Deutsche Zeitschrift für Akupunktur 2001; 44(1): 29-34
DOI: 10.1055/s-2001-12244
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Karl F. Haug Verlag, in MVH Medizinverlage Heidelberg GmbH & Co. KG

Die gesellschaftliche Dimension von Kompetenz und ihre Bedeutung für die Integration von westlicher und traditionell chinesischer Medizin

The Social Dimensions of Competence and its Importance for the Integration of Western and Traditional Chinese MedicineErhard Suess
  • Universitätsklinik für Neurologie, A-1090 Wien, Österreich
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
31. Dezember 2001 (online)

Ist es zulässig, den Kompetenzbegriff zu hinterfragen, ohne es lediglich in der Weise zu tun, dass jemand in seiner Fähigkeit, etwas Bestimmtes zu leisten, in Frage gestellt wird? Hier wird der Versuch unternommen, den Kompetenzbegriff auf seine strukturellen Bedingungen hin zu untersuchen, d.h. aufzuzeigen, in welchem Kontext Kompetenz - im Sinne einer spezifischen Fähigkeit - ihre Definition bestimmt, einforderbar wird und ihre Bestätigung erfährt. Im gewöhnlichen Sprachgebrauch steht der Begriff Kompetenz gleichbedeutend für Fähigkeit - meist fachspezifisches Vermögen -, ohne zu hinterfragen, in welcher Weise seine Bedeutung an die Zielsetzungen und Normen unterschiedlicher Gesellschaften gebunden ist.

In einer Zeit, in der Gesellschaften verschiedener Kulturkreise Akzeptanzen für die jeweils anderen medizinischen Systeme entwickeln, soll aber auch darauf Bedacht genommen werden, welche kulturspezifischen Merkmale transformiert werden müssen, um eine Integration zu ermöglichen. Zu diesen Merkmalen zählen nicht nur weltanschauliche Modelle, tradierte Methoden oder Therapieprinzipien, sondern auch jene Bedingungen, die konstituierend sind für die geforderten Qualifikationen, Legitimationen und die Kriterien zu ihrer Überprüfung.

Eine detailliert Analyse der Zusammenhänge von gesellschaftlichen Systemen und den ihnen entsprechenden medizinischen Systemen würde den Rahmen dieser Überlegungen bei weitem übersteigen. Genauso ist es nicht möglich, die Unterschiede zwischen westlicher und traditionell-chinesischer Medizin (TCM) in allen wesentlichen Aspekten erschöpfend darzustellen. Es soll aber der Versuch unternommen werden, den Begriff der Kompetenz - als zentrale Forderung an die Repräsentanten einer Integration beider medizinischer Welten - einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

Die begriffliche Bestimmung von Kompetenz

Den Anspruch für sich geltend zu machen, Kompetenz zu haben, oder als kompetent zu gelten, ist zweierlei. Im ersten Fall werden Legitimationen per se zur Begründung dieses Anspruches herangezogen, im anderen Fall bedarf es über die Akzeptanz dieser Legitimationen hinaus auch der Bestätigung durch das, was als erfolgreiche Umsetzung von Legitimation gilt, sich also bewährt.

Kompetenz ist demnach bestimmt durch jenen Raum, der sich zwischen Legitimation und Bewährung auftut. Legitimation wird erworben, Bewährung wird dort erreicht, wo ein spezifisches Anforderungsprofil erfüllt wird. Kompetenz ist in diesem Sinne dadurch definiert, dass sie für das, wofür Legitimation besteht, die Bewährung möglich macht. Nicht die Kompetenz selbst muss sich bestätigen, sie dient als Mittel dazu, den legitimierten Anspruch auf den Besitz einer bestimmten Fähigkeit, überprüfbar zu machen. Wo Kompetenz gefordert wird, wird eigentlich die Fähigkeit gefordert, seine Legitimation durch Bewährung zu bestätigen.

Sie ist damit auch nicht als etwas Vordefiniertes anzusehen, das in gleicher Weise erworben werden kann wie Legitimation, sondern ist etwas, das sich im Spannungsfeld der sich wechselseitig beeinflussenden Faktoren spezifischer Anforderungsprofile und den Erfordernissen, diese erfüllen zu können, entwickelt.

