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DOI: 10.1055/s-2001-15585
Gruppentherapie
in der DDR
Publication History
Publication Date:
31 December 2001 (online)

Als ein Verbindungsstück zum letzten Themenheft von PiD drucken wir hier ein Gespräch mit Prof. Dr. M. Geyer, Leipzig, ab, der heute zu den herausragenden Vertretern der Psychotherapie in den neuen Bundesländern gehört und der seinerzeit die Entwicklung der Psychotherapie in der ehemaligen DDR wesentlich mitbestimmte.
PiD: Michael, wir kennen uns seit 1984 und haben die uns betreffenden politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Ost und West gemeinsam verfolgt und oft diskutiert. Jetzt möchte ich dich mit einem Blick auf das vorhergehende PiD-Heft fragen, wie das bei euch in der DDR war mit der Gruppentherapie. So wie ich mich erinnere, stand die Gruppe bei euch als Therapiemethode ganz im Vordergrund, oder? Ich erinnere an Namen wie z. B. Höck, und du warst einer der ersten Gruppentherapeuten damals?
M. Geyer: Gut. Beginnen wir mit meiner eigenen Entwicklung. Ausgangspunkt war unser Interesse an der Psychoanalyse. Wir waren fasziniert vom Unbewussten und der Psychodynamik. Wir dachten, wir könnten eine ganz andere Qualität von Therapie erreichen, wenn wir Zugang hätten zu solchen Möglichkeiten.
PiD: Wann war das denn?
M. Geyer: Das war Mitte der 60er. Da war ich 22 oder 23 Jahre alt, noch im Studium. Mein erster
medizinischer Kongress war eine europäische Tagung für Gruppenpsychotherapie im Haus
der Gesundheit in Ostberlin. Höck, der schon seit den 50ern Gruppentherapie durchführte
und seit seiner Ausbildung am Berliner Institut nach dem Kriege viele führende Köpfe
der Psychoanalyse kannte, hatte zu dieser Veranstaltung eingeladen. Ich war nur einen
Tag dort, aber ich konnte alle kennen lernen: R. Schindler aus Wien, A. Heigl-Evers
und H. Enke und viele andere. Das waren die Anfänge der Institutionalisierung von
Gruppentherapie in Europa.
Das fanden wir schon bedeutend, zumal es vorwiegend Psychoanalytiker waren, die sich
damals trafen. Höck war seinerzeit natürlich klar, dass mit Psychoanalyse im Osten
nicht viel anzustellen war.
PiD: Warum ging das nicht?
M. Geyer: Unsere führenden Psychotherapeuten standen noch unter dem Schock der Pawlow’schen Indoktrination, die Anfang bis Mitte der 50er ihren Höhepunkt hatte. Begriffe wie Psychoanalyse oder Psychosomatik waren spätestens seit 1953 unter Verdikt gestellt. Insbesondere Müller-Hegemann hatte die Psychoanalyse verunglimpft als Wissenschaft des Klassenfeindes und damit ideologisch gebrandmarkt.
PiD: Es ging gegen die Psychoanalyse als bürgerliche Wissenschaft?
M. Geyer: Als bürgerliche Wissenschaft und als Gegenentwurf zu einem Menschenbild, das die
Partei damals propagierte. Diese Tagung war in meinen Augen ein Anfang und sie wurde
offenbar von den Machthabern politisch unterschätzt. Wir hatten bis dahin nur die
einschlägige Literatur gelesen, aber wir hatten keine Lehrer. So haben wir uns als
junge Assistenten unter Führung von Jürgen Ott, des ältesten von uns, als Selbsterfahrungs-
und Selbsthilfegruppe zusammengetan. Wir referierten die einschlägige Literatur, experimentierten
mit Patientengruppen und führten die Selbsterfahrung in der Gruppe ein.
Diese Geschichte hatte ziemlich viel Aufsehen erregt. Zum einen wegen des antiautoritären
Charakters dieser Gruppe, zum anderen, weil sich im Laufe der Zeit andere Gruppierungen
aus Leipzig und Bernburg anschlossen. Zwischen 1968 und 1972 etwa waren 15 bis 16
Leute beteiligt. Dazu gehörten viele, die später etwas zu sagen hatten in der Psychotherapie.
Auch Höck hat uns damals besucht, in einer Sitzung hospitiert.
PiD: Ah! Ich dachte immer, der Höck sei es gewesen, der das initiiert hat.
M. Geyer: Der hat etwas anderes initiiert. Höck hatte eine Konzeption entwickelt, wie man innerhalb unserer Gesellschaft in anerkannter Weise, oder besser in geduldeter Weise, eine Gruppentherapieausbildung machen konnte!
