CC BY-NC-ND 4.0 · Geburtshilfe Frauenheilkd 2018; 78(02): 167-172
DOI: 10.1055/s-0044-100147
GebFra Science
Original Article/Originalarbeit
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Beeinflusst ein Migrationshintergrund Indikationsstellung, Häufigkeit oder Outcome bei einer Notsectio? Ergebnisse einer prospektiven Datenerfassung bei 111 Geburten

Artikel in mehreren Sprachen: English | deutsch
Matthias David
1   Charité-Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Gynäkologie, Campus Virchow-Klinikum, Berlin, Germany
,
Katrin Alexandra Scherer
1   Charité-Universitätsmedizin Berlin, Klinik für Gynäkologie, Campus Virchow-Klinikum, Berlin, Germany
,
Wolfgang Henrich
2   Charité-Universitätsmedizin Berlin, Kliniken für Geburtsmedizin, Campus Virchow-Klinikum und Campus Charité Mitte, Berlin, Germany
,
Jürgen Breckenkamp
3   Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften, AG Epidemiologie und International Public Health, Bielefeld, Germany
› Institutsangaben
Weitere Informationen

Correspondence/Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Matthias David
Charité Universitätsmedizin Berlin
Campus Virchow-Klinikum
Klinik für Gynäkologie
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
Germany   

Publikationsverlauf

received 06. November 2017
revised 03. Januar 2018

accepted 03. Januar 2018

Publikationsdatum:
19. Februar 2018 (online)

 

Zusammenfassung

Fragestellungen Unterscheiden sich Häufigkeit und/oder Indikationsstellung für eine Notsectio in Abhängigkeit davon, ob bei der Schwangeren ein Migrationshintergrund (MH) vorliegt? Führen mangelnde Sprachkompetenz (Kommunikationsprobleme) und niedriger Akkulturationsgrad zu einer längeren Entschluss-Entwicklungs-Zeit (E-E-Zeit)? Ist der postnatale Zustand der Neugeborenen von Frauen mit MH nach Notsectio schlechter?

Patientinnenkollektiv und Methodik Standardisierte Interviews wurden vor oder unmittelbar nach der Geburt in 3 Berliner Geburtskliniken erhoben. Dabei wurden Fragen zu soziodemografischen und Versorgungsaspekten sowie zum Migrations- und Akkulturationsstatus gestellt. Zusätzlich erfolgte eine Datenverknüpfung mit Angaben aus dem Mutterpass und mit Versorgungs- und Perinataldaten der Kliniken. Regressionsmodelle zur Adjustierung für Alter, Parität, sozioökonomischen Status wurden durchgeführt.

Ergebnisse Das Gesamtkollektiv umfasste 7100 Frauen (Rücklaufquote 89,6%), darunter waren 111 Notsectiones (50 bei Frauen ohne MH, 61 bei Migrantinnen). Risikofaktoren wie späte 1. Vorsorgeuntersuchung, Gestationsdiabetes, SIH, fetale Makrosomie, Rauchen, Gewichtszunahme waren in beiden Kollektiven ähnlich verteilt. Notsectiohäufigkeit und -indikationen sowie E-E-Zeit waren in beiden Gruppen ähnlich. Geringe deutsche Sprachkenntnisse oder niedriger Akkulturationsgrad bei den Migrantinnen verlängern die E-E-Zeit nicht. Hinsichtlich eines ungünstigen postnatalen Zustands des Neugeborenen (5-min-Apgar-Wert ≤ 7, arteriellen Nabelschnur-pH-Wert < 7,00) oder bei der unmittelbar postnatalen Verlegungsrate in eine Kinderklinik nach einer Notsectio zeigten sich im Vergleich Migrantinnen- vs. Nichtmigrantinnenkollektiv keine statistisch relevanten Unterschiede.

Schlussfolgerung Der Faktor „Migrationshintergrund“ hat keine relevante Bedeutung bei der Indikationsstellung und für die geburtshilfliche Ergebnisqualität bei Notsectiones.