Der einfache Schluss, dass als kompetent gilt, was durch Bewährung Bestätigung erfährt, ist allerdings nicht zulässig. Erfolgreiches Laientum, selbst gut gebildete Autodidakte erfahren nicht die gleiche Akzeptanz, wie ausgebildete, mit Dekret ausgestattete Absolventen einer Institution. Umgekehrt scheint es aber so zu sein, dass der Erwerb spezifischer Qualifikationen als hinlängliche Legitimation gilt, Kompetenz zu besitzen. Wie lässt sich also verstehen, dass das Postulat von Kompetenz mehr zu gelten scheint, als erwiesene Fähigkeit?

Gesellschaftliche Bedingungen

Wenn man berücksichtigt, dass die Begriffe Legitimation, Kompetenz und Bewährung nicht absolute Entitäten darstellen, sondern ihre Bedeutung darin haben, dass sie gesellschaftlichen Phänomenen entsprechen, so wird deutlich, dass die Gesellschaft offensichtlich Strukturen und Verfahren entwickelt hat, die es zulässig erscheinen lassen, gemeinsam mit einer Legitimation auch so etwas wie eine „Bewährungsgarantie” zu erwerben. Diese „Bewährungsgarantie” wird urkundlich verbrieft durch Diplome und andere Ausbildungsnachweise. Sie wird in einer Gesellschaft, die sich auf Wissenszuwachs, Erneuerung von Wissen und Zunahme von Komplexität in der Vernetzung von Wissen ausrichtet aber auf andere Weise gewährleistet, als in einer solchen, die auf Bewahrung von Wissen ausgerichtet ist. Es entspricht durchaus unserer individuellen Erfahrung, dass es dem Einzelnen nur in sehr beschränktem Rahmen möglich ist, zu überprüfen, ob Legitimationen zu Recht auch mit Kompetenz verbunden sind, oder nicht. Gemeinsam ist beiden Gesellschaften, unabhängig von der wissenschaftlichen oder traditionellen Orientierung, dass sie in ihrer Strukturierung nicht nur auf die Erfordernisse, die zur Verwirklichung ihres Anspruches notwendig sind reagieren, sondern auch darauf, dass der Einzelne es nicht leisten kann, eine Überprüfung der Bewährung zu leisten. Sie tun dies zunächst, indem sich Hierarchien bilden, die Autoritäten darstellen und diese absichern, indem sie institutionalisiert werden. Universitäten sind solche Institutionen, aber auch außeruniversitäre Einrichtungen, wie Fachgesellschaften können sich in diesem Zusammenhang etablieren. Solche institutionalisierte Autoritäten beanspruchen und gewähren, indem sie Verfahren und Kriterien anwenden, die dem Anspruch auf Bewährung gerecht werden, auch gleichzeitig eine Implementierung von Bewährung und Legitimation. Auf diese Weise entsteht nicht nur der Eindruck, dass mit dem Erwerb von Legitimation auch gleichzeitig Kompetenz erlangt wird, es wird dadurch auch gewährleistet, dass genau für diesen Konnex tatsächlich gesellschaftliche Akzeptanz hergestellt wird.

In Gesellschaften, welche die Erhaltung tradierten Wissens absichern, mag eine Gewährleistung von Legitimation durch Weitergabe bestehenden Wissens von einem Meister auf einen Schüler als ausreichend angesehen werden. Die gesellschaftlich akzeptierte Argumentation besteht hier vorwiegend darin, sich auf den Wert des tradierten Wissens zu berufen, das sich aufgrund seines langjährigen Bestandes bewährt haben muss. Dies zunächst unter Außerachtlassung der Tatsache, dass es die relativ redundante gesellschaftliche Struktur selbst war, die keine Forderung nach einer Überprüfung und Erneuerung des Wissens gestellt hatte. Die Berufung auf einen Lehrer, Meister oder auch eine angesehene Institutionalleine wird in der westlichen Welt allerdings nicht als hinlänglich legitimierend angesehen und hinsichtlich ihrer methodischen Qualität hinterfragt.

