Verborgener Hunger trotz kalorischem Überfluss: Statt eines echten Vitaminmangels,
wie z. B. früher bei Skorbut, tritt heute eine Unterversorgung mit
diffuseren Symptomen auf. (© Thieme Gruppe/Meike Bergmann)
Der Hinweis in der Nationalen Verzehrsstudie, dass in Deutschland kein Vitaminmangel
besteht, ist zwar durchaus richtig, aber eben auch nur die halbe Wahrheit. In
Deutschland ist das Auftreten eines klinisch sichtbaren Vitaminmangels tatsächlich
selten, wenngleich über eine Zunahme an Rachitis bei Kindern berichtet wird.
Der klinisch sichtbare Vitaminmangel stellt ein Endstadium dar, welches sich je nach
Vitamin über mehr oder weniger lange Zeit entwickelt hat. Dass bis zu dieser
Entwicklung die unzureichende Versorgung mit Vitaminen durchaus Krankheitswert haben
kann, wird mangels geeigneter analytischer Verfahren und spezifischer Biomarker
oft nicht festgestellt. Um zu verstehen, warum nicht nur die Ernährungswissenschaften,
sondern auch die Medizin auf das klinische Bild des Vitaminmangels als
einzige Indikation einer Intervention ausgerichtet ist, kann man die Geschichte der
Vitaminforschung heranziehen.
Geschichtliches
Das bekannteste Vitamin ist Vitamin C. Denn sein Mangel löste früher eine typische
und weit verbreitete und gefürchtete Krankheit, den Skorbut, aus. Vor allem bei
Matrosen, deren Ernährung im Wesentlichen aus Schiffszwieback und Dörrfleisch bestand,
trat Skorbut als Schreckgespenst auf. Zunächst fing das Zahnfleisch an zu
bluten, die Zähne fielen aus, es kam zu Blutungen in den Gelenken und damit zur Arbeitsunfähigkeit
und schließlich zum Tod. Teilweise skurrile empirische
Beobachtungen führten jedoch dazu, dass entsprechende Rezepte gegen Skorbut entwickelt
wurden.
EMPIRISCHE THERAPIE GEGEN SKORBUT
Zahlreiche zufällige Beobachtungen mündeten in Rezepte gegen die gefürchtete Skorbut-Erkrankung:
So verdankt das Skorbutkraut, auch Scharbockskraut genannt,
seinen therapeutischen Erfolg der Tatsache, dass 1730 ein skorbutkranker Segler von
seinen Kameraden zum Sterben an Land ausgesetzt wurde, dieser sich kriechend
von Pflanzen ernährte und gesund wurde und längere Zeit später von seinen Kameraden
zu deren Erstaunen wieder auf das Schiff aufgenommen werden konnte. Der
Grund für den Erfolg lag darin, dass es sich bei diesem unscheinbaren Hahnenfußgewächs
um eine sehr gute Vitamin-C-Quelle gehandelt hat.
Nach und nach wurden mehr Vitamine entdeckt. Es gab dafür diverse Nobelpreise, was
die Bedeutung dieser Entdeckungen unterstreicht. Wir müssen uns in die Lage der
Menschen versetzen, die plötzlich erlebten, dass häufige schwere und oft zum Tode
führende Erkrankungen geheilt werden konnten. So wie die hohe Kindersterblichkeit
durch Rachitis, oft in Kombination mit Tuberkulose, oder der gefürchtete Vitamin-B12-Mangel, der zu einer Anämie und zur Erkrankung des Rückenmarks
führte, um nur 2 Beispiele von vielen zu nennen. Die Beobachtung, dass ein durch eine
spezielle Diät verursachter Vitamin-B12-Mangel bei Hunden durch den
Zusatz von Leber im Futter verhindert bzw. geheilt werden konnte, brachte 3 amerikanischen
Wissenschaftlern 1934 den Nobelpreis für Medizin. Die Wissenschaftler
wurden ausgezeichnet, da sie eine spezielle Leber-Diät zur erfolgreichen Behandlung
dieser schweren Erkrankung entwickelt hatten. Dass der entscheidende Wirkstoff
Vitamin B12 war, wurde erst 14 Jahre später beschrieben.
