Fichter spricht in seinem Interview von der Unterbewertung der Rolle der Emotionen, einer Feststellung, die direkte Bezüge zur Schilderung der inneren Wirklichkeit unserer Patientin zu haben scheint. Die Angst, andere zu enttäuschen, die Sehnsucht, von der Familie geliebt zu werden, die Sehnsucht nach Freude und der Hass auf sich selbst - es scheinen sich emotionale Zerreißproben in unserer Patientin abzuspielen und dies häufig bei einer unglaublich kontrollierten äußeren Haltung.

Wenn wir etwas aus den Beiträgen lernen können, dann ist es der Schluss, dass wir dringend schulenübergreifende Behandlungskonzepte zur Therapie der Bulimia nervosa brauchen. Jede therapeutische Ausrichtung konzentriert sich auf Aspekte, die eigentlich Bestandteil eines umfassenden Behandlungsangebots sein sollten. Und da es bei der Bulimie neben einem „normalen” Ess-Verhalten, Selbstvertrauen, einem adäquaten Umgang mit Emotionen, funktionierenden Copingstrategien etc. im Besonderen auch um Körperwahrnehmung und Kommunikation geht, muss die Integration hier über das Miteinander von Verhaltenstherapie und Psychoanalyse hinausgehen und z. B. auch körperorientierte Therapien sowie systemorientierte Ansätze mit einschließen. In der stationären Psychotherapie gelingt es sicherlich früher, solche Konzepte zu entwickeln, da durch die unterschiedlich spezialisierten Berufsgruppen unterschiedliche Kompetenzen miteinander in Verbindung gebracht werden können. Aber auch der ambulante Bereich muss sich nicht hinter der sicherlich kritikwürdigen und eigentlich überholten Tatsache verstecken, dass in der Richtlinienpsychotherapie die Kombination von Verfahren nicht zulässig ist. Auch eingebettet in das jeweils von der/m TherapeutIn vertretene Therapiekonzept können Anregungen und Foci anderer Schulen aufgenommen werden und in eigene Behandlungspläne integriert werden. Es geht um die optimierte therapeutische Arbeit mit einer Gruppe von Patientinnen, die jede therapeutische Schule vor große Behandlungsprobleme stellt.

Das defizitäre Einbeziehen von Emotionen in den meisten Ansätzen sollte dazu führen, sich über die Bedeutung und Rolle von Emotionen sowie deren Anteil am Fortbestehen der Störung klarer zu werden. Die Zeit, als Emotionen hauptsächlich als ein Epiphänomen von Kognitionen betrachtet wurden, gehört der Vergangenheit an. PiD wird sich in einem der nächsten Themenhefte mit Emotionen beschäftigen und neue Erkenntnisse ihres Stellenwerts im therapeutischen Arbeiten diskutieren.