#

Einleitung

Eine Sectio caesarea kann eine lebensrettende Operation für Mutter und Kind sein, ist aber stets auch mit Risiken verbunden und sollte daher nur bei bestehender mütterlicher und/oder kindlicher Indikation durchgeführt werden [1], [2]. Die Sectiorate gilt als wichtiger geburtshilflicher Qualitätsindikator [3], [4]. Höhere Sectioraten sind beispielsweise bei verstärkter Nachfrage seitens der Schwangeren denkbar; eine niedrige Sectiofrequenz könnte als Zeichen einer geburtshilflichen Unterversorgung interpretiert werden. Die Gesamtsectiorate betrug 2016 bundesweit im Durchschnitt 32,01% [5] und für Berlin 27,69% [6].

Als Notsectio werden solche abdominalen Schnittentbindungen bezeichnet, bei denen eine akute Gefährdung von Mutter und/oder Kind und damit eine absolute Sectio-Indikation vorliegt [7]. Die Entscheidung für eine Notsectio ist ein komplexer Prozess, der sich aus der konkreten besonderen Geburtssituation heraus ergibt, das Erfassen und schnelle Beurteilen der Risikosituation sowie eine schnelle Entscheidungsfindung umfasst. Das Erkennen einer akuten, unter Umständen lebensbedrohlichen Situation zählt in der Geburtshilfe zu den schwierigsten Aufgaben. Das Intervall zwischen der Indikationsstellung für einen Notfall-Kaiserschnitt und der Geburt des Kindes sollte möglichst kurz sein. Angestrebt wird eine sog. Entscheidungs-Entbindungs- bzw. E-E-Zeit von unter 20 Minuten [8].

Über Unterschiede zwischen Migrantinnen resp. Frauen mit Migrationshintergrund und einheimischen, nicht zugewanderten Frauen in wichtigen perinatalen Versorgungsparametern, wie z. B. der Sectiorate, wurde in einer Reihe von Arbeiten berichtet: Migrationsstress, Auflösung bestehender sozialer Netzwerke aufgrund der Migration oder mit zunehmender Akkulturation, niedriger sozialer Status, schlechter Zugang zum Gesundheitssystem, Diskriminierung im Versorgungssystem können jeweils allein oder in Kombination mögliche Ursachen für Unterschiede in Sectioraten und perinatalen Ergebnisdaten bei Migrantinnen sein (z. B. [9], [10]).

Ein systematisches Literaturreview zu internationaler Migration und Kaiserschnittentbindung stellt in 60% der analysierten Studien Unterschiede bei der Kaiserschnittrate zwischen Immigrantinnen und einheimischen Frauen fest, weist aber darauf hin, dass die Datenlage nicht ausreicht, um Unterschiede angemessen zu erklären [12]. Als Risikofaktoren für Kaiserschnittentbindungen bei Migrantinnen werden häufig Sprach- und Kommunikationsprobleme, niedriger sozioökonomischer Status, schlechte mütterliche Gesundheit, Übergewicht, kephalopelvines Missverhältnis und unzureichende Schwangerenvorsorge genannt, während protektive Faktoren den sog. Healthy Migrant Effect, die Bevorzugung einer vaginalen Geburt, einen gesünderen Lebensstil sowie ein jüngeres Lebensalter der Mütter bei der 1. Geburt umfassen [9], [10], [11], [13].

Aus klinischer Sicht sollten nach Adjustierung hinsichtlich soziodemografischer und prädisponierender Faktoren die Notsectioraten zwischen Migrantinnen und Nichtmigrantinnen nicht differieren.

In den letzten 20 Jahren sind nach unserer Kenntnis in Deutschland wie auch insgesamt in Europa keine großen Studien durchgeführt worden, die sich auf der Grundlage prospektiv erhobener Daten mit der Frage beschäftigt haben, ob Migrations- oder andere soziodemografische Faktoren mit einer Notsectio assoziiert sind.

Folgende Fragen sollten mit der vorliegenden Studie beantwortet werden:

  1. Unterscheiden sich Häufigkeit und/oder Indikationsstellung für eine Notsectio in Abhängigkeit davon, ob bei der Schwangeren ein Migrationshintergrund vorliegt?