Es war ebenfalls eine empirische Beobachtung, dass Kinder mit Rachitis, die oft mit
Tuberkulose einherging, nicht nur einen milderen Verlauf der Tuberkulose hatten
und überlebten, sondern sich auch die rachitischen Symptome teilweise zurückbildeten,
wenn sie in die Sonne gesetzt wurden. Die Ursache lag darin, dass das durch
Sonnenlicht in der Haut gebildete Vitamin D nicht nur die Rachitis als Vitamin-D-Mangelerkrankung
heilte, sondern dass Vitamin D auch die Bildung eines
körpereigenen Antibiotikums (Defensin: Cathelicidin) in der Lunge induzierte, welches
die Tuberkulose bekämpfte. Letzteres wissen wir erst seit 10 Jahren. Dennoch
behandelte man bereits 1915 die Tuberkulose wie auch die Rachitis bei Kindern mithilfe
der Höhensonne.
Bis heute bestimmt der Mangel an einem einzelnen Vitamin die Indikation zur Behandlung.
Die Entdeckung, dass sich viele schwere und oft zum Tode führende Erkrankungen durch
die Gabe eines einzelnen synthetisch hergestellten Vitamins heilen ließen, hat
den Umgang mit Vitaminen bis heute geprägt. Erst wenn das Defizit klinisch oder durch
Laboranalyse nachgewiesen ist, besteht – so die häufige Aussage – eine
Indikation zur Behandlung. Solange die empfohlenen Zufuhrwerte erreicht werden, besteht
folglich auch kein Grund, über einen Mangel nachzudenken.
Bedarf und Empfehlung
Mit der Entdeckung der Wirkung und der chemischen Struktur der Vitamine konnten nicht
nur viele Mangelkrankheiten geheilt werden, sondern es stellte sich auch bald
die Frage: Wie lässt sich ein solcher Vitaminmangel durch Ernährung verhindern bzw.
wie viel braucht der Mensch, um ausreichend versorgt zu sein?
Was genau ist der Bedarf, d. h. die Menge eines Vitamins, mit der ein Mangel verhindert
werden kann? Der sogenannte geschätzte mittlere Bedarf (Estimated Average
Requirement, EAR) ist eine grobe Schätzung, die als Mittelwert die Aufnahme eines
Vitamins bei einer gesunden erwachsenen Bevölkerung ermittelte. Innerhalb der so
dargestellten Normalverteilung haben diejenigen ein steigendes Risiko für die Entwicklung
einer Mangelerkrankung, die unterhalb des Mittelwertes liegen, während
die, die oberhalb liegen, ein abnehmendes Risiko aufweisen.
Bei den etablierten EAR-Werten muss allerdings berücksichtigt werden, dass sich die
Ernährung der Menschen vor 30–40 Jahren von der heutigen in vielen Facetten
unterschied. Es gab weder Convenience-Food noch Tiefkühlkost in der Menge, wie wir
sie heute vorfinden.
Die meisten EAR-Werte wurden vor 30 und mehr Jahren bestimmt und bis heute nicht wesentlich
überarbeitet.
Nimmt man 2 Standardabweichungen des Mittelwertes zu diesem hinzu, so gelangt man
zu dem Wert, den wir heute als Empfehlung nehmen. Mit diesem Wert sollten dann
97,5 % der Bevölkerung ausreichend versorgt sein. Diese Empfehlungen haben sich seither
nur wenig verändert. Manche Werte, wie die für Folsäure, hat man nach unten
korrigiert, andere dagegen, wie die für Vitamin D, erheblich nach oben. Streng genommen
sind die Empfehlungen nur als Orientierungshilfe für die
Gemeinschaftsverpflegung geeignet. Was der Einzelne braucht, in welchem Lebensabschnitt
wie viel und ganz besonders bei Krankheiten, ist mehr oder weniger
unbekannt. Für den individuellen Bedarf haben wir keine Möglichkeit, diesen auch nur
näherungsweise zu berechnen.
