ergopraxis 2018; 11(03): 36-38
DOI: 10.1055/s-0044-101642
Perspektiven
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Achtsamkeit im Arbeitsalltag – Gelassen durch den Tag

Ritva Grießig

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Publication Date:
02 March 2018 (online)

 

Der ergotherapeutische Arbeitsalltag verleitet dazu, ins Hamsterrad zu springen und sich um alle zu kümmern, nur nicht um sich selbst. Ergotherapeutin und Psychologin Ritva Grießig zeigt, wie man trotz Hausbesuch und Termintakt achtsam für die eigenen Bedürfnisse sein kann.


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Ritva Grießig ist Ergo-therapeutin, Psychologin und systemische Beraterin. Ihr beruflicher Fokus liegt auf der Konzeption und Evaluation gesundheitspräventiver Konzepte. Das Thema Achtsamkeit begleitet sie seit Langem: im beruflichen Umfeld, in der Beratung und im privaten Bereich. Ihr Fazit: Je mehr ich bei mir selbst bin und bleibe und umso besser ich meine Bedürfnisse und Grenzen wahr- und ernstnehme, desto zufriedener lebe ich.

Achtsamkeit ist ein aktuelles Thema. Vor allem durch die vermehrte Nutzung digitaler Medien und die ständige Verfügbarkeit im Alltag fühlen sich Menschen mehr und mehr gefordert, angespannt und in ihrer Freizeit in die Arbeit eingebunden. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, um für sich gut zu sorgen: von komplettem Verzicht aufs Smartphone bis hin zu gezielten Auszeiten.

All diese Möglichkeiten haben ihren Nutzen. Häufig scheitert die Nachhaltigkeit allerdings am Transfer in den Alltag. Gezielte Auszeiten sind wichtig und sollten auch im Alltag ihren Raum finden. Zwar entzerrt der generelle Verzicht auf digitale Medien den Alltag, ist jedoch in vielen Berufen mittlerweile nicht mehr praktikabel. Eine dreiwöchige Kur kann ein guter Anstoß in eine Veränderung im Alltag sein. Doch was tue ich, wenn mir danach niemand mehr mein Essen kocht, das Zimmer putzt und ich wieder auf Veränderungen in der Tagesstruktur flexibel reagieren muss?

Für mehr Bewusstheit

Achtsamkeit ist ein guter Ansatz, der sich problemlos in den Alltag integrieren lässt. Diese spezifische Aufmerksamkeit des menschlichen Bewusstseins ermöglicht es, jede momentane Erfahrung im Außen oder im inneren Erleben in erster Linie ohne Vorurteile und Wertung wahrzunehmen. So wächst das Verständnis und die Akzeptanz seiner selbst, und man entdeckt eigene Ressourcen. Die Geduld für die eigene Person erhöht sich, man findet einen sinnvollen Umgang mit negativen Emotionen, hat ein geringeres Stressempfinden und ist psychisch stabiler.

Je mehr Achtsamkeit ich entwickle, desto geringer werden unbewusste und automatisierte Reaktionen und desto selbstsicherer, adäquater und authentischer zeige ich mich also in meinem Handeln.


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Das besagt die Studienlage

Studien zeigen, dass die häufige Nutzung digitaler Medien, insbesondere die erhöhte Aufmerksamkeit auf das Senden und Empfangen von E-Mails und Social-Media-Nachrichten, Schlafstörungen, Stress oder Depressionen hervorbringen kann [4, 5, 7, 8]. Diese Form der Beschäftigung trägt damit weniger zur Entspannung des Menschen bei – Entspannung, die ein Organismus nach einem arbeitsreichen, stressigen Tag jedoch sehr nötig hat.

Studien zeigen auch, dass erhöhter und lang anhaltender Stress das Risiko von chronischen Krankheiten fördert [1, 2]. Allerdings – und das zeigen Studien ebenso – ist es möglich ein erhöhtes Stresslevel durch achtsamkeitsbasierte Übungen zu reduzieren [5, 6].

Tipps zur Umsetzung: Szenario 1

Ergotherapeutin (32 Jahre), verheiratet, 1 Kind, 35 h/Woche, arbeitet in einer Praxis in der Großstadt

06:15 Uhr Zeit zum Aufstehen

06:30 Uhr Kind wecken, anziehen, Brote schmieren, Tisch decken

06:55 Uhr gemeinsames Frühstück

07:15 Uhr Los geht es in die Schule und auf Arbeit.