  2. Führen mangelnde Sprachkompetenz und niedriger Akkulturationsgrad zu einer längeren E-E-Zeit?

  3. Ist der postnatale Zustand der Neugeborenen (5-min-Apgar-Wert ≤ 7 und arterieller Nabelschnur-pH-Wert ≤ 7, kindliche Verlegungsrate) von Frauen mit Migrationshintergrund nach Notsectio schlechter?


#

Methodik

Patientinnenkollektiv

Es erfolgte eine Subgruppenanalyse einer zwischen 2010 und 2013 durchgeführten, mit Mitteln der DFG geförderten Studie „Perinataldaten von Migrantinnen vs. Nicht-Migrantinnen in Berlin“ (FKZ: DA 1199/2-1) [14]. Die geburtshilflichen Daten wurden in 3 Berliner Geburtskliniken (Charité Campus Virchow-Klinikum, Vivantes Klinikum am Urban, Vivantes Klinikum Neukölln) erhoben. Mit allen Frauen wurden standardisierte Interviews auf der Basis eines validierten und in mehreren Sprachen vorliegenden Fragebogensets einige Stunden vor der Geburt in den Kliniken geführt. Diese Primärdaten wurden mit den in den Kliniken erfassten sog. Perinataldaten verknüpft, die regelmäßig im Rahmen der Qualitätssicherung bundesweit zentral an das AQUA-Institut GmbH in Göttingen gemeldet wurden. Diese Meldungen umfassen alle geburtshilflichen Daten, die in den Kreißsälen unmittelbar zu jeder Geburt PC-gestützt dokumentiert werden. Sie beinhalten jedoch nur unzureichende bzw. ungenaue soziodemografische Angaben zum Migrationsstatus sowie zur Akkulturation.


#

Studien-Fragebogenset

Das Studien-Fragebogenset umfasste 23 Fragen zu soziodemografischen Aspekten, 9 Fragen zu Versorgungsaspekten und 23 Fragen zu ggf. erfolgter Migration und Akkulturation. Der Migrationsstatus wurde auf der Basis der Empfehlungen von Schenk et al. [15] bestimmt: Angaben zum Geburtsland der Eltern, Aufenthaltsdauer in Deutschland, Muttersprache. Es wurde folgende Eingruppierung vorgenommen: Migrantinnen der 1. Generation (selbst migriert), der sog. 2. Generation (direkter Nachkomme von Migranten) sowie Frauen mit sog. binationalem Hintergrund (ein Elternteil ohne und ein Elternteil mit eigener Migrationserfahrung). Die Interviews wurden ab Januar 2011 täglich für jeweils 1 Jahr in den Kreißsälen und Wochenbettstationen der 3 o. g. Kliniken von geschulten Projektmitarbeiterinnen durchgeführt. Eingeschlossen wurden alle Frauen, bei denen die Geburt des Kindes innerhalb des Erhebungszeitraums an der jeweiligen Geburtsklinik ab 24 + 0 Schwangerschaftswochen (mit Lebenszeichen) erfolgte, die bei der Geburt ihres Kindes mindestens 18 Jahre alt waren und die ihren ständigen Wohnsitz in Deutschland hatten. Ausgeschlossen wurden minderjährige Frauen, Touristinnen ohne Wohnsitz in Deutschland sowie Frauen mit Schwangerschaftsabbruch, Fehl- bzw. Totgeburt (Feststellung des Kindstodes bei Klinikaufnahme und vor Geburtsbeginn).


#

Statistik

Univariate, bivariate und multivariate Analysen zur Beurteilung von Migrations- und Akkulturationsprozessen auf Schwangerschaft und Geburt wurden mit der Statistiksoftware SAS 9.4 durchgeführt. Als Signifikanzniveau wurde p < 0,05 festgelegt.


#

Ethikvotum und Datenschutz

Die Zustimmung des Ethikkomitees der Berliner Charité, Ethikausschuss I Charité Campus Mitte (Nr. EA 1/235/08) liegt vor. Die Vorgaben des Datenschutzes (Berliner Datenschutzgesetz) wurden beachtet.