Wird der Bedarf gedeckt, d. h. ist die Zufuhr mit der Ernährung ausreichend, besteht
keine Notwendigkeit, zusätzlich Vitamine zuzuführen. Dabei kann die
Vitaminzufuhr durchaus immer wieder für begrenzte Zeit (je nach Halbwertszeit des
Vitamins) unter 100 % der Bedarfsdeckung liegen, ohne dass damit das Risiko einer
Unterversorgung besteht. Je mehr sich die mittlere Zufuhr dem EAR-Wert nähert, desto
eher kann es zur Entwicklung unspezifischer Symptome kommen, die jedoch selten
mit dem Fehlen des Vitamins in Verbindung gebracht werden ([
Abb. 1
]). Dieser auch als „verborgener Hunger“ bezeichnete
Zustand stellt ein weltweites Problem dar und betrifft vor allem die Vitamine A und
D sowie Eisen und Zink. Hier besteht inzwischen Einigkeit, dass diese
unzureichende Versorgung einen deutlichen Einfluss auf die Gesundheit und die Entwicklung
der Betroffenen hat. Erst sehr viel später kommt es zu den Zeichen des
klinischen Mangels, der dann auch durch entsprechende Biomarker analytisch erfasst
werden kann.
Abb. 1 Bedarfsdeckung und Mangelentwicklung.
Vor Auftreten klinisch manifester Mangelsymptome besteht bereits eine unzureichende
Versorgung mit negativen Auswirkungen auf die Gesundheit.
Analytik
Die Pellagra-Epidemie in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Folge von Armut
und resultierender einseitiger Ernährung: Mais und wenig Fleisch [1]. Mais enthält sehr wenig Niacin und kaum Tryptophan. Der Phänotyp der Pellagra äußert
sich in einer abnehmenden kognitiven
Leistung, Störungen von Sprache und der Fähigkeit, zu rechnen (Akalkulie), und geht
im Verlauf mit einer progressiven Demenz und unterschiedlichen
neuro-psychiatrischen Erkrankungen einher. Erst 1937 wurde Niacin erstmals beschrieben
und die Erkrankung konnte behandelt werden. Allerdings wurde und wird die
Pellagra bis heute meistens nicht beachtet. Denn oft werden die frühen Veränderungen
übersehen: eine Dermatitis an Hautstellen, die der Sonne ausgesetzt sind – dies
hat zur Bezeichnung Pellagra sine Pellagra geführt. Eine Bestimmung des Status im
Blut oder Urin ist mit entsprechendem technischen Aufwand (GC-MS) zwar möglich,
jedoch für die Diagnostik oft nicht aussagekräftig.
In den wenigsten Fällen sind Blutwerte geeignet, eine inadäquate Versorgung frühzeitig
zu entlarven. Bis zu einem gewissen Grad ist dies bei wasserlöslichen
Vitaminen (B12, B6) möglich, bei fettlöslichen jedoch so gut wie gar nicht – mit der Ausnahme von
Vitamin D.
Der Vitamin-A-Mangel als ein weltweit verbreitetes Problem (etwa 200 Millionen Betroffene,
vorwiegend Frauen und Kinder) führt bereits lange vor Auftreten der ersten
klinischen Symptome (Nachtblindheit) zu einer erhöhten Sterblichkeit bei Kindern und
einer Eisen-refraktären Anämie. Vitamin C verteilt sich auf die
unterschiedlichsten Kompartimente und je nach Analyse und Gesundheitszustand des Probanden
können hier sehr verschiedene Werte gemessen werden.
Blut stellt das Transportsystem der Vitamine zu den Zellen dar und ist daher nur bedingt
geeignet, eine Aussage über die Versorgung zu machen.
Exemplarisches Beispiel ist hier Vitamin D. In der Annahme, dass die Bildung des aktiven
Metaboliten (Hydroxylierung des 25-(OH)-D in Position 1 zu
1,25-Dihydroxycholecalciferol) ausschließlich in der Niere erfolgt, hat man Statusanalysen
durch Bestimmung dieses Metaboliten vorgenommen. Die Ergebnisse solcher
Analysen deckten sich nicht mit verschiedenen klinischen Bildern, die man einer Vitamin-D-Unterversorgung
zuschrieb. Erst als klar wurde, dass die Aktivierung des
25-(OH)-D auch in vielen anderen Geweben möglich ist, ließ sich durch Bestimmung des
25-(OH)-D im Blut ein (bisher) verwertbarer Indikator für den Vitamin-D-Status
finden. Eine ganze Reihe von bisher nicht bekannten Beziehungen zu Krankheitszuständen
konnte so mit einem niedrigen Vitamin-D-Status in Beziehung gebracht werden.