08:15 Uhr der erste Klient – aufwachen, ankommen, sich einfinden
Nehmen Sie sich vor dem ersten Klienten fünf Minuten Zeit, um sich in der Praxis einzufinden. Schließen Sie zwei Minuten die Augen und tanken Sie, beispielsweise mit dem Fokus auf Ihre Atmung, Energie für den Tag.

09:00 Uhr Der zweite Klient kommt heute fünf Minuten später. Soll ich die Behandlungszeit verlängern und auf die Pause verzichten?
Um gar nicht erst Gewissensbisse zu bekommen, rechtliche Grundlagen klären und praxisinterne Absprachen beachten. Gute Absprachen sind eine Grundlage für stressfreies Arbeiten.

09:45 Uhr Die dritte Klientin hat heute sehr schlechte Laune und berichtet mir 35 Minuten von ihren Problemen mit der Schwiegertochter. Ich bin genervt von ihrer Einstellung, zeige das nicht, sondern nicke zustimmend.
Hören Sie zu, aber bewerten Sie nicht. Die Bewertung anderer erzeugt negative Gedanken und raubt Kraft. Die Bewertung hat außerdem einen großen Einfluss auf die aus der Situation resultierenden Gefühle und auf die Folgen der Situation für Ihren weiteren Alltag.

10:30 Uhr Die vierte Klientin kommt gut gelaunt. Die Einheit läuft reibungslos.
Nehmen Sie schöne Momente wahr und schätzen Sie diese wert. Das macht Sie als Person selbstwirksamer, die Momente einprägsamer und wirkt vorbeugend für nervenaufreibende Situationen.

11:15 Uhr Der fünfte Klient kommt pünktlich, ist gut gelaunt und macht wie immer seine Witze. Manche davon finde ich unangebracht und unangenehm, traue mich aber nicht, ihm Paroli zu bieten.
Grenzen sollten gesetzt werden, gerade auch im therapeutischen Geschehen, wo Sie Menschen nahekommen, sowohl körperlich als auch psychisch. Um sich davor zu schützen, dass Menschen Ihre Toleranzschwelle überschreiten, dürfen und müssen Sie klar formulieren, was für Sie ein „No Go“ ist. Bleiben Sie authentisch und stehen Sie zu Ihrer Grenze.

12:00 Uhr Mittagspause von 30 Minuten – gefühlt viel zu kurz, um zu essen, zu entspannen und einen kurzen Plausch mit den Kollegen zu halten
Wenn Ihnen Ihre Pausen zu kurz erscheinen, ist das völlig legitim. Strukturieren Sie sich Ihre Arbeit so, dass Sie zu ausreichenden Ruhephasen kommen, um am Tagesende nicht permanent ausgelaugt zu sein. Beispielsweise können zehn Minuten zusätzliche Pause, verbracht mit Meditation oder Autogenem Training, sehr beruhigend und ausgleichend wirken.

Weiter geht’s. Noch drei Klienten, bis der Arbeitstag geschafft ist.

14:00 Uhr Berichte schreiben. Das fiel mir schon immer schwer. Puh, ich quäle mich damit, bis ein Kollege meinen Unmut spürt und nachfragt. Er bietet mir an, mich beim Formulieren zu unterstützen. Ich bin dankbar für die Hilfe und frage mich, weshalb ich noch nicht eher darauf gekommen bin.
Genau! Fragen Sie um Hilfe. Nutzen Sie Ressourcen. Beispielsweise kann es sinnvoll sein, eine klare Struktur für Berichte der einzelnen Behandlungsverfahren auf dem Praxiscomputer zu erstellen und die Indikationen und deren Zielsetzungen dem Heilmittelkatalog klientenzentriert zu entnehmen.

16:30 Uhr Arbeitsende, jetzt heißt es Kind von der Schule abholen, gemeinsame Hausaufgaben machen, Wäsche waschen, Abendbrot mit der Familie, Kind ins Bett bringen …

20:00 Uhr Puh, geschafft. Feierabend! Und jetzt? Fernsehen schauen, im Internet surfen, E-Mails checken, Kurznachrichten schreiben, telefonieren. Oder: Babysitter und mit dem Partner ausgehen? Ist noch Kraft dafür?

Tipps zur Umsetzung: Szenario 2

Ergotherapeutin 29 Jahre, 40h/Woche, arbeitet in einer Praxis im ländlichen Bereich

06:45 Uhr Der Wecker klingelt, Zeit zum Aufstehen, ein kurzes Frühstück, alle Nachrichten und E-Mails checken und los zur Arbeit.
Wie wäre es, den Wecker fünf Minuten eher zu stellen – aufzuwachen, zu sich zu kommen, sich an die Bettkante zu setzen und mit der Frage zu starten: Was brauche ich heute, um entspannt durch den Tag zu gehen?