PiD: Das ist interessant. Kommen wir aber zuerst zu euch zurück. Eure Gruppenbildung war dann ein, wenn man so will, auch politischer Akt?
M. Geyer: Ja, das war ganz eindeutig so.
PiD: Etwas einzuführen, was eigentlich verpönt war?
M. Geyer: Ja, das psychodynamische Denken.
PiD: Und das ging einfach so oder habt ihr da Probleme gekriegt?
M. Geyer: Das ging nicht einfach so. Zunächst bekam unsere Gruppe Hausverbot in der Klinik. Die Gruppenmitglieder wurden teilweise schikaniert, wurden absichtlich zu Diensten eingesetzt, wenn die Gruppentermine waren usw.
PiD: Also es war denn auch bekannt, dass ihr euch da zusammenrottet und...
M. Geyer: Es war bekannt und es wurde nicht nur von unseren direkten Vorgesetzten als Bedrohung erlebt. Für uns selbst wurde unser Engagement echt bedrohlich, nachdem Ott und ich 1971 einen Vortrag zu diesem Thema auf dem Psychotherapiekongress der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie in Magdeburg angemeldet hatten. Ich hielt diesen Vortrag. Die Parteigruppe des Kongresses trat sofort zusammen und wollte uns mit der Begründung verurteilen, wir hätten in diesem Vortrag die führende Rolle der SED angezweifelt. Wir hatten gesagt, wir wollen etwas verändern in einer Institution. Und - was viel schlimmer war - wenn die uns nicht ließen, würden wir es trotzdem machen. Das wir nicht die SED gefragt und auf unsere Seite gebracht hatten, wurde uns schwer übel genommen. Ein italienischer Psychiater und Kommunist hat uns gerettet, der zufällig auf diesem Kongress war. Der war als Gast der Parteigruppe nicht nur dagegen, uns zu verurteilen, sondern lobte uns und hielt den deutschen Genossen vor, sie sollen doch froh und stolz sein auf uns. Diese Geschichte hinter den Kulissen habe ich erst zehn Jahre danach erfahren, ebenso, dass uns auch einige führende DDR-Psychotherapeuten wie Christa Kohler und Harro Wendt unterstützt hatten. Ohne sie wäre unsere Karriere beendet gewesen. Nachdem wir da heil raus kamen, hatten wir wieder Oberwasser und bekamen allmählich auch eine gewisse Anerkennung.
PiD: Und welche Rolle spielte Höck?
M. Geyer: Höck hat sich dann unserer bedient, wenn man so will. Er hat seine Idee einer Ausbildungskommunität, wie er das in Anlehnung an eine tschechische Entwicklung nannte, installiert und ein gruppendynamisches Konzept entwickelt. Höck hatte die Idee, das Modell einer Gruppenentwicklung mit therapeutischen Zielen zu schaffen, die nicht unbedingt im Gegensatz standen zum Menschenbild des Marxismus.
PiD: Er hat sozusagen versucht, einen Spagat zu machen?
M. Geyer: Höck hat sozusagen versucht, die verschiedenen Theorien der Gruppendynamik mit dem damals modernen sowjetischen Persönlichkeitskonzept von Usnaze und Galperin zu verbinden.
PiD: Das war praktisch schon so eine Art Neuschaffung?
M. Geyer: Das war eine absolut originelle Geschichte. Man kann sagen, es war eine der wenigen ausgearbeiteten Gruppentheorien, die beanspruchten, ein Menschenbild als Zielgröße zu haben. Gleichzeitig erfolgte die Manualisierung dieser Methode in einer damals noch nicht üblichen Weise. Dadurch war dieses Verfahren empirischer Forschung gut zugänglich. Das war für meine Begriffe eine große theoretische und organisatorische Leistung.
PiD: Das Verdienst von Höck war es also, auf der Grundlage einer Persönlichkeitstheorie ein Konzept zu entwickeln, was in der DDR gelehrt werden konnte und zur Staatsdoktrin nicht im Widerspruch stand?
M. Geyer: So war es. Etwa ab 1973 funktionierte es auch. Die Persönlichkeit Höcks trug diese Entwicklung. Höck war Chef der Sektion Gruppenpsychotherapie und das war eine offizielle Einrichtung innerhalb der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie. Höck war ein staatlicher Leiter mit politischer Verantwortung, er war immerhin Direktor des Hauses der Gesundheit Berlin, vorher war er Bezirksarzt von Groß-Berlin in der schwierigen Zeit des Mauerbaus. Er war zwar kein Genosse, aber er war ein politisch berechenbarer Mensch. Er war zweifellos die treibende Kraft, derjenige, der es letztlich organisatorisch gemacht hat, und er hat sich mehrere Analytiker und unsere Erfurter Gruppe zur Seite geholt und damit auch wesentliche gruppenanalytische Bewegungen im Ostblock integriert.
