Zusammenfassung:
Unter negativen Wahnidentitäten verstehen wir einen Typus psychotischen Wandels der
Selbst-Identifikation bei Schizophrenen. Zentral ist dabei die Vorstellung des Patienten
eine Personifikation des Bösen zu sein. In einer transkulturellen Vergleichsstudie
fanden sich in einem österreichischen Sample 13 (10,2 %) Patienten mit einer negativen
Wahnidentität. Die hier vorliegende Untersuchung beruht auf detaillierten Interviews
und Auswertungen der Krankengeschichten dieser Personengruppe. Ziel ist der Entwurf
einer Typologie der Wahnidentitäten, mit besonderer Berücksichtigung der Phänomenologie
der negativ besetzten Identifizierungen. Ein weiterer Aspekt unserer Untersuchung
richtet sich auf Erklärungsmuster, die die Patienten für ihre veränderte Verfassung
fanden, sowie die Suche nach einer pathogenetischen Übergangsreihe und die funktionale
Wertigkeit der neuen Identität. Negative Wahnidentitäten basieren nach unserer Einschätzung
auf einer ängstlich-gedrückten Grundstimmung, auf Ich-Bewußtseinsstörungen, sowie
auf das Zusammentreffen von Größen- und Schuldideen. Die Hälfte der Untersuchten gab
an, die Reinkarnation einer bösen biblischen Gestalt zu sein, 3 Patienten hielten
sich für besessen und zwei weitere schrieben ihre neu entdeckte Identität der Vererbung
zu. Bei unterschiedlichen situativen Ausgangslagen zeigte sich bei allen Patienten
eine gemeinsame pathogenetische Übergangsreihe. Vom funktionellen Blickpunkt aus betrachtet
scheint die negative Wahnidentität einen gewissen Schutz vor einem weitergehenden
Strukturzerfall, sowie eine Entlastung von Schuldgefühlen zu ermöglichen, dies jedoch
um den Preis von Strukturverformungen mit dynamischer Entleerung.
With schizophrenics negative delusional identities constitute one way of psychotic
alteration of self-identification. The main notion is of being a personification of
evil. In a cross-cultural comparison study we found in the Austrian sample 13 patients
with negative delusional identities. Our present study is based on detailed interviews
and evaluations of medical records of this sample. Our aim was to draft a typology
of delusional identities as a basic requirement for a phenomenology of the negative
manifestations. Further investigative goals were the efforts of self-explanation undertaken
by the patients with regard to their altered condition, the search for a pathogenetic
transitional series and the functional value of the new identities. According to our
estimation the basic mood on which negative delusional identities are founded is timid
and dejected. Further basic requirements are a disturbed conscience of the ego and
the concurrence of grandeur and guilt ideas. Half of our patients imagined to be reincarnations
of negative biblical figures, three regarded themselves as possessed, two attributed
their identities to heredity. Despite of diverse situative points of departure a common
pathogenetic transitional series emerged for all patients. From a functional point
of view a negative delusional identity seems to offer some kind of protection from
further structural disintegration as well as relief from feelings of guilt - all that
however at the price of structural deformations with dynamic depletion.
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Dr. Thomas Stompe
Universitätsklinik für Psychiatrie Wien,
Klinische Abteilung für Sozialpsychiatrie und Evaluationsforschung
Währinger Gür18 - 20
1090 Wien
Österreich