08:00 bis 11:30 Uhr Der erste Klient ein Hausbesuch bei einer älteren Dame, es folgen zwei weitere Klienten, jeweils 15 Minuten Fahrzeit liegt zwischen den Wohnungen. Auf dem Weg zum letzten Klienten schließt die Schranke – Mist, das bedeutet fünf Minuten Verspätung und anschließend fünf Minuten weniger Pause. Ärger steigt auf.
Wie wäre es, die Situation an der Schranke dafür zu nutzen, den Timer im Telefon auf zwei Minuten zu stellen, die Augen zu schließen und nur auf die Geräusche in der Umgebung zu achten?

11:40 Uhr angekommen in der Praxis

11:50 Uhr Die Klientin kommt etwas eher und würde gerne direkt drankommen, sie muss anschließend noch zum Friseur. Gewissensbisse und Blicke der Kollegen. Der Hunger ist noch da, und einfach mal nur in Ruhe auf dem Stuhl sitzen, täte auch ganz gut. O.k. – fünf Minuten eher können wir beginnen. Mist, die Pause verkürzt sich auf 15 Minuten. Die Frage „Wäre das nötig gewesen?“ drängt sich mir auf.
Überlegen Sie sich vorher, in welcher Verfassung Sie sich befinden und ob Ihre Kraftreserven es heute erlauben, anderen und deren Bedürfnissen Vorrang zu geben. Wenn ja, dann können Sie sich dafür entscheiden. Wenn nein, stellen Sie Ihre Bedürfnisse vor die der anderen. Es hat niemand etwas davon, wenn Sie genervt und unausgeglichen durch den Tag gehen.

11:55 Uhr
Wir beginnen mit der Behandlung, die Klientin hat heute ein enorm großes Redebedürfnis, und ich höre zu, zeige mich empathisch und einfühlend.

12:45 Uhr
Mein Magen knurrt. Jetzt schnell meinen mitgebrachten Kartoffelsalat essen und ein wenig Stille genießen. Nach circa sieben Minuten werde ich aus meinem genüsslichen Mittagspäuschen gerissen – es klingelt das Telefon. Eine Klientin meiner Kollegin sagt für heute Nachmittag ab und würde gerne bereits jetzt einen neuen Termin vereinbaren. Ich erkläre ihr, dass ich den Terminkalender meiner Kollegin gerade nicht einsehen kann. Stille. Und dann ein kurzes Seufzen am anderen Ende der Leitung. Ich bitte um Verständnis, versichere, das Anliegen weiterzuleiten, und verabschiede mich. Schließlich habe ich doch Pause.
Pause ist Pause und sollte auch genommen werden. Im Sommer beispielsweise auf der Bank vor der Praxis und im Winter in der Praxisküche. Eingehende Anrufe kann in der Zeit auch einmal der Anrufbeantworter annehmen. Machen Sie sich frei davon, zu jeder Zeit alles übernehmen zu müssen – vor allem nicht in Ihrer Pause.

Meine letzten zehn Minuten Pause verbringe ich damit, meine SMS- und WhatsApp-Nachrichten zu lesen und mir Gedanken darüber zu machen, ob ich den Anruf gerade hätte freundlicher führen sollen.
Negative Gedanken und Selbstzweifel rauben Kapazitäten. Versuchen Sie die Situation abzuschließen oder wertungsfreies Reflektieren darüber auf später zu verschieben.

Der Nachmittag verläuft dann relativ ruhig. Ich übernehme noch zusätzlich eine Klientin meiner Kollegin, die aufgrund ihres kranken Kindes die Praxis frühzeitig verlassen muss.

17:30 Uhr Ich mache Feierabend und freue mich auf meine Couch.

Wie kann die Integration von Achtsamkeitsübungen gut gelingen, wenn der Tag voll ist mit vielen Arbeits- und Familienpflichten, die alle erledigt werden wollen? Möglich wäre dies beispielsweise, indem Sie Ihren Alltag am Morgen und am Abend bewusst gestalten (TIPPS ZUR UMSETZUNG). Also das Smartphone erst nach dem Frühstück anschalten, Radio und Fernseher beim (Familien-)Essen auslassen und lieber mal (sich selbst) fragen, wie der Tag und die Nacht war, welche Träume geträumt wurden und was heute so zu erledigen ist.

Und wenn es nichts zu erzählen gibt oder nicht nachgedacht werden will? Dann einfach mal (miteinander) schweigen und die Ruhe genießen, dem Wind und den Vögeln lauschen. Das ist erholsam für Körper und Psyche.


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