intensiv 2001; 9(2): 90-91
DOI: 10.1055/s-2001-11729
Recht
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Pflicht beider Elternteile in einem Heileingriff bei einem Kind

Werner Schell
  • Neuss
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Publication Date:
29 April 2004 (online)

Bei Kindern und Jugendlichen ist zur Aufnahme und Fortführung einer Behandlung grundsätzlich die nach Aufklärung erteilte Einwilligung der Sorgeberechtigten - das sind in der Regel beide Eltern - erforderlich.

Für die Frage der Einwilligungsfähigkeit des Kindes und Jugendlichen ist allerdings nicht die Volljährigkeitsgrenze entscheidend, sondern allein die so genannte natürliche Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit, die vom Arzt von Fall zu Fall zu beurteilen ist. Sie ist in der Regel mit etwa 16 Jahren gegeben. Jugendliche sind daher selbst zur Erteilung der Einwilligung berechtigt, wenn sie in der Lage sind, Bedeutung und Tragweite der ärztlichen Behandlung beziehungsweise die Folgen eines Unterlassens der Behandlung zu verstehen. Dem Recht der Eltern, die Sorge für ihr Kind dahingehend auszuüben, dass sie einer Behandlung zustimmen oder sie ablehnen, sind also durch die Einwilligungsfähigkeit des minderjährigen Patienten Grenzen gezogen.1

Es war nun im Zusammenhang mit der operativen Behandlung eines unstreitig selbst nicht einwilligungsfähigen 7-jährigen Kindes die Frage aufgetreten, ob die allein von der Mutter gegebene Einwilligung zur Operation rechtlich ausreichte oder ob auch der Vater zwingend hätte mit zustimmen müssen. Angesichts der unterschiedlichen Einschätzung kam es zu einem Rechtsstreit, in dem schließlich der Bundesgerichtshof (BGB) abschließend entscheiden musste.

Der Fall: Ein 1977 geborenes Kind leidet an Morbus Down (Mongolismus) und hat einen angeborenen Herzfehler. Es war Anfang Februar 1984 zwischen einem in Anspruch genommenen Kinderkardiologen und den Eltern des Kindes abgesprochen worden, eine Gefäßoperation nach „Blalock-Taussig” und einige Jahre später dann eine für erforderlich erachtete größere[1]Operation zur Korrektur „totaler AV-Kanal” durchführen zu lassen. Danach wurde aber im Rahmen einer ärztlichen Beratung zwischen dem Kinderkardiologen und dem für die Operation zuständigen Chefarzt der Operationsplan geändert, die sofortige Korrekturoperation „totaler AV-Kanal” wurde medizinisch für richtiger erachtet. Am 3.5.1984 bestellte die Klinik im Auftrag des Operateurs das Kind zu einer Operation mit Hilfe der Herz-Lungen-Maschine auf den 4.6.1984 in die Klinik ein. Am 5.6.1984 besprach der Operateur mit der Mutter des Kindes die auf den 8.6.1984 angesetzte Operation. Die Mutter unterzeichnete dabei eine Einwilligungserklärung, in der handschriftlicfh die Operation als „totaler AV-Kanal mit Pulmonalstenose” bezeichnet ist. Die vorgenommene Operation am Herzen des Kindes verlief erfolgreich und hatte für das Kind keine nachteiligen Folgen. Das Kind verlangte gleichwohl die Zahlung eines Schmerzensgeldes und die Feststellung einer Ersatzpflicht für zukünftige Schäden aus der Operation am 8.6.1984. Dabei wurde vorgetragen, die Eltern seien nicht darüber informiert worden, dass am 8.6.1984 nicht die geplante kleinere Operation, sondern die größere Korrekturoperation vorgenommen werden sollte. Das Fehlen der Einwilligung des Vaters mache die Einwilligung der Mutter in die Operation insgesamt unwirksam. Das LG wies die Klage ab. Die Berufung des Kindes hatte vor dem OLG (Hamm) keinen Erfolg. Die zugelassene Revision, mit der das Kind seinen abgewiesenen Feststellungsantrag hinsichtlich der materiellen Schäden weiterverfolgte, führte mit Urteil des BGH vom 28.6.1988 - VI ZR 288/87 - zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache (Quelle: MDR, Heft 11/1988, S. 949 f.; JZ, Heft 2/1989, S. 93 ff.[2] ; AHRS, Nr. 0510/7 und 1025/13; Roßbruch, R. „Handbuch des Pflegerechts. Luchterhand, Neuwied, Gliederungs-Nr. C.57,5).