In der Konsequenz setzte man nun die Empfehlungen um das 4-Fache (von 5 auf 20 μg/Tag)
nach oben. Bis dahin schienen 5 μg/Tag ausreichend, ein Wert, der in der
Mitte des letzten Jahrhunderts als ausreichend für die Prävention der Rachitis ermittelt
wurde.
Für die meisten anderen Vitamine steht eine solche valide Statusbestimmung noch aus.
Wie aber lässt sich dann eine unzureichende Versorgung erfassen und
gegebenenfalls behandeln?
Verborgene Wirkung – verborgener Hunger
Verborgene Wirkung – verborgener Hunger
Es gibt verschiedene Risikogruppen von Personen, die mit einem oder mehreren Mikronährstoffen
häufiger unterversorgt sind. Einerseits sind dies Menschen mit
speziellen einseitigen Ernährungsstilen (vegan, häufige Reduktionsdiäten, Essstörungen
u. a.), bei anderen spielen Alter und Lebenssituation (z. B. Schwangerschaft,
frühkindliche Entwicklung, Einkommen und Bildung) eine wichtige Rolle. Klinisch sichtbaren
Mangel wird man hier nur in den seltensten Fällen finden, vielmehr eine
Situation, die die WHO als verborgenen Hunger definiert.
DEFINITION „VERBORGENER HUNGER“
Verborgener Hunger ist eine unzureichende Versorgung mit einem oder mehreren Mikronährstoffen
ohne klinisch eindeutige Symptomatik.
Der verborgene Hunger stellt ein weltweites Problem dar und betrifft am häufigsten
die folgenden Mikronährstoffe:
-
Vitamin A
-
Folsäure
-
Vitamin D
-
Eisen
-
Zink [2].
Die häufigste Ursache für verborgenen Hunger ist Armut, die sich auch in Deutschland
zunehmend ausbreitet.
Betroffen vom verborgenen Hunger infolge Armut in Deutschland sind vor allem alleinerziehende
Mütter und ihre Kinder (20 % aller Kinder in Deutschland) sowie alte
Menschen. Zu Recht spricht man heute von Ernährungsarmut. Bei jungen Frauen hat der
verborgene Hunger Konsequenzen besonders in der Schwangerschaft. Bei Kindern
sind in den ersten Lebensjahren durch eine unzureichende Versorgung mit Mikronährstoffen
körperliches Wachstum, Gesundheit und kognitive Entwicklung nachhaltig
gestört [3].
Versorgung in der Schwangerschaft
Folsäure
In der Schwangerschaft und Stillzeit wird für verschiedene Vitamine und Minerale zwar
ein Mehrbedarf angegeben, dieser ist jedoch nicht Ergebnis
wissenschaftlicher Studien, sondern wird mehr oder weniger geschätzt. Ein exemplarisches
Beispiel, dass diese Schätzung nicht ausreichend war, ist die
Folsäure. Hier hat man erst vor etwa 20 Jahren erkannt, dass eine Versorgung mit Folsäure,
wie sie bis dahin durch die Empfehlungen gegeben wurde, nicht
ausreicht, um Neuralrohrdefekte zu verhindern. Erst die Empfehlungen für junge Frauen
mit Kinderwunsch, dass sie Folsäure substituieren sollen, sowie die in
einigen Ländern erfolgte Anreicherung von Mehl und anderen Lebensmitteln mit Folsäure
hat die Zahl der Neuralrohrdefekte je nach Land teilweise drastisch
reduziert. Es hat allerdings viele Jahre gedauert, bis sich durchgesetzt hatte, dass
die bis dahin gegebenen Empfehlungen für Folsäure für die
Schwangerschaft nicht ausreichend waren.
Biotin
In der Zwischenzeit geht man einem ähnlichen Phänomen für das Vitamin Biotin nach.