In einer Gesellschaft, die an Erneuerung orientiert ist, ist eine komplexere Struktur erforderlich. Eine solche muss sowohl sicherstellen, dass eine Akzeptanz der Legitimation, gleichwie für die Verfahren und Instrumente zu ihrer Absicherung, gewährleistet ist. Sie leistet dies z.B., indem sich Spezialisierungen ausdifferenzieren, die ihrerseits darauf spezialisiert sind, jene Verfahren und Kriterien zu überwachen, die Legitimation erzeugen.

Geschwindigkeit und Produktion von Information

Die westliche Medizin ist, entsprechend ihrer christlichen Tradition, einer Kultur des Leidens viel stärker verbunden, als sie uns glauben macht, wenn sie sich auf die Erfolge ihrer wissenschaftlichen Methodik beruft. Es darf in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, dass die wissenschaftliche Medizin in ihrer heutigen Ausprägung auf einer nur höchstens 150 Jahre umfassenden Entwicklung beruht.

Sie hat in diesem Zeitraum auf eine gesellschaftliche Entwicklung reagiert, die eine Technologisierung genauso gefordert hat, wie eine methodologische Absicherung.

Wissenschaft, wie wir sie heute kennen, ist eine sehr effiziente Information generierende Maschine, die weniger darauf ausgerichtet ist, Übereinstimmung mit bestehendem Wissen herzustellen, als neue Information methodisch abgesichert zu produzieren. Dieses Phänomen lässt sich natürlich nicht nur in der Medizin beobachten, es existiert in vielen anderen Bereichen unseres Lebens ebenso. Die Produktion, gleichwie die Verwaltung dieser Unmenge an neuer Information erfolgt durch spezialisierte Einrichtungen. Universitätskliniken, Experten, wissenschaftliche Journale und deren Reviewer, und die Industriekomplexe der Pharmaindustrie überwachen die Einhaltung der Regeln, nach denen dieses Wissen gewonnen wurde. Sie entscheiden darüber, welche Informationen in Zeitschriften und Büchern abgedruckt, also gespeichert werden, und welche gelehrt und dann als Zeichen der Qualifikation dem Lernenden abgefordert werden. Dieses System funktioniert, weil die Regeln der wissenschaftlichen Produktion sich gesellschaftlich bewährt haben. Sie haben dies einerseits dadurch geleistet, indem der Einzelne die Überlegenheit der wissenschaftlichen Methode daran festmachen kann, dass sie genug Flexibilität besitzt, auf den jeweils gültigen Begriff von und Umgang mit Kranksein rasch zu reagieren. Die Beschleunigung dieses Prozesses ist an der Zunahme von Krankheiten, die als zivilisatorisch bedingt angesehen werden, wie z.B. der Herzinfarkt, oder als Folgen verlängerter Lebenserwartung oder der Umweltbelastung mit Schadstoffen, ersichtlich. Man bedenke nur den relativ kurzen Zeitrahmen von etwa 20 Jahren, in dem ein beträchtliches Wissen über die Krankheit AIDS und relativ wirksame Medikamente zur Verzögerung ihres Ausbruchs bei Infizierten entwickelt wurden. Auffallend ist allerdings, dass gerade in den meist betroffenen Ländern, denen der dritten Welt, diese Entwicklung nicht akzeptiert, und damit auch nicht finanziert und genutzt wird. In Peking etwa wurde beim diesjährigen internationalen Kongress für TCM eine mit schäumender, trüber Flüssigkeit gefüllte Infusionsflasche mit der Aufschrift „Aidscure” ausgestellt. In einem Land, das bis vor kurzer Zeit noch behauptet hatte, es gäbe diese Erkrankung in China nicht, stellt das wohl eine beginnende Sensibilisierung für das Problem dar.

Die Beschleunigung dieses Prozesses ist aber auch durch eine Verkürzung der Geltungsdauer von Wissen repräsentiert. Die Bibliotheken sind übervoll mit wissenschaftlicher Information, unüberschaubar, nur in sehr engen Bereichen von Spezialisten auch operational nutzbar. In Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Erwartung wird dieses Wissen also auch obsolet, gerät in Vergessenheit und wird die Forderung nach Neuem aufrecht erhalten.