PiD: Welche Analytiker gab es damals im Ostblock?
M. Geyer: Ich will nur die nennen, die bei uns mitmachten. G. Hidas aus Budapest, ein Schüler Imre Hermanns, der wiederum in der Tradition Ferenczies stand, und P. Urban, ein Prager Analytiker und Suchttherapeut. Die Selbsterfahrungskommunitäten waren jedoch in erster Linie ein Experimentierfeld für das Höck’sche Konzept, dessen klinisch-praktische Grundlage in der Klinik Hirschgarten des Hauses der Gesundheit entstanden war. Dort liefen ständig drei geschlossene Gruppen. Die Gruppen dauerten acht Wochen. Und alle drei Wochen begann dann eine neue Gruppe, geschlossen von Anfang bis Ende. Das war natürlich ein wunderbares Studienfeld. Die engste Mitarbeiterin Höcks, Helga Hess, hatte eine Forschungsgruppe gebildet, die diese Prozesse mit verschiedenen Methoden untersuchte. Es existieren unzählige Forschungsberichte über diese Vorgänge und Veränderungen in den Gruppen.
PiD: Ihr habt ja viele Instrumente gehabt. Viel Dokumentation, was heute wieder modern ist.
M. Geyer: Für uns war es selbstverständlich, möglichst viele Aspekte des Prozesses abzubilden.
1974 war die Methode aus dem Experimentierstadium heraus, und es begann die erste
Kommunität in Klein Pritz, vier parallele Gruppen mit zehn bis zwölf Personen mit
jeweils Trainer und Co-Trainer, drei Doppelstunden Kleingruppe und eine Großgruppe
abends. Dazu Kommunikative Bewegungstherapie. Diese Kommunitäten waren konzipiert
als Ausbildungen über drei Jahre, insgesamt 300 bis 400 Stunden praktische Ausbildung.
Das war das offizielle Programm der Sektion Gruppenpsychotherapie.
Zumindest 90 % der Fachärzte für Psychotherapie, die es bei uns seit 1978 gab, und
die in Spezialkliniken arbeitenden Psychologen, insgesamt etwa ein Drittel aller organisierten
Psychotherapeuten gingen da durch, und unsere alte erste Gruppe, von der ich vorhin
gesprochen habe, stellte einen großen Teil der ersten Trainer für die ersten Kommunitäten,
und Jürgen Ott wurde der zweite Mann nach Höck in deren Leitung. Ungefähr 1978, nach
der dritten Kommunität, da haben Ott und ich uns gesagt, dass wir dieses System modifizieren
müssten.
PiD: Welche Probleme habt ihr gesehen?
M. Geyer: Dieses Konzept hatte mehrere Nachteile. Im Grunde genommen war die Gruppenentwicklung so konzipiert, dass die so genannte Abhängigkeitsphase im Schweinsgalopp durchmessen wurde. Es wurde alles getan, um die Patienten oder die Teilnehmer in eine rasche Auseinandersetzung mit dem Therapeuten/Trainer zu bringen, mit dem Ziel der Ablösung von ihm und der Verselbstständigung der Gruppe. Der gesamte prägruppale Prozess wurde als etwas angesehen, was schnellstmöglich zu überwinden sei. Und mit schwerer gestörten Patienten ging das nicht. Die Methode hatte die positiven Möglichkeiten der Abhängigkeit nicht im Blick und war mit ihrem expliziten Normenbezug ziemlich Über-Ich-lastig. In den folgenden Jahren wurde die Methode denn auch vielfältig modifiziert und den klinischen Erfordernissen angepasst. Zum Beispiel begannen Ott und ich 1978 mit mehreren Mitgliedern unserer alten Erfurter Selbsterfahrungsgruppe, eine eigene Form der Selbsterfahrungskommunität in Winterstein durchzuführen. Übrigens mit Billigung von Höck, der durchaus offen war für Neuerungen.
PiD: Und was war das ursprüngliche Konzept der dynamisch intendierten Gruppentherapie. Kannst du das näher erklären?