#
#

Ergebnisse

Gesamtkollektiv

Im Untersuchungszeitraum brachten 8157 Frauen in den 3 Berliner Geburtskliniken Kinder zu Welt. Insgesamt standen Daten von 7100 Frauen für die Datenanalyse zur Verfügung, was einer Rücklaufquote von 89,6% entspricht. Unter den 7100 ausgewerteten Geburten waren auch 111 von 112 Entbindungen per Notsectio vollständig dokumentiert. Diese Subgruppe operativer Geburten wurde separat mit dem Fokus „Ergebnisvergleich Migrantinnen vs. Nichtmigrantinnen“ analysiert. Aufgrund der kleinen Stichproben wurden jeweils nur wenige Variable in die Regressionsmodelle aufgenommen.


#

Notsectiokollektiv

50 Notsectios wurden bei Frauen ohne Migrationshintergrund und 61 bei Migrantinnen (51 1. Generation, 10 2. Generation) durchgeführt. Die [Tab. 1] zeigt zunächst einige Basisdaten zu dem Kollektiv (Stichprobengröße n = 111). Den Migrantinnen der sog. 1. und 2. Generation sind die Nichtmigrantinnen (umfasst auch die Frauen mit einem zugewanderten Elternteil) gegenübergestellt. Die Notsectiohäufigkeit ist in beiden Untersuchungskollektiven ähnlich.

Tab. 1 Soziodemografische Basis- und geburtsmedizinische Daten (n = 111).

Nichtmigrantinnen (n = 50)

Migrantinnen (n = 61)

relative Häufigkeiten

n (%)

  • Notsectiones/alle Geburten

50/3 331 (1,5%)

61/3 767 (1,6%)

  • sekundäre Sectiones/alle Geburten

802/3 331 (24,1%)

687/3 767 (18,2%)

  • Notsectiones/alle sekundären Sectiones

50/802 (6,2%)

61/687 (8,9%)

Altersgruppen

n (%)

  • 18 – 24

10 (20,0%)

12 (19,7%)

  • 25 – 29

11 (22,0%)

16 (26,2%)

  • 30 – 34

13 (26,0%)

14 (23,0%)

  • 35+

16 (32,0%)

19 (31,2%)

Schulbildung

n (%)

  • niedrig

3 (6,0%)

15 (24,6%)

  • mittel

21 (42,0%)

27 (44,3%)

  • hoch

26 (52,0%)

19 (31,2%)

Parität

n (%)

  • Nullipara

29 (58,0%)

30 (49,2%)

  • Multipara

21 (42,0%)

31 (50,8%)

Schwangerschaftswoche bei Geburt

  • Mittelwert (SD)

36,0 (5,5)

36,9 (4,1)

  • Median (Spannweite)

39,0 (24 – 41)

38,0 (25 – 42)

5-min-Apgar-Wert

n (%)

  • ≤ 7

17 (34,0%)

20 (32,8%)

arterieller Nabelschnur-pH-Wert

n (%)

  • ≤ 7,00

4 (8,0%)

8 (13,1%)

Geburtsgewicht (g)

  • Mittelwert (SD)

2 694,3 (1 054,7)

2 741,7 (885,3)

  • Median (Spannweite)

3 040 (745 – 4 150)

2 860 (770 – 5 010)

selbsteingeschätzte deutsche Sprachkenntnisse

n (%)

  • keine/gering

16 (26,2%)

  • mittel bis sehr gut

45 (73,8%)

Akkulturationsgrad (Frankfurter Akkulturationsskala, FRAKK [16])

n (%)

  • niedrig (FRAKK-Medianwert ≤ 59)

31 (50,8%)

  • hoch (FRAKK-Medianwert > 59)

30 (49,2%)


#

Risikofaktoren

Für eine Reihe von Risikofaktoren mit möglichem Einfluss auf die Sectiorate (geringe Anzahl von Vorsorgeuntersuchungen, späte 1. Vorsorgeuntersuchung, Gestationsdiabetes, SIH, Makrosomie des Kindes, Rauchen in der Schwangerschaft, Gewichtszunahme in der Schwangerschaft) wurden Unterschiede zwischen den beiden Patientinnenkollektiven geprüft: Es zeigten sich jeweils keine statistisch signifikanten Unterschiede.