Der im Westen allerorts anzutreffende Wunsch, dass die neuesten Untersuchungsverfahren zur Anwendung kommen, oder das neueste Medikament verordnet wird, entspricht einer Erwartungshaltung, die aber auch einem ungebrochenen Fortschrittsglauben entspringt, der von der Industrie in gleicher Weise bedient wird, wie von den Protagonisten der wissenschaftlichen Medizin. Die Mitglieder der Gesellschaft sprechen dieser Medizin demnach die Fähigkeit zu, dass sie jene Defizite behebt, die der Einzelne, bedingt durch die gesellschaftliche Entwicklung (wovon die Medizin ein Teilbereich ist), erfährt. Diese Auffassung stellt durchaus nicht in Frage, dass es Krankheiten, im Sinne pathologischer Abläufe per se gibt. Hereditäre, degenerative, traumatisch oder infektiös erworbene Erkrankungen, Tumore, kommen überall auf der Welt vor. Ob sie über den Krankheitswert für das Individuum hinaus aber auch gesellschaftliche Relevanz haben, bedeutet einen großen Unterschied. Ein grippaler Infekt ist in der westlichen Welt eine banale Erkrankung. Für eine von der westlichen Zivilisation isolierte Gesellschaft kann er die Ausrottung bedeuten, wie viele historische Beispiele gezeigt haben.

Damit wird auch deutlich, dass jede Gesellschaft ihre eigenen Chiffren der Kompetenz generiert, die Systeme etablieren und / oder von ihren Mitgliedern erworben werden können. Der Erwerb solcher kompetenzvermittelnder Legitimation, ist gleichzeitig mit gesellschaftlichem Ansehen verbunden. Allerdings bedarf es eines Korrektivs, eines Instrumentariums, das verhindert, dass gesellschaftliches Ansehen für sich alleine steht und Autoritäten ohne nachweisliche Kompetenz ihren Schein wahren können. Für die derart postulierte Kompetenz gilt nach wie vor der Anspruch, dass sie einem Anforderungsprofil gerecht werden muss, also durch Bewährung Bestätigung erfährt. Eine sich im Wandel befindende Gesellschaft wird demnach auch ihre Anforderungsprofile modifizieren, was zur Folge hat, dass auch die entsprechenden Legitimationen sich wandelnden Kriterien unterworfen sind. Dadurch wird ein Anpassungsprozess gewährleistet, der auf reale Bedürfnisse Rücksicht nimmt und die Erfordernisse zum Erwerb kompetenzvermittelnder Legitimationen beeinflusst.

Anforderungsprofile

Während Legitimation methodisch abgesichert und von Autoritäten überwacht wird, gilt für Bewährung, dass sie sich in der Praxis erweisen muss. Bewährung heißt, einem Anforderungsprofil zu genügen. Gemeint ist hier nicht jene Anforderung, die ein Lernender zum Erwerb einer Legitimation erfüllen muss, sondern diejenige, an der sich praktisches Vermögen zeigt. Worin besteht nun ein solches Anforderungsprofil in der westlichen Medizin und durch welches Bezugssystem ist es bestimmt?

Ärztlich tätig darf nur sein, wer universitär ausgebildet ist und eine Approbation seines theoretischen Wissens und einen Praxisnachweis (klinische Ausbildung) besitzt.

Diagnostische Verfahren müssen den Kriterien der Wissenschaftlichkeit genügen, d.h. ihre Sensitivität und Spezifität müssen erwiesen sein. Die Toleranz gegenüber Invasivität und Risken der Methoden wird mit zunehmender Sicherheit der Verfahren gleichzeitig geringer. Die damit verbundenen Erwartungen nach hochtechnisierten aber schonenden Methoden führt auch dazu, dass Krankheitsbilder vermehrt dadurch definiert werden, was technologisch erfassbar wird. Die immer häufiger gelingende genotypische Definition von Krankheiten sei hier nur als Beispiel erwähnt. Gleiches gilt für nicht-invasive bildgebende Verfahren, die elementare Faktoren von Krankheitsbildern tatsächlich sichtbar machen. Die Darstellung von entzündlichen Prozessen oder Tumoren im MRT oder Funktionsuntersuchungen mittels PET mögen hier exemplarisch genannt werden.

