Informationen aus Orthodontie & Kieferorthopädie 2018; 50(01): 63-65
DOI: 10.1055/s-0044-102088
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Der posteriore Kreuzbiss – wann sollte man ihn behandeln und welche Konsequenzen können bei Nichtbehandlung auftreten?

Posterior Crossbite – Timing of Treatment and Consequences of Non-Treatment
Elisabeth Astl
1   Bereich für Kieferorthopädie, Universitätszahnklinik Wien, Österreich
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Publication Date:
20 March 2018 (online)

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Der posteriore Kreuzbiss tritt mit einer Prävalenz von 4–23% auf und ist damit eine der häufigsten Malokklusionen im Kindesalter. Großteils handelt es sich dabei um unilaterale Kreuzbisse mit Zwangsbissführung und damit Mittellinienabweichung des Unterkiefers. Ursächlich, neben erblichen Faktoren, sind Lutschhabits und eine reduzierte Nasenatmung, wie sie bei vergrößerten Tonsillen und Polypen auftreten kann. Unterscheidet man die verschiedenen Phasen der Gebissentwicklung, erkennt man eine höhere Kreuzbissrate im Milchgebiss als im Wechselgebiss und bleibenden Gebiss. Daraus lässt sich ableiten, dass sich Kreuzbisse im Milchgebiss spontan korrigieren können [1] [2] [3] [4] [5].

Therapeutisch empfehlenswert ist im Milchgebiss, bzw. sobald der Patient mit Kreuzbiss vorstellig wird, die Milchzähne einzuschleifen. Dabei sollte man einen etwaigen Zwangsbiss beseitigen, der meist auf den Milcheckzähnen besteht. Interessant ist, dass die Erfolgsrate der Kreuzbisskorrektur durch das Beschleifen in etwa gleich hoch ist wie die spontane Korrektur ohne Intervention. Sollte der Kreuzbiss weiterhin bestehen, ist der nächste Schritt (meist in der frühen Wechselgebissphase), den Oberkiefer in der Transversalen zu erweitern. Natürlich muss vorher abgeklärt werden, ob ein transversal schmaler Oberkiefer für die Kreuzbissproblematik verantwortlich ist [3]. Bei einer Verschiebung der Kreuzbissüberstellung in eine spätere Phase der Gebissentwicklung ist die Behandlung komplexer und langwieriger. Auch ist die transversale Expansion des Oberkiefers aufgrund des zunehmenden Verknöcherungsgrades der Gaumennaht erschwert und bedarf in bestimmten Fällen einer chirurgischen Intervention ([Tab. 1]) [6].

Tab. 1 Behandlungsschema bei Kreuzbiss mit transversaler Diskrepanz des Oberkiefers.

Gebissphase

Therapie

Milchgebiss

Einschleifen der Milchzähne; insbesondere Beseitigung einer Zwangsführung

(frühes) Wechselgebiss

Transversale Erweiterung des Oberkiefers (zum Beispiel mit einer zementierten Kappenschiene)

bleibendes Gebiss

eventuell zusätzliche chirurgische Intervention notwendig

Bei zahngetragenen Geräten wird in der Literatur oft eine geringfügige Überexpansion empfohlen. Die Kronen der Oberkieferzähne werden während der Erweiterung etwas nach bukkal gekippt und richten sich nach Erweiterung wieder auf [7] [8].

Um ein Rezidiv zu vermeiden, muss nach abgeschlossener Expansion retiniert werden. Hierfür eignet sich, als kostengünstige Variante, das eigentliche Expansionsgerät. Idealerweise belässt man ein zementiertes Gerät noch 6 Monate nach Abschluss der Expansion fix im Mund des Patienten und lässt es danach für 6 Monate abnehmbar weiterhin tragen. Damit ist man im ersten halben Jahr unabhängig von der Patientenmitarbeit. Die häufigsten Rezidivraten sieht man bei Compliance-abhängigen, herausnehmbaren Retentionsgeräten [7 (Abb. 1234)].

