Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2001; 36(7): 403-405
DOI: 10.1055/s-2001-15437
EDITORIAL
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Welche Bedeutung haben
Originalarbeiten zur Prophylaxe
von Übelkeit und Erbrechen
für unsere klinische Praxis?

Preventing Postoperative Nausea and Vomiting: What can we Learn from Original Papers?N. Roewer, C. C. Apfel,
  • Klinik für Anaesthesiologie, Universitätsklinikum Würzburg
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
31. Dezember 2001 (online)

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Aus großen prospektiven Studien wissen wir, dass auch heutzutage noch jeder vierte Patient nach Allgemeinanästhesien in den ersten 24 Stunden mindestens eine Episode von Übelkeit und/oder Erbrechen (Ü&E) erleidet [1] [2] [3]. Es ist daher nicht verwunderlich, dass in den letzten 40 Jahren über 4000 randomisierte kontrollierte Studien mit Antiemetika durchgeführt wurden. Diese unüberschaubare Anzahl von Studien hat unterschiedliche und kontroverse Ergebnisse zutage gefördert, so dass es notwendig wurde, alle verfügbaren Daten zur Abschätzung der Wirksamkeit einer antiemetischen Strategie durch systematische Literaturrecherchen zusammenzuführen und quantitativ auszuwerten („quantitative systematic review” = „meta-analysis”). So wissen wir nun, dass Droperidol die Inzidenz von Ü&E auf fast ein Drittel zu reduzieren vermag [4]. Ferner wurde gefunden, dass in den verwendeten Dosierungen Ondansetron wirksamer als Droperidol und Droperidol wiederum wirksamer als Metoclopramid ist [5]. Mehr noch, trotz jahrzehntelanger Applikation von Metoclopramid wissen wir heute, dass diese in den verwendeten Dosierungen nicht zu einer klinisch nennenswerten Reduktion von Ü&E führt [6]. Dem interessierten Leser sei hier der beeindruckende Review über die bisher erschienenen Meta-Analysen zu diesem Thema von M. Tramèr empfohlen [7].

Dennoch erscheinen regelmäßig Originalarbeiten in anästhesiologischen Journalen, so dass sich die Frage stellt, welche Bedeutung diese für unsere klinische Praxis haben.

Von wesentlicher Bedeutung ist hier natürlich die Fragestellung. Geht es beispielsweise um den einfachen Vergleich von zwei Gruppen, wie z. B. Dexamethason versus Plazebo, so ist aller Wahrscheinlichkeit nach keine neue Information zu erwarten, da dessen Wirksamkeit (ohne eine erhöhte Nebenwirkungsrate) in zahlreichen anderen Studien bereits gezeigt wurde [8]. Es ist daher nur allzu verständlich, dass sich die Begeisterung für derartige Studien bei einigen Lesern in Grenzen hält. Viel interessanter ist jedoch, dass - ebenso wie in der Chemotherapie - niedrig-dosiertes Ondansetron mit Dexamethason wirksamer zu sein scheint als hoch-dosiertes Ondansetron alleine [9] und es liegt nahe, dass ähnliche Wirkungen auch für die anderen Serotoninantagonisten (Tropisetron, Granisetron und Dolasetron) existieren. Eine sinnvoll darauf aufbauende Studie könnte z. B. systematisch eine Dosis-Wirkungs-Interaktion untersuchen, um für die Praxis das optimale Mengenverhältnis zu finden [10]. Aufgrund der schon oben erwähnten Vielzahl der Originalarbeiten könnte es daher für den praktisch tätigen Anästhesisten sinnvoll sein, schon anhand der Fragestellung zu entscheiden, ob die nähere Lektüre dieser Arbeit sinnvoll ist, um somit mehr Zeit für die „echten Leckerbissen” zu haben, die wirklich etwas Neues bringen.