Therapiemaßnahmen müssen hinsichtlich der Wahl ihrer Mittel einen Wirkungsnachweis vor ihrer Anwendung erbracht haben. Sie müssen in ihrer Effizienz vorhersagbar sein, zumindest als wahrscheinlich effizient gelten. Diese Forderung gilt jedoch nicht uneingeschränkt und bedingungslos. Es gilt in der westlichen Medizin durchaus als tolerabel, dass Therapieformen wie z. B. Knochenmarkstransplantationen letal enden können, ebenso, dass Chemotherapien bei Tumoren kein Garant für Heilung sind. Auch wird in Kauf genommen, dass die durchschnittliche Funktionsdauer einer transplantierten Niere etwa ein Jahr beträgt. Unter Einhaltung der Regeln, also bei informierter Zustimmung und unter kontrollierten Bedingungen ist auch die Erprobung von Substanzen, die therapeutisch wirksam sein sollen, am Menschen eine tolerierte, eigentlich sogar eingeforderte Vorgangsweise. Eingefordert deswegen, weil sie im Sinne der Schaffung von Evidenz rückwirkend auf die Inhalte der geforderten Qualifikationen und damit des Legitimationserwerbs wirksam wird.

Anforderungsprofile definieren demnach nicht nur das, was als wirksames Heilverfahren gilt, sondern gleichzeitig auch die Toleranz demgegenüber, was trotz negativer Auswirkung in zulässiger Weise, also lege artis angewandt wird. Dieses Prinzip gilt auch für die TCM in ihrem ursprünglichen Bezugsrahmen. Nur gelten dort andere Normen, die gemäß der vorherrschenden Weltanschauung und des Menschenbildes widerspruchsfrei sind. Bewährung bedeutet in beiden Systemen nicht ausschließlich Heilung oder Erreichung eines definierten Therapiezieles, sie kann auch darin bestehen, dass Verfahren nach gültigen Regeln angewandt werden. In Konsequenz dessen wird sich auch die Akzeptanz eines medizinischen Systems nicht ausschließlich daran orientieren, ob es einem auf Individuen bezogenen Gesundheitsbegriff genügt, also Heilung und Wohlbefinden bewirkt, sondern daran, ob es der Erwartungshaltung der Gesellschaft hinsichtlich seiner Legitimation entspricht. Das heißt, medizinische Verfahren sind nur in dem Maße wirksam, indem sie von der Gesellschaft als wirksam angenommen werden. Sie spiegelt damit auch die immanente Auffassung der Stellung des Kranken und des Gesunden in ihr selbst wider. Die in der westlichen Gesellschaft bestehende Paradoxie, dass gesellschaftlich akzeptiert wird, was der Einzelne für sich nicht als ausreichend ansieht, mag einen bedeutenden Unterschied zwischen dem westlichen und dem chinesischen System ausmachen. Sie kann als treibende Kraft einer sich fortwährend erneuernden, zunehmend partikulären Problemen zugewandten Medizin angesehen werden. Demgegenüber ist die TCM vergleichsweise statisch, universeller in ihrer holistischen Argumentation und damit auch universeller anwendbar.

Der paradoxen Erfahrung der westlichen Welt wirkt die wissenschaftliche Methodik entgegen. Sie dient dazu, Verfahren zu entwickeln, die als Reaktion auf die Intoleranzen des Individuums, sein persönliches Leiden betreffend, Abhilfe schaffen.

Ihr Erfolg besteht also wesentlich darin, gesellschaftlich getragene Toleranzgrenzen zu verschieben, oder überhaupt hinfällig zu machen und damit gleichzeitig die Bedürfnisse des Individuums, entsprechend seinem aktuellen Begriff von Gesundheit und Wohlbefinden zu erfüllen. Sie fördert damit wiederum die Entwicklung einer Erwartungshaltung an das medizinische System, die autoritätsstabilisierend wirkt und die Eigenverantwortlichkeit des Patienten reduziert. Kritik an der Wirksamkeit eines Medizinischen Verfahrens ist demnach immer auch Systemkritik.