#

Notsectioindikationen

Die 5 häufigsten Indikationen für eine Notsectio in den beiden Kollektiven zeigt die [Tab. 2], statistisch relevante Unterschiede waren nicht nachweisbar.

Tab. 2 Die 5 häufigsten Indikationen für eine Notsectio (Mehrfachnennung möglich) in den beiden Untersuchungskollektiven.

alle

Nichtmigrantinnen

Migrantinnen

pathologisches CTG

74

35

39

vorzeitige Plazentalösung

18

10

8

Frühgeburt

13

8

5

nach vorausgegangener Sectio/Uterusoperation

13

8

5

Mehrlingsschwangerschaft

10

5

5


#

E-E-Zeit

Die sog. E-E-Zeiten im Vergleich der Notsectio bei Migrantinnen und Nichtmigrantinnen erbrachten eine durchschnittliche E-E-Zeit von 9,1 Minuten in der Nichtmigrantinnen- und 9,7 Minuten in der Migrantinnengruppe (kein statistisch signifikanter Unterschied: Wilcoxon-Rangsummentest p = 0,814). In 2% der Fälle wurde im Nichtmigrantinnenkollektiv und in 4,9% im Migrantinnenkollektiv die E-E-Zeit von 20 Minuten überschritten.


#

Akkulturation und Migrationshintergrund

Wir nahmen an, dass geringe (deutsche) Sprachkompetenz und ein geringer Akkulturationsgrad durch entstehende Kommunikationsprobleme zwischen Patientin und medizinischem Personal einen „verlängernden Einfluss“ auf die E-E-Zeit haben könnten. Die [Tab. 3] zeigt Ergebnisse der Poisson-Regressions-Analyse dazu: Geringe Sprachkenntnisse senken demnach eher das Risiko einer verlängerten E-E-Zeit, während der Akkulturationsgrad (hoch vs. niedrig) keinen Einfluss auf das Risiko einer längeren E-E-Zeit hat.

Tab. 3 Relatives Risiko für eine höhere E-E-Zeit in Abhängigkeit von Sprachkenntnissen und Akkulturationsgrad (Ergebnisse der Poisson-Regressionen).

relatives Risiko

95%-Konfidenzintervall

p-Wert

relatives Risiko höherer E-E-Zeiten und deutsche Sprachkenntnisse

Migrantinnen (Ref.: Nichtmigrantinnen)

1,17

0,89 – 1,54

0,2574

25 – 29 Jahre (Ref.: 18 – 24 Jahre)

1,08

0,86 – 1,36

0,5107

30 – 34 Jahre (Ref.: 18 – 24 Jahre)

1,44

1,06 – 1,96

0,0197

35+ Jahre (Ref.: 18 – 24 Jahre)

1,15

0,81 – 1,63

0,4436

Sprachkenntnisse, keine, gering (Ref.: Sprachkenntnisse mittel – sehr gut)

0,66

0,48 – 0,90

0,0100

relatives Risiko höherer E-E-Zeiten und Akkulturation

Migrantinnen (Ref.: Nichtmigrantinnen)

1,16

0,91 – 1,48

0,2461

25 – 29 Jahre (Ref.: 18 – 24 Jahre)

1,03

0,81 – 1,31

0,7819

30 – 34 Jahre (Ref.: 18 – 24 Jahre)

1,41

1,02 – 1,93

0,0356

35+ Jahre (Ref.: 18 – 24 Jahre)

1,13

0,78 – 1,64

0,5271

Akkulturation niedrig (Ref.: Akkulturation hoch)

0,86

0,58 – 1,26

0,4370

Ebenfalls überprüft werden sollte, ob ein Migrationshintergrund die Chance für einen ungünstigen postnatalen Zustand des Neugeborenen, charakterisiert durch einen niedrigen 5-min-Apgar-Wert ≤ 7, einen arteriellen Nabelschnur-pH-Wert ≤ 7,00 oder die unmittelbare postnatale Verlegungsrate in eine Kinderklinik bei einer Notsectio erhöht. Es zeigten sich diesbezüglich keine statistisch relevanten Unterschiede zwischen dem Migrantinnen- und Nichtmigrantinnenkollektiv.