M. Geyer: Dynamisch und intendiert geht halt schwer zusammen. Das Grundkonzept in aller Kürze: Ein Mensch realisiert sein Fehlverhalten in der Gruppe. Der Inbegriff seines Fehlverhaltens besteht in seiner Abhängigkeit, in einer mangelnden Selbstverantwortlichkeit. Ihm wird zunächst bewusst, wie unselbstständig und autoritätsabhängig er ist, und dann wird alles getan, damit er diese Abhängigkeit möglichst schnell überwindet. Die frustrierten Abhängigkeitsbedürfnisse wandelt er in Wut gegen den Therapeuten um. Über diese Auseinandersetzung löst er sich von ihm.
PiD: Und dieses Kipp-Phänomen, was war denn das dann?
M. Geyer: Nachdem die Patienten aus Abhängigkeit oder Hilflosigkeit herausgefunden haben und in eine Auseinandersetzung mit dem Therapeuten eingetreten sind, ergibt sich dann eine neue Gruppensituation, wenn die gesamte Gruppe die Ablösung geschafft hat und die Bezogenheit auf den Gruppenleiter von der auf die Gruppenmitglieder abgelöst wird. Das war der Kippvorgang.
PiD: Sag‘ mal, das stand aber, wenn ich das mal naiv sage, in einem krassen Gegensatz zu dem System.
M. Geyer: Das mag so scheinen, aber so einfach ist es nicht. Denn natürlich ist das marxistische Menschenbild immer die Bezugsgröße gewesen und nicht irgendeine stalinistische Vorstellung vom sozialistischen Menschen. Und das marxistische Menschenbild entspricht natürlich einem selbstkontrollierten, freien, emanzipierten Individuum.
PiD: Dieses Konzept der Gruppentherapie beinhaltete tatsächlich als Zielgröße das marxistische Menschenbild?
M. Geyer: Das kann man so sagen.
PiD: Mit dem Ideal des letztendlich von der Autorität emanzipierten Individuums? Und was hatte das mit dem politischen System zu tun?
M. Geyer: Mit dem herrschenden politischen System hatte das zunächst so viel zu tun wie alle Ideale mit der Realität. Es war aber für uns eine enorme Versuchung, so zu tun, als ob wir mit dieser Methode dem politischen System etwas anhaben könnten. Für mich war es ein trojanisches Pferd, mit dem wir das Regime von innen her aushöhlen konnten.
PiD: Ja, ich glaube, das ist aus dem Rückblick schon sehr wichtig. Eure Initiative damals kam ja aus einer Unzufriedenheit mit dem System. Ihr habt ja im Grunde genommen in der initialen Situation euch ein Stück von dem politischen System emanzipiert, indem ihr was durchgesetzt habt.
M. Geyer: Ja, sicher, eben das dynamisch analytisch orientierte Denken.
PiD: Könnte man denn sagen, dass diese Entwicklung der Psychotherapie in der DDR auch mit dazu beigetragen hat, dass das System letztendlich gefallen ist.
M. Geyer: Ja, das war sicher ein kleines Bausteinchen.
PiD: Jetzt nehmen wir mal ein größeres Wort, denn es war aus meiner Sicht schon ein Baustein, wenn ich z. B. an unsere ersten Kontakte 1984 und dann an die Tagung in Erfurt denke.
M. Geyer: Auf unserem Kongress in Erfurt schon 1987, wo erstmalig 300 westdeutsche Psychotherapeuten und 200 Ostdeutsche unseres Faches zusammenkamen, und vor allem die gesamte Psychotherapieprominenz, da hatten wir unsere vorgezogene Wende, wenn du so willst. Es war auch ein vorgezogenes Wiedervereinigungsfest im Kleinen.
PiD: Das war ja die erste deutsch-deutsche Begegnung in größerem Stil, bei der du ja auch viel Angst hattest, dass das schief geht, da es dem politischen System zuwider gelaufen ist.
M. Geyer: Ja, ich hatte auch Angst, dass alles aus dem Ruder läuft und die Stasi mit uns kurzen Prozess macht.
PiD: Also, das war etwas Subversives. Unter den Augen eurer Staatsmacht. Kann man das so sagen?
M. Geyer: Ja, es wurde auch später so ausgedrückt in den Stasiprotokollen. Wir hätten eine
staatsgefährdende politische Plattform gebildet. Aus heutiger Sicht hatten sie schon
irgendwie Recht.
Aber kommen wir zurück zur Gruppentherapie. Bis 1987 oder 1989 war es ein weiter Weg.