Hier mehren sich Stimmen, dass eine gute bis sehr gute Versorgung mit
Biotin in der Schwangerschaft dazu beitragen kann, unterschiedliche Missbildungen
zu verhindern. Die fetale und embryonale Blutkonzentration an Biotin ist
um das 3- bis 17-Fache höher als die Konzentrationen im Blut der Mutter [4], [5], [6]. Für den Biotin-Bedarf bestehen mangels entsprechender Daten bisher noch keine Empfehlungen,
sondern lediglich sogenannte
Schätzwerte. Da eine Unterversorgung mit Biotin wegen des hohen Bedarfs in der Schwangerschaft
nicht ausgeschlossen ist und gleichzeitig mit dem in
Tierexperimenten gezeigten Risiko für Missbildungen einhergeht, sollte ein solcher
Zusammenhang wissenschaftlich intensiver untersucht werden. Nur so kann
man daraus entsprechende Empfehlungen ableiten.
Bisher gibt es keine validen Richtwerte, sondern lediglich Schätzwerte für den Biotin-Bedarf
in der Schwangerschaft.
Multivitamin-Mineral-Supplementation
Die Ergebnisse verschiedener großer Metaanalysen legen nahe, dass bei Schwangeren
nicht nur wie bisher Folsäure und Eisen zur Substitution empfohlen werden
sollten, sondern ein Multivitamin-Mineral-Supplement mit Folsäure und Eisen. Diese
Metaanalysen haben gezeigt, dass ein Multivitamin-Mineral-Supplement zu
einer deutlicheren Senkung des Risikos für geringes Geburtsgewicht oder Missbildungen
führt, als dies bisher durch die Folsäure-Eisen-Supplementierung
gegeben war. Welcher der Mikronährstoffe in den Supplementen letztlich dafür verantwortlich
ist, oder ob es die Summe aller Mikronährstoffe ist, muss noch
geklärt werden.
FAZIT FÜR SCHWANGERSCHAFT
Die Daten der Nationalen Verzehrsstudie zeigen, dass gerade bei Frauen im gebärfähigen
Alter die empfohlenen Zufuhrwerte bei einer Reihe von
Mikronährstoffen nicht erreicht werden. Dies mag im Falle gesunder Frauen ohne größere
Bedeutung sein, im Falle einer Schwangerschaft kann dies jedoch
für die kindliche Entwicklung ein Risiko darstellen.
Auswirkungen auf die spätere Entwicklung
Für die Phase der Schwangerschaft geht es nicht nur um die Vermeidung von Missbildungen,
sondern auch um die spätere Entwicklung des Kindes. Denn inzwischen
liegen zunehmend wissenschaftliche Daten vor, die zeigen, dass eine unzureichende
Vitaminversorgung in der Schwangerschaft Einfluss auf die spätere Entwicklung
des Kindes bis in das Erwachsenenalter haben kann. Solche epigenetischen Effekte werden
seit Kurzem für die Entwicklung der sogenannten nicht kommunizierbaren
Erkrankungen mit verantwortlich gemacht ([
Abb. 2
]).
Abb. 2 Angenommene Beziehungen zwischen nicht übertragbaren Erkrankungen und Mikronährstoffversorgung
in der Schwangerschaft. Die Unterversorgung
kann dabei sowohl durch eine inadäquate Ernährung als auch durch eine Plazentainsuffizienz
verursacht sein.
Oft ist es das geringe Geburtsgewicht, welches eine Mangelversorgung signalisiert
mit möglichen Konsequenzen für die Organentwicklung und deren Funktion. Diese
als DOHaD-Hypothese (Developmental Origin of Health and Disease) bezeichneten Zusammenhänge
beschreiben die Bedeutung verschiedenster Umweltfaktoren in der
Schwangerschaft und den ersten Lebensjahren des Kindes für die spätere gesundheitliche
Entwicklung. Zu diesen Umweltfaktoren gehört auch die Ernährung. In
diesem Zusammenhang spielen Mikronährstoffe eine ganz wesentliche Rolle.
Die Bedeutung der Versorgung einzelner Mikronährstoffe für die Entwicklung des Kindes
ist bisher erst in Ansätzen verstanden.
Mangelernährung im Kindesalter und Konsequenzen
Mangelernährung im Kindesalter und Konsequenzen
Auswirkungen des Mangels
Die Konsequenz der Unterversorgung in der Schwangerschaft besonders bei der armen
Bevölkerung zeigt sich exemplarisch in der körperlichen wie kognitiven
Entwicklung der Kinder. Das Adipositas-Risiko, so die KiGGS [7] und andere Studien, ist bei niedrigem Sozialniveau bei Kindern
3-mal höher als bei gutem Einkommen. Kinder aus armen Verhältnissen in Brandenburg
werden tendenziell kleiner (bis zu 1,8 cm) und zeigen bei den
Einschulungsuntersuchungen deutlich häufiger Sprachentwicklungsstörungen und Beeinträchtigung
der geistigen Entwicklung (17,1 % bzw. 12,7 %) im Vergleich zu
Kindern aus Familien mit hohem Sozialstatus (5,2 % bzw. 0,8 %) [8].