Durch transversale Erweiterung des Oberkiefers erreichen die Kreuzbisspatienten die altersentsprechenden Normwerte der Zahnbogenbreite und entwickeln sich danach entsprechend dieser Norm weiter [9].

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Abb. 1 Patientin mit Kreuzbiss rechts und Mittellinienverschiebung im Milchgebiss.
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Abb. 2 Ansicht von rechts.
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Abb. 3 Da das Einschleifen nicht zum gewünscht Erfolg führte, wurde mittels einer Kappenschiene transversal erweitert.
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Abb. 4 Nach abgeschlossener Erweiterung: Die Patientin trägt die Kappenschiene abnehmbar als Retention weiterhin.

Doch nicht nur allein die einfachere und schnellere Überstellung im Milch- bzw. Wechselgebiss spricht für eine möglichst frühe Behandlung. Auch die negativen Effekte eines bestehenden Kreuzbisses auf die weitere Entwicklung und Funktion des stomatognathen Systems tragen zu dieser Empfehlung bei.

Insbesondere der einseitige posteriore Kreuzbiss kann zu Haltungsänderungen, einem Seitverschub des Unterkiefers und einem möglicherweise asymmetrischen Wachstum der skelettalen und muskulären Strukturen führen [10] [11]. Eine veränderte Position der Ober- und Unterkieferbezahnung ist mit einer im Seitvergleich veränderten Kondylus-Fossa-Relation verbunden. Diese kann wiederum zu einem asymmetrischen skelettalen Wachstum führen [10] [12].

Bei der Evaluierung der Muskelaktivitäten mittels EMG zeigt sich eine asymmetrische Aktivität bei Kreuzbisspatienten. Insbesondere im Musculus temporalis und Musculus masseter, vermutlich aufgrund des Unterkiefershifts und der veränderten Kauaktivität. Jedoch bestehen auch bei Patienten mit regelrechter Verzahnung Seitenunterschiede in der Muskelaktivität [10] [13]. Des Weiteren wird ein vermehrtes Auftreten von Kopfschmerzen beschrieben [14].

Die Kaukraft und damit Kauleistung bei Patienten mit posteriorem Kreuzbiss ist eingeschränkt [10]. Auch der Kauzyklus ist im Sinne eines „reverse chewing cycle“ auf der Seite des Kreuzbisses verändert. Das bedeutet, dass im Gegensatz zum physiologischen Kauakt, der Unterkiefer zuerst nach medial verschoben wird und danach nach lateral, um die maximale Interkuspidation zu erreichen. Auch die Kaugeschwindigkeit, die Größe der Kaubewegung und die Kraft sind vermindert [10] [15].

Einige Studien berichten von einem Zusammenhang zwischen Kreuzbiss und Diskusverlagerung des Kiefergelenkes und Knackphänomen. Das Risiko für eine Diskusverlagerung steigt um den Faktor 3 bei Kreuzbiss. Allerdings ist hier die Studienlage teilweise konträr. Bei früher Überstellung des Kreuzbisses während des Wachstums kann man davon ausgehen, dass das stomatognathe System weniger adaptieren muss und damit das Risiko einer späteren Diskusverlagerung vermindert werden kann. Bei Überstellung im Erwachsenenalter hat die skelettale Adaptation bereits stattgefunden, damit ist eine präventive Wirkung in diesen Fällen nicht garantiert [16] [17].

Untersuchungen zu temporomandibulärer Dysfunktion (TMD) und posteriorem Kreuzbiss kommen nicht zu eindeutigen Ergebnissen. So empfehlen einige Autoren eine frühe kieferorthopädische Therapie zur Prävention und definieren den posterioren Kreuzbiss als das wichtigste okklusale Merkmal im Zusammenhang mit TMD [16] [18]. Andere Autoren fanden keinen signifikanten Zusammenhang [16] [19].