Der BGH begründete seine Entscheidung wie folgt: Das angefochtene Urteil halte einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Die Einwilligung nur der Mutter des Kindes zu der Operation habe nicht ausgereicht, um den Eingriff zu rechtfertigen. Zur Wirksamkeit der Einwilligung habe es vielmehr auch der Einwilligung des Vaters des Kindes bedurft. Da dieser in die Operation am 8.6.1984 nicht eingewilligt habe, sei der Eingriff rechtswidrig. Das könne, da auch ein Verschulden des Operateurs anzunehmen sei, eine Ersatzpflicht für materielle Schäden des Kindes auslösen (§ 276 BGB). Die elterliche Sorge für das Kind habe beiden Elternteilen gemeinsam zugestanden. § 1627 BGB setze das voraus. Wenn es um die ärztliche Behandlung eines minderjährigen Kindes gehe, könne typischerweise davon ausgegangen werden, dass der mit dem Kind beim Arzt oder im Krankenhaus vorsprechende Elternteil aufgrund einer allgemeinen Funktionsaufteilung zwischen den Eltern auf diesem Teilgebiet der Personensorge oder einer konkreten Absprache ermächtigt sei, für den Abwesenden die erforderliche Einwilligung in ärztliche Heileingriffe nach Beratung durch den Arzt mitzuerteilen. Der Arzt werde in Grenzen auf eine solche Ermächtigung vertrauen dürfen, solange ihm keine entgegenstehenden Umstände bekannt seien. Sicherlich widerspräche es dem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen dem Arzt und den Sorgeberechtigten eines behandlungsbedürftigen Kindes, stets den Nachweis einer irgendwie gearteten Ermächtigung oder Einverständniserklärung des nicht anwesenden Elternteiles beim Arzt zu verlangen. Dementsprechend werde in „Routinefällen”, wenn es etwa um die Behandlung leichterer Erkrankungen und Verletzungen gehe, der Arzt sich im Allgemeinen ungefragt auf die Ermächtigung des erschienenen Elternteiles zum Handeln für den anderen verlassen dürfen. In anderen Fällen, in denen es um ärztliche Eingriffe schwererer Art mit nicht unbedeutenden Risiken gehe, werde sich der Arzt darüber hinaus vergewissern müssen, ob der erschienene Elternteil die beschriebene Ermächtigung des anderen habe und wie weit diese reiche; er werde aber, solange dem nichts entgegenstehe, auf eine wahrheitsgemäße Auskunft des erschienenen Elternteils vertrauen dürfen. Darüber hinaus könne es angebracht sein, auf den erschienenen Elternteil dahin einzuwirken, die vorgesehenen ärztlichen Eingriffe und deren Chancen und Risiken noch einmal mit dem anderen Elternteil zu besprechen. Gehe es allerdings, wie im Streitfall, um schwierige und weitreichende Entscheidungen über die Behandlung des Kindes, die mit erheblichen Risiken für das Kind verbunden seien, dann liege eine Ermächtigung des einen Elternteils zur Einwilligung in ärztliche Eingriffe bei dem Kind durch den anderen nicht von vornherein nahe. Eine andere rechtliche Beurteilung würde die Berechtigung und Verpflichtung des anderen Elternteiles, die Personensorge für das Kind gerade in besonders wichtigen Angelegenheiten mit wahrzunehmen, auch unterlaufen. Ihm müsse die Möglichkeit gegeben werden, darauf Einfluss zu nehmen, wie die Entscheidung für die ärztliche Behandlung des Kindes ausfalle. Deshalb müsse sich der Arzt in einem solchen Fall die Gewissheit verschaffen, dass der nicht erschienene Elternteil mit der vorgesehenen Behandlung des Kindes einverstanden sei .

Fußnoten

1 Vgl. hierzu „Rechtliche Probleme bei der Behandlung bösartiger Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen” in Schell, W. „Pflege und Pflege - Ein Rechtsalmanach für die Pflegeberufe”. Band I 1995. Brigitte Kunz Verlag, Hagen 1995.

2 Das Urteil des BGH wird von Prof. Dr. D. Giesen vorgestellt und mit interessanten (zustimmenden) Anmerkungen erläutert. Dabei geht Giesen u.a. auf das in Art. 2 Abs. 1 GG verankerte Selbstbestimmungsrecht und das in diesem Zusammenhang relevante Sorgerecht der Eltern ein. Er stellt dabei (für die praktische Handhabung von Problemfällen) auch heraus, dass es u.U. zweckmmäßig oder sogar zwingend sein kann, das zuständige Vormundschaftsgericht in den Entscheidungsprozess einzubeziehen. Zum Themenkreis „Behandlung von Minderjährigen und Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts” wird u.a. auf folgende Veröffentlichungen aufmerksam gemacht: Kern, B.-R.: „Fremdbestimmung bei der Einwilligung in ärztliche Eingriffe”, NJW, Heft 12/1994, S. 753 ff.; Schell, W. „Rechtliche Probleme bei der Behandlung bösartiger Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen” in „Pflege und Recht”. Brigitte Kunz Verlag, Hagen 1995; Bruns/Andreas/Debong: „Behandlung von Minderjährigen”, „Die Schwester/Der Pfleger”, Heft 8/1998, S. 680 ff.

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