Dieses vereinfachende Modell lässt zunächst außer Acht, dass in der realen Welt Anforderungsprofile oft wesentlich komplexer sind, als dass sie aufgrund singulärer Qualifikationen erfüllbar wären. Die Bewährung von Legitimation schließt oft auch eine Vielzahl spezifischer Fähigkeiten mit ein, die nicht in Institutionen erworben werden können oder vom Einzelnen geleistet werden können.

Kulturspezifische Merkmale

Wenn man der Auffassung folgt, dass Kompetenz nicht als individuelles Vermögen anzusehen ist, sondern sie in einem Zusammenhang von kompetenzvermittelnder Legitimation und spezifischen Anforderungsprofilen sieht, an denen diese ihre Bewährung leisten muss, so macht es Sinn, danach zu fragen, worin die kulturspezifischen Merkmale dieser Elemente bestehen.

Beide Gesellschaften, die chinesische wie auch die westliche sind ausdifferenziert und hoch entwickelt. In beiden Gesellschaften haben sich Systeme entwickelt, in denen institutionalisierte Autoritäten darüber entscheiden, nach welchen Kriterien Legitimationen erworben werden können. Aufgrund der unterschiedlichen historischen Entwicklungen bestehen aber beträchtliche Unterschiede im Umgang mit und der Absicherung von Autoritäten, was sowohl in den grundsätzlich divergenten politischen Systemen als auch in der Haltung der Gesellschaft ihnen gegenüber ihren Niederschlag findet. Dennoch besteht weitgehende Übereinstimmung darin, dass - selbst bei unterschiedlichen Sozialkodizes - akademische Ausbildungswege, universitäre Hierarchien, Zugehörigkeit zu Institutionen, Spezialisierungen und Erfahrung, um nur Einiges zu nennen, mit hohem Ansehen verbunden sind. Trotz dieser Analogien darf nicht übersehen werden, dass es gerade die zugrunde liegenden Paradigmen und Inhalte der medizinischen Systeme sind, die darauf Einfluss nehmen, welche Kriterien für den Erwerb einer Legitimation bestimmend sind. Eine Ausbildung in TCM kann nicht gleichgesetzt werden mit einer in westlicher, wissenschaftlich orientierter „Schulmedizin” und vice versa. Das ist durchaus nicht wertend gemeint. Jedes medizinische System ist in seinen Paradigmen auch ein Abbild der gesellschaftlichen Entwicklungen und reagiert auf die jeweils gültigen Anforderungen ihrer Mitglieder.

Es sind in einer wissenschaftlich orientierten Medizin, in der es heißt, das jeweils aktuell gültige Wissen erneuere sich etwa alle fünf Jahre, viel flexiblere Kriterien gefordert, als in einer traditionell orientierten, die Erfahrungszuwachs nicht ausschließt, diesen aber wesentlich mehr als einen individuellen ansieht, denn als einen, der aufgrund der wissenschaftlichen Methoden immer auch Erneuerung bedeutet. Während ein traditionell denkender Arzt als individueller Träger eines kollektiven Gedächtnisses angesehen werden kann, dessen Aufgabe darin besteht, - gegen das Vergessen - möglichst unfassend historisches Wissen in sich zu tragen, gilt für den wissenschaftlich orientierten die Verpflichtung, die Erneuerung seines Wissens zu pflegen. Vervollkommnung auf der einen Seite steht also Aktualisierung auf der anderen gegenüber. Wer viel weiß ist besser, als derjenige, der wenig weiß, ist hier gefordert. Wer Neues weiß ist besser, als wer überholtes Wissen repräsentiert, ist die Prämisse der westlichen Welt. Selbstverständlich wird damit auch bestimmt, wie und vor allem welches Wissen akquiriert werden darf. Die traditionell chinesische Auffassung wird primär jenem Wissen positiv gegenüber stehen, das Bestehendes bestätigt, es ergänzt und erweitert, solange es in Einklang mit den Grundprinzipien der TCM steht. Die wissenschaftlich orientierte Medizin akzeptiert auch und vor allem solches Wissen, das eine Erneuerung darstellt, jedenfalls dann, wenn es in Einklang mit den geltenden methodischen Prinzipien generiert wurde.