Wenn nun unterschiedliche antiemetische Strategien verglichen werden, so muss auf jeden Fall sichergestellt sein, dass alle wesentlichen Einflussgrößen vergleichbar sind, damit ein signifikanter Unterschied in der Inzidenz von Ü&E auf die Antiemetika zurückgeführt werden kann [11]. Während früher in Übersichtsarbeiten eine Vielzahl an - meist hypothetischen - Faktoren aneinandergereiht wurden [12] [13] [14], wird immer klarer, dass viele Faktoren tatsächlich gar keine Risikofaktoren sind. So konnte gezeigt werden, dass unter Berücksichtigung aller publizierten Daten der Menstruationszyklus keinen nennenswerten Einfluss auf Ü&E nach Narkosen zu haben scheint [15]. Auch die Adipositas ist kein Risikofaktor [16], obgleich sie in zahlreichen Reviews immer wieder als solcher angeführt wurde [12] [13] [14]. Es verwundert daher nicht, dass in einer Umfrage unter Kollegen über 80 % irrtümlicherweise davon ausgingen, dass es sich hier um einen Risikofaktor für Ü&E handle [17]. Wir haben daher in einer deutschsprachigen Übersicht betont, dass es zentrumsübergreifend nur eine Hand voll wirklich reproduzierbare Risikofaktoren gibt [18]. Diese sind volatile Anästhetika und Lachgas in Abhängigkeit von der Narkosedauer, Opioide, weibliches Geschlecht, Reisekrankheit oder Ü&E in der Anamnese und der Nichtraucherstatus [18]. Beim Lesen von klinischen Studien sollte somit besonders darauf geachtet werden, ob die Gruppen in Hinblick auf die letztgenannten Faktoren wirklich vergleichbar sind. Zwar ist eine Stichprobenungleichheit bei randomisierten Studien eher unwahrscheinlich, dennoch ist eine sichere Beurteilung der Ergebnisse ohne die Angabe der wesentlichen Risikofaktoren kaum möglich.

Erfreulicherweise konnten wir in den letzten Jahren zeigen, dass das Risiko für Ü&E nach Inhalationsanästhesien anhand der wenigen, oben genannten Risikofaktoren eingeschätzt werden kann [19] und auch unter anderen Rahmenbedingungen weitgehend operationsunabhängig zu validen Vorhersagen führt [20] [21]. Dieses gilt auch für unseren vereinfachten Score, bei dem lediglich die Anzahl der Risikofaktoren gezählt werden (weibliches Geschlecht, Ü&E in der Anamnese, Nichtraucherstatus und Gebrauch von postoperativen Opioiden). Liegen 0, 1, 2, 3 oder 4 dieser Risikofaktoren vor, ist die Wahrscheinlichkeit für Ü&E ca. 10 %, 20 %, 40 %, 60 % und 80 % [3]. Da dieser vereinfachte Score auch bei anderen Eingriffen zu einer validen Vorhersage führt [22], erscheint die Empfehlung sinnvoll, diesen als Grundlage für eine individuelle und kosteneffiziente antiemetische Strategie zu verwenden [23]. Ebenso sinnvoll ist es jedoch, einen derartigen Score zum Gruppenvergleich von klinischen Studien heranzuziehen. Liegt das berechnete Risiko außerhalb des Konfidenzintervalls der beobachteten Plazeboinzidenz, so kann vermutet werden, dass neben den im Score verwendeten Prädiktoren noch ein oder mehrere andere Faktoren das Risiko nennenswert beeinflussen. Dieses wäre wichtig um zu unterscheiden, ob die hohen Inzidenzen von Ü&E, die bei bestimmten Operationen typisch sind (z. B. gynäkologische Eingriffe, laparoskopische Eingriffe), durch den operativen Eingriff selbst bedingt sind oder vielmehr Ausdruck der mit der Operation assoziierten im Score erfassten Risikofaktoren [24]. Irrtümlicherweise wird jedoch immer wieder eine hohe Inzidenz an sich, die bei einem Eingriff auftritt, als Beleg für einen unabhängigen Risikofaktor angeführt. Zwar haben auch wir den Eindruck, dass einige wenige Operationen, wie z. B. an der Schilddrüse (unveröffentlichte Analysen), ein unabhängiger Risikofaktor sein könnten, die gegenwärtige Datenlage zur Bedeutung der Operation für Ü&E ist jedoch derart heterogen, dass eine abschließende Aussage zur Zeit noch nicht möglich ist. Allerdings können wir schon jetzt sagen, dass die Vorhersage von Risikoscores mit 4 oder 5 Prädiktoren nicht mehr nennenswert verbessert werden kann, wenn ein weiterer Faktor, wie z. B. die Operation, hinzugenommen wird [25], so dass bei der Verwendung eines gut validierten Risikoscores die Berücksichtigung der Operation für die Risikoabschätzung in der klinischen Praxis vernachlässigbar sein dürfte.