#
#

Diskussion

In Einwanderungsgesellschaften sind detaillierte Kenntnisse über den Einfluss von Migration, Ethnizität, Akkulturation und weiterer sozialer und struktureller Faktoren auf Schwangerschaft und Geburt für die Gewährleistung einer guten Versorgung wichtig. In der Bundesrepublik Deutschland leben aktuell laut den vom Statistischen Bundesamt im September 2016 veröffentlichten Daten 81,4 Millionen Menschen, davon haben 17,2 Millionen einen Migrationshintergrund (definiert als selbst migriert oder direkt von zugewanderten Personen abstammend), das entspricht derzeit etwa 21,2% der Gesamtbevölkerung [17].

Die Sectiorate wird als ein wichtiger Indikator dafür angesehen, die Prozessqualität der geburtshilflichen Versorgung einzuschätzen [3], [18]. Gleichzeitig zeigen beispielsweise die Diskussionen um die sog. Sectio auf Wunsch, dass verschiedene medizinische und nicht medizinische Faktoren die Sectiorate wenigstens zum Teil beeinflussen können [19], [20].

In unserem Gesamtkollektiv betrug die Notsectiorate 1,57% (112 von 7100). Als Vergleich können die Berliner Klinikperinataldaten herangezogen werden. Eine Datenanalyse der Jahre 2002 – 2015 zeigte für dieses 15-Jahres-Intervall nur geringe Schwankungen: Die Notsectiorate lag jeweils zwischen 1 und 1,6% [6].

Im Falle des seltenen Ereignisses einer Notsectio könnten neben soziodemografischen Faktoren wie Alter und Schulbildung Versorgungsdefizite in der Schwangerschaft, Zugangsbarrieren zum Gesundheitssystem in der Notfallsituation im Kreißsaal, kulturelle und Kommunikationsprobleme die Häufigkeit, die Entscheidungsfindung und den Verlauf negativ beeinflussen. Inwieweit Migrations- und Akkulturationsfaktoren geburtsmedizinische Ergebnisparameter im Zusammenhang mit einer Notsectio beeinflussen, ist bisher in Deutschland nicht untersucht worden. Die dargestellten Ergebnisse unserer Subgruppenanalyse zeigen, dass die Notsectiohäufigkeit für die untersuchten Migrantinnengruppen und das Nichtmigrantinnenkollektiv in einer großen Berliner Geburtskohorte ähnlich waren, ohne dass andere Indikationen zur Sectio-Entbindung geführt haben und ohne dass der kindliche postnatale Zustand signifikante Unterschiede aufwies. Mangelnde deutsche Sprachkenntnisse oder ein niedriger Akkulturationsgrad der von einer Notsectio betroffenen Schwangeren wirkten sich nicht negativ aus.

Nach Lagrew et al. [21] werden die meisten Notsectiones bei Low-Risk-Schwangeren, die in eine nicht anders behandelbare geburtshilfliche Gefahrensituation geraten, durchgeführt und sind nicht vorhersehbar bzw. über präpartale Faktoren zu identifizieren. Wichtig ist es, diese maternofetale Risikosituation zu erkennen und adäquat und schnell darauf zu reagieren [21].

Nur in wenigen Fällen und statistisch nicht different war in den beiden Untersuchungskollektiven eine E-E-Zeit über 20 min dokumentiert (2% im Nichtmigrantinnen-, 4,9% im Migrantinnenkollektiv). Wir haben diese Zeitspanne als Grenzwert gewählt, nachdem Heller et al. [8] im Ergebnis einer logistischen Regressionsanalyse zu Zusammenhängen zwischen der E-E-Zeit und kindlichem Outcome bei Notsectiones überzeugend zeigen konnten, dass Neugeborene, die nach einer E-E-Zeit von höchstens 10 bzw. 20 Minuten geboren wurden, seltener zu niedrige 5- und 10-Minuten-Apgar-Werte aufwiesen, als jene mit darüber liegender E-E-Zeit. Die Autorengruppe konnte in einem großen deutschen Geburtenkollektiv bestätigen, dass bei einer Notsectio mit der Indikation „(drohende) fetale Asphyxie“ eine E-E-Zeit mit einem „Schwellenwert“ von ≤ 20 Minuten protektiv wirkt [8].