Der Dominanz methodologischer Regeln in der naturwissenschaftlichen Medizin des Westens steht also ein weltanschaulich orientiertes Denken traditionell chinesisch arbeitender Ärzte gegenüber. Beide Modelle haben ihre historischen Wurzeln in den gesellschaftlichen Entwicklungen ihrer Bezugs- und Geltungssysteme. Auch wenn sie sich zum Teil in Analogie des Mittels bedienen, ihre kompetenzvermittelnden Legitimationen durch Autoritäten abzusichern und damit sowohl Sozialkodizes bedienen, als auch die Bewährung ihrer Anschauungen implementieren, so sehr unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer weltanschaulichen und methodischen Prinzipien, die dadurch repräsentiert werden.

Integration als Transformationsprozess

Wenn eingangs davon die Rede war, dass es gegenwärtig ein Bemühen um gegenseitige Akzeptanz und in weiterer Folge auch Etablierung beider medizinischen Systeme gibt, so muss darauf verwiesen werden, dass mit diesem Prozess auch eine Transformation einhergeht. Es genügt nicht, dass westliche Ärzte unter Berufung auf in China Erlerntes, oder Berufung auf historische Quellen, quasi einen Schulenstreit abhandeln. Ebenso wenig sollte die Integration chinesischer, mit TCM vertrauter Ärzte in westliche Institutionen mit einer Integration der TCM verwechselt werden. Die Anforderungen an beide Systeme, in Gesellschaften, deren eigene historische Entwicklungen nicht auch an der Entwicklung des zu integrierenden Medizinsystems Einfluss nahmen, integrierbar zu sein, ist jeweils eher von gesellschaftsspezifischen Faktoren abhängig, denn von den Besonderheiten der westlichen oder traditionell chinesischen Medizin selbst, soweit dies überhaupt getrennt gesehen werden kann. Keinesfalls ist aber anzunehmen, dass sie jemals nur annähernd jene Akzeptanz - und ich behaupte, auch Wirkung - erlangen werden, wie in ihren Ursprungsländern, wenn sie nicht auch die gesellschaftlichen Kriterien dafür erfüllen. Diese Akzeptanz bildet sich in viel geringerem Maße darin ab, dass wissenschaftliche Medizin und TCM miteinander konkurrieren würden, als darin, dass sie unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft zur Verfügung stehen. In China ist TCM eine billige - weil allgemein anerkannte -, breiten Bevölkerungsteilen zu Gute kommende Methode, im Westen gilt sie als exklusive Leistung, die nur in geringem Ausmaß in einigen Ländern, bei ausgewählten Indikationen vom Sozialsystem mitgetragen wird. In umgekehrter Weise verhält es sich in China mit der westlichen Medizin. Ökonomisierung ist dabei nur vordergründig integrativ wirksam. Die Vermarktung exklusiven, exotischen know-hows, gleichwie hochtechnisierter Verfahren wird zwar von beiden Seiten betrieben, dient aber entweder als Prestigeobjekt oder lediglich einer Erweiterung des Angebotes in einem Gesundheitsmarkt, der nach ökonomischen Prinzipien funktioniert und mit den Inhalten beider medizinischen Systeme nichts gemeinsam hat.

Wenn also der Versuch einer Integration daran gemessen werden soll, dass gesellschaftliche Akzeptanz und breite Verfügbarkeit Kriterien für ein Gelingen darstellen, ohne lediglich Nachfrage im ökonomischen Sinne zu erzeugen, worin besteht dann der eigentliche Prozess der Transformation?

Das eingangs Gesagte unterstreicht, dass die geforderten Qualifikationen, die Absicherung von Legitimationen und die Kriterien zu ihrer Überprüfung kulturspezifischen Bedingungen unterliegen. Weiter wurde behauptet, dass der Transfer von fachspezifischem Wissen, die Übernahme von Methoden und Anwendungsprinzipien der TCM, ja selbst die Berufung auf weltanschauliche Inhalte alleine noch nicht integrativ wirksam seien. Für die Etablierung der TCM in der westlichen Welt bedeutet Integration, dass sie die kulturspezifischen Kriterien zu ihrer Bewertung erfüllen muss. Transformation besteht demnach nicht in einer Umdeutung der Inhalte, sondern darin, eine Bewertung nach wissenschaftlichen Normen möglich zu machen. Vorraussetzung dafür ist Transparenz und Nachvollziehbarkeit sowohl im Qualifikations- wie auch im Legitimationserwerb und Überprüfbarkeit der Verfahren und der Ergebnisse ihrer Anwendung.