Ein Hauptproblem vieler Studien ist die angesetzte Fallzahl. Um dieses zu vermeiden, sollte jede Studie eine detailliert beschriebene Fallzahlabschätzung aufweisen [26]. Ist diese nämlich zu klein gewählt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein tatsächlich existierender Effekt gar nicht nachgewiesen werden kann. Ist bei zu geringer Patientenzahl das Ergebnis dann negativ, wäre die Behauptung nicht richtig, dass das Antiemetikum nicht wirksam sei, sondern nur richtig, dass in dieser Studie (mangels „Power”) keine Wirksamkeit nachgewiesen werden konnte. Dazu ein kleines Beispiel: Liegt die Inzidenz von Ü&E bei ca. 60 % und wird eine Reduktion um ein Drittel auf 40 % als klinisch relevant angesehen, so wäre eine Patientenzahl von 107 pro Gruppe erforderlich (bei α = 0.05 und β = 0.2). Als Daumenregel kann man sich daher merken, dass für die meisten Untersuchungen, die lediglich ein Antiemetikum versus Plazebo testen, ca. 100 Patienten pro Gruppe erforderlich sind. Leider weisen die meisten Studien nur 30 - 60 Patienten pro Gruppe auf, so dass die Bedeutung derartiger Ergebnisse für die Praxis mit einer gesunden Skepsis betrachtet werden sollten. Eine positive Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang eine Untersuchung von Scuderi und Mitarbeiter bei ambulanten gynäkologischen Laparoskopien dar [27]. Die Patientinnen der Gruppe I erhielten eine intravenöse Anästhesie mit Propofol ohne Lachgas (TIVA) und einer dreifachen Antiemetikaprophylaxe (Droperidol, Ondansetron und Dexamethason) (n = 60), die der Gruppe II eine balanzierte Anästhesie mit Sevofluran und Ondansetron (n = 42) und die der Gruppe III (Referenz) lediglich eine balanzierte Anästhesie mit Sevofluran (n = 37). Vor der Entlassung hatten in den Gruppen I, II und III jeweils 1 ( = 2 %), 10 ( = 24 %) und 15 ( = 41 %) Patientinnen erbrochen. Da hier nicht lediglich ein einzelnes Antiemetikum versus Plazebo untersucht wurde, konnte ein wesentlich größerer Unterschied erwartet werden, so dass in diesem Fall diese geringe Patientenzahl ausreichend war. Diese Arbeit hat somit erstmals gezeigt, dass auch bei Risikopatienten die Inzidenz von Ü&E auf weit unter 10 % gesenkt werden kann. Es kann daher vermutet werden, dass ein derartiges Vorgehen in der Praxis auch bei anderen Eingiffen ähnlich wirksam wäre. Streng wissenschaftlich betrachtet muss ein derartiger Beweis, z. B. für Stumaoperationen, natürlich erst erbracht werden.

In diesem Sinne hoffen wir ein paar kritische, aber konstruktive Anregungen zur Bewertung von Originalarbeiten für unsere tägliche Praxis gemacht zu haben und möchten auf eine Arbeit von K. Danner und Mitarbeitern in diesem Heft hinweisen, welche mit der Gabe eines Antiemetikums versucht hatten, die Inzidenz von Ü&E nach Schilddrüsenoperationen auf ein akzeptables Maß zu senken [28]. Doch lesen Sie selbst …

Literatur

Prof. Dr. med. N. Roewer

Klinik für Anaesthesiologie
Klinikum der Universität

Joseph-Schneider-Str. 2

97080 Würzburg