#

Stärken und Schwächen der Studie

Vorteile der Studie sind sowohl die Größe des Patientinnenkollektivs der Gesamtstudie als auch des Notsectiokollektivs, da es sich hierbei ja um ein seltenes geburtshilfliches Ereignis handelt, für das üblicherweise keine exakte und ausführliche prospektive Datenerhebung erfolgt, das prospektive, multizentrische Studiendesign und die hohe Teilnahmequote. Erstmals in einer in Deutschland durchgeführten perinatalen Untersuchung konnten mithilfe des Fragebogens genaue Angaben zum Migrationsstatus und zur Akkulturation erhoben werden und erstmals wurden die Themenkomplexe Notsectiohäufigkeit, Migration/Akkulturation und kindlicher postnataler Zustand gemeinsam analysiert. Der verwendete Fragebogen ermöglichte die Ergänzung wichtiger soziodemografischer Angaben zu den klinischen Perinataldaten.

Mögliche methodische Schwächen der Studie liegen

  1. in der Dokumentationsqualität der Perinatalerhebung in den Geburtskliniken.

  2. Auch ist die Aussagekraft der Ergebnisse aufgrund der relativ kleinen Gruppen und der teils geringen Unterschiede bei geringen Häufigkeiten begrenzt. Es ist denkbar, dass die Unterschiede zumindest bei größeren Gruppen statistisch signifikant werden könnten.

  3. Ergebnisse aus einer Großstadt mit hohem Migrantenanteil unter den Schwangeren und entsprechender Versorgungserfahrung sowie aus Kliniken der Maximalversorgung lassen sich möglicherweise nicht auf kleinere Städte oder ländliche Regionen mit geringerem Migrantenanteil in der Bevölkerung, längeren Anfahrtswegen zu den Geburtskliniken sowie anderer personeller und materieller Ausstattung übertragen.

Trotz der methodischen Kritikpunkte dürften unsere Ergebnisse zu den derzeit validesten gehören.


#

Fazit für die Praxis

Der soziodemografische Faktor „Migrationshintergrund“ hat offenbar keine relevante (negative) Bedeutung bei der Indikationsstellung und für die geburtshilfliche Ergebnisqualität bei Gebärenden, die einer Notsectio bedürfen, und für deren Neugeborene.


#
#

Conflict of Interest/Interessenkonflikt

The authors declare that they have no conflict of interest./
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