Eine Abweichung der Körpergröße um 2 Standardabweichungen vom Mittelwert wird als
Stunting bezeichnet. Stunting ist der Phänotyp der Mangelernährung.
Im Falle der Brandenburger Kinder beträgt die Abweichung vom Mittelwert 1,2 Standardabweichungen.
Folgt man den Beobachtungen von Kimberly Noble, so zeigt sich bei niedrigem Sozialstatus
im Vergleich zu hohem Status bei den betroffenen Kindern ein geringeres
Hippocampusvolumen sowie eine Sprachentwicklungsstörung bei gleichem Wortschatz [9].
Der Hippocampus ist der Hirnanteil, welcher für das Kurzzeitgedächtnis und vor allem
den Spracherwerb von besonderer Bedeutung ist. Bemerkenswert ist, dass für
die kognitive Entwicklung vor allem Jod, Eisen und Vitamin D besonders wichtig sind.
In einer der wenigen Untersuchungen bei Kleinkindern (10–36 Monate) in
Deutschland waren dies genau die Mikronährstoffe, die deutlich unter den Empfehlungen
lagen [10].
Ernährungssituation verbessern
Zweifellos ist die Entwicklungsstörung bei Kindern, die in Armut leben, nicht nur
durch eine unzureichende Ernährung zu erklären. Es ist jedoch schwer zu
verstehen, warum der Hartz-IV-Satz für die Ernährung von Kindern teilweise deutlich
unter dem liegt, was für eine gesunde Ernährung ausgegeben werden muss [11]. Preisgünstige Lebensmittel, zu denen Nudeln, Reis, Kartoffeln, aber auch oft fettes
Fleisch und billige Wurstwaren gehören,
haben einen hohen Energieanteil, dafür aber eine geringe Dichte an Mikronährstoffen
[12]. Die Mangelernährung ist hier
vorprogrammiert.
Eine Verbesserung der Ernährung bei Kindern in Armutsverhältnissen ist weitaus leichter
zu erreichen als Eingriffe in das soziale Gefüge.
Bei entsprechendem politischem Willen, wie z. B. eine kostenlose Ernährung in Kindertagesstätten
und Ganztagsschulen, wie sie in skandinavischen Ländern seit
vielen Jahren praktiziert wird, ließe sich nicht nur eine Verbesserung der Ernährungssituation
bei den betroffenen Kindern erreichen, sondern auch eine nicht
unerhebliche Kostendämpfung für die Behandlung des kindlichen Übergewichtes und seiner
Folgen.
Fazit
Die Bedeutung einer unzureichenden Ernährung für die kindliche Entwicklung und die
spätere Leistungsfähigkeit sollte nicht länger dem Zufall überlassen bleiben.
Ernährungsprogramme und Empfehlungen bringen wenig, wenn die empfohlene Ernährung
für den Einzelnen nicht finanzierbar ist. Dabei darf nicht übersehen werden, dass
übergewichtige Kinder auch 10-mal häufiger im Erwachsenenalter übergewichtig sind.
Wir verstehen nach und nach, dass Vitaminwirkungen keinesfalls nur über die beobachteten
Mangelsymptome zu erklären sind, sondern sich sehr viel komplexer
darstellen als bisher vermutet. Zunehmend wird aber deutlich, dass Menschen, die in
Armut leben, Schwangere, Kleinkinder und alte Menschen ein erhöhtes Risiko
für eine Unterversorgung aufweisen. Das häufig gebrauchte Argument, jeder könne sich
gesund ernähren und wir hätten in Deutschland keinen Mangel, ist wenig
hilfreich.
Zweifellos lässt sich eine Unterversorgung an Mikronährstoffen in Deutschland durch
eine ausgewogene Ernährung verhindern. Vorausgesetzt sind dabei grundlegende
Kenntnisse und ein ausreichendes Einkommen [13].