Für mich gibt es bei allen Unterschieden eine erstaunliche Parallele zwischen den
gesellschaftskritischen Bewegungen in Ost und West. Auch wir, die Ost-68er, haben
den Gang durch die Institutionen angetreten. Im Unterschied zum Westen waren unsere
Aktivitäten ziemlich fokussiert auf die fachpolitische Entwicklung. Wenn ich von mir
ausgehe: Ich habe neben einer Hochschullehrerlaufbahn konsequent vermieden, staatliche
Positionen zu besetzen. Stattdessen habe ich zunächst eine psychotherapeutische Regionalgesellschaft
aufgebaut, arbeitete ab Mitte der 70er Jahre im Vorstand der nationalen Gesellschaft
mit und wurde schließlich 1982 ihr Vorsitzender. Beinahe die ganze Erfurter Selbsterfahrungsgruppe
war schließlich in diesem Vorstand: Jürgen Ott, Achim Maaz, Fried Böttcher und andere.
Wir hatten immerhin so viel Macht, dass wir die Angliederung unserer Weiterbildungsordnung
und Qualifikationswege an westliche Verhältnisse betreiben konnten und damit die Wiedervereinigung
vorbereiteten.
Dabei standen wir unter ständiger Spannung, und auch der Anpassungsdruck war teilweise
unerträglich. Mit der Gruppentherapie hatten wir auch eine Möglichkeit, uns als Handelnde
und Systemveränderer zu fühlen.
PiD: Kannst du das näher erklären?
M. Geyer: Bei all unserer Beschäftigung mit der Gruppe standen das Individuum und sein Anspruch,
als solches etwas zu bewegen, im Vordergrund des Denkens. Es ist nicht unbedingt paradox,
dass uns die Gruppe das Medium zur Wiedereinführung des Individuellen war.
Und es ist kein Wunder, dass zur gleichen Zeit, in der wir über die Gruppentherapie
aktiv wurden, ein gesellschaftlicher Wandel in der DDR vonstatten ging. Die Ära Ulbricht
ging zu Ende, und die Ära Honecker begann. Und plötzlich war das Individuum wieder
etwas wert. Der politisch verordnete Kollektivismus wurde in Philosophie, Kunst und
Schriftstellerei zunehmend relativiert. Paradigmatisch für die frühen 70er waren die
Bücher von Christa Wolf. Plötzlich spielte das Subjekt, das Innerliche wieder eine
Rolle. Plötzlich zählte wieder die individuelle Leistung. In der Gesellschaft wurde
wieder die Diskussion um die Eliten geführt, das war bis dahin undenkbar. Es wurden
plötzlich Theaterstücke geschrieben, „Die neuen Leiden des jungen W.” von Plenzdorf
zum Beispiel, wo der Einzelne an der Gesellschaft leiden durfte.
PiD: Du hast ja damals ein Buch gemacht über Einzeltherapie? Und ich erinnere mich, ich habe damals das Manuskript in den Westen mitgenommen. Das war ja so Mitte der 80er Jahre.
M. Geyer: Weil ich nicht genau wusste, ob das veröffentlicht werden kann, ja.
PiD: Warum ging das nicht?
M. Geyer: Es ging dann irgendwie trotzdem. Aber es bestand auch das Risiko, es wird abgelehnt
aus ideologischen Gründen. Das gab es bis zuletzt. Ich wollte aber irgendetwas bewegen.
In meiner Klinik in Leipzig hatte ich ein breites Betätigungsfeld, und ich dachte,
es kann nicht alles über die Gruppen laufen. Die Einzeltherapie brauchte ein explizit
psychoanalytisches Fundament. Man musste jetzt schon mal sagen, was Übertragung und
Gegenübertragung meint, was Regression ist, und so weiter.
Das war zwar schon in dem Höck’schen Konzept implizit...
PiD: War das eine andere Sprache?
M. Geyer: Das war eine andere Sprache, es ging um andere Begriffe. Und bei der Einzeltherapie, da wusste man nicht genau, bewegt das eventuell die politischen Widersacher zum entscheidenden Schlag gegen uns. Erst 1989 haben wir es geschafft, die Lehranalyse wieder einzuführen, als die DDR dann am Ende war.
PiD: Eigentlich gab es fast eine Parallele zwischen euch in der Ostgesellschaft und uns im Westen, was die politische Bedeutung von Gruppen betrifft. Herr Richter wurde ja zu dieser Thematik im vorherigen Heft auch interviewt - die Gruppe und das Kollektiv waren damals bei uns in den 70er Jahren politisch verstandene Prozesse.
M. Geyer: Das würde ich auch so sehen.
PiD: Ich danke dir für dieses Gespräch.