Das heißt zunächst vor allem, die Inhalte der TCM dürfen nicht als „Geheimwissen” einigen wenigen Eingeweihten, aus nicht nachvollziehbaren Quellen verfügbar sein. Das heißt auch, Legitimationen müssen innerhalb autorisierter Institutionen erworben werden. Von besonderer Bedeutung dabei ist allerdings, dass es sich nicht um selbsternannte Autoritäten handelt, sondern um solche, die der Bedingung nachkommen, eine Überprüfung der Verfahren und Anwendungsergebnisse der TCM zu leisten. Erst damit ist diesen Autoritäten jene Akzeptanz in der westlichen Welt gewährt, die sie dazu ermächtigt, kompetenzvermittelnde Legitimationen zu erteilen. Die Forderung nach kontrollierten, reproduzierbaren Studien ist hier genauso legitim, wie die Anwendung eines peer-review systems bei Veröffentlichung der Ergebnisse.

Die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Strukturen und die Anwendung von Bewertungskriterien, wie sie in der wissenschaftlichen Medizin etabliert sind, sind also die Vorraussetzung für eine Etablierung der TCM in der westlichen Welt. Damit ist nicht ausschließlich die Etablierung neuer Strukturen, wie z. B. Fachgesellschaften gemeint. Es kann durchaus auch auf bereits vorhandene Strukturen, wie z. B. den universitären Bereich oder etablierte Fachjournale zurückgegriffen werden. Auch können allgemein anerkannte, übergeordnete Instanzen, wie die WHO, Bewertungen von bestehenden Institutionen vornehmen.

Dass damit nicht notwendiger Weise ein Verlust der grundlegenden Prinzipien der TCM einhergeht, wird daran deutlich, dass nicht ein Wandel der Anschauungen und Methoden gefordert ist, sondern die geltenden gesellschaftlich akzeptierten Normen zur Anwendung kommen sollen, also der Bewertungsrahmen transformiert wird. Transformation des Bewertungsrahmens heißt natürlich nicht, dass er einfach mit seinen bestehenden, für die wissenschaftliche Medizin gültigen Inhalten, also seinen Werten übernommen wird, sondern, dass für die TCM die gleichen Verfahren und Instrumente zur Anwendung kommen müssen, um eine gesellschaftliche Akzeptanz ihrer spezifischen Werte zu erwirken.

Kompetenz, wie sie hier verstanden wird, als die Fähigkeit, Legitimation und Bewährung in einen sich wechselseitig beeinflussenden Zusammenhang zu stellen, ist also eigentlich die Kompetenz des Systems, dies zu leisten. Bezogen auf den Einzelnen und der an ihn gerichteten Forderung nach Kompetenz, bedeutet es in erster Linie die Fähigkeit, diese Leistung des Systems mit zu tragen und nicht als - wodurch auch immer motiviertes - Einzelinteresse, für sich zu beanspruchen. Eine Assimilation von einzelnen westlichen Vertretern der TCM in der Weise, dass sie, entsprechend den Normen des traditionellen Systems, Wissen kumulieren, und den Status des Wissenden in mehr oder weniger geschlossenen Zirkeln ihrer Fachgesellschaften kultivieren, macht wenig Sinn. Es dient nicht der Integration der TCM in die westliche Gesellschaft, sondern lediglich der Anerkennung des einzelnen Gelehrten. Sie benötigt dafür aber Ärzte, die in beiden Systemen ausreichend Kenntnisse haben und die Bereitschaft besitzen, sich in den Dienst dieser Sache zu stellen. In Anbetracht der grundlegenden Unterschiede in den Denkungsweisen und Begriffswelten beider Gesellschaften ist das eine Herausforderung, die neben umfassendem Wissen und methodischer Disziplin, in hohem Maße auch kritisches Bewusstsein erfordert.

Weiterführende Literatur

Dr. Erhard Suess

Universitätsklinik für Neurologie

Währinger Gürtel 18-20

A-1090 Wien, Österreich

eMail: erhard.suess@univie.ac.at