  • References/Literatur

  • 1 Deneux-Tharaux C, Carmona E, Bouvier-Colle MH. et al. Postpartum maternal mortality and caesarean delivery. Obstet Gynecol 2006; 108: 541-548
  • 2 Hyde MJ, Mostyn A, Modi N. et al. The health implications of birth by caesarean section. Biol Rev 2012; 87: 229-243
  • 3 Río I, Castelló A, Barona C. et al. Caesarean section rates in immigrant and native women in Spain: the importance of geographical origin and type of hospital for delivery. Eur J Public Health 2010; 20: 524-529
  • 4 Zizza A, Tinelli A, Malvasi A. et al. Caesarean section in the world: a new ecological approach. J Prev Med Hyg 2011; 52: 161-173
  • 5 IQTIQ. Hrsg. Qualitätsreport 2016. Berlin: Eigenverlag; 2017: 129
  • 6 BQS-Institut. Hrsg. Jahresauswertung 2016 Geburtshilfe. Berlin Gesamt. Berlin: Eigenverlag; 2017
  • 7 Mölgg A, Jirecek S, Girtler V. et al. Maternal and neonatal outcome for singleton and twin pregnancies in emergency cesarean section vs. urgent cesarean section in a retrospective evaluation from 2003–2012. Open Journal of Obstetrics and Gynecology 2014; 4: 881-888
  • 8 Heller G, Bauer E, Schill S. et al. Decision-to-delivery time and perinatal complications in emergency cesarean section. Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 589-596 doi:10.3238/arztebl.2017.0589
  • 9 Gissler M, Alexander S, Macfarlane A. et al. Stillbirths and infant deaths among migrants in industrialized countries. Acta Obstet Gynecol Scand 2009; 88: 134-148
  • 10 Bollini P, Pampallona S, Wanner P. et al. Pregnancy outcome of migrant women and integration policy: a systematic review of the international literature. Soc Sci Med 2009; 68: 452-461
  • 11 Razum O, Reeske A, Spallek J. Hrsg. Gesundheit von Schwangeren und Säuglingen mit Migrationshintergrund. Frankfurt am Main: Peter Lang; 2011
  • 12 Merry L, Small R, Blondel B. et al. International migration and caesarean birth: a systematic review and meta-analysis. BMC Pregnancy Childbirth 2013; 13: 27
  • 13 Oberaigner W, Leitner H, Oberaigner K. et al. Migrants and obstetrics in Austria–applying a new questionnaire shows differences in obstetric care and outcome. Wien Klin Wochenschr 2013; 125: 34-40
  • 14 David M, Borde T, Brenne S. et al. Obstetric and perinatal outcomes among immigrant and non-immigrant women in Berlin, Germany. Arch Gynecol Obstet 2018; 297: 313-322
  • 15 Schenk L, Bau AM, Borde T. et al. Mindestindikatorensatz zur Erfassung des Migrationsstatus. Empfehlungen für die epidemiologische Praxis. Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 2006; 9: 853-860
  • 16 Bongard S, Pogge SF, Arslaner H. et al. Acculturation and cardiovascular reactivity of second-generation Turkish migrants in Germany. J Psychosom Res 2002; 53: 795-803
  • 17 Statistisches Bundesamt/Destatis. Bevölkerung mit Migrationshintergrund auf Rekordniveau. Online: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/MigrationIntegration/MigrationIntegration.html last access: 05.10.2016
  • 18 Betrán AP, Merialdi M, Lauer JA. et al. Rates of caesarean section: analysis of global, regional and national estimates. Paed Perinatal Epidemiol 2007; 21: 98-113
  • 19 McCourt C, Weaver J, Statham H. et al. Elective cesarean section and decision making: a critical review of the literature. Birth 2007; 34: 65-79
  • 20 Lavender T, Hofmeyr GJ, Neilson JP. et al. Caesarean section for non-medical reasons at term. Cochrane Database Syst Rev 2012; (03) CD004660 doi:10.1002/14651858.CD004660.pub3
  • 21 Lagrew DC, Bush MC, McKeown AM. et al. Emergent (crash) cesarean delivery: indications and outcomes. Am J Obstet Gynecol 2006; 194: 1638-1643

Correspondence/Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Matthias David
Charité Universitätsmedizin Berlin
Campus Virchow-Klinikum
Klinik für Gynäkologie
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
Germany   

  • References/Literatur

  • 1 Deneux-Tharaux C, Carmona E, Bouvier-Colle MH. et al. Postpartum maternal mortality and caesarean delivery. Obstet Gynecol 2006; 108: 541-548
  • 2 Hyde MJ, Mostyn A, Modi N. et al. The health implications of birth by caesarean section. Biol Rev 2012; 87: 229-243
  • 3 Río I, Castelló A, Barona C. et al. Caesarean section rates in immigrant and native women in Spain: the importance of geographical origin and type of hospital for delivery. Eur J Public Health 2010; 20: 524-529
  • 4 Zizza A, Tinelli A, Malvasi A. et al. Caesarean section in the world: a new ecological approach. J Prev Med Hyg 2011; 52: 161-173
  • 5 IQTIQ. Hrsg. Qualitätsreport 2016. Berlin: Eigenverlag; 2017: 129
  • 6 BQS-Institut. Hrsg. Jahresauswertung 2016 Geburtshilfe. Berlin Gesamt. Berlin: Eigenverlag; 2017
  • 7 Mölgg A, Jirecek S, Girtler V. et al. Maternal and neonatal outcome for singleton and twin pregnancies in emergency cesarean section vs. urgent cesarean section in a retrospective evaluation from 2003–2012. Open Journal of Obstetrics and Gynecology 2014; 4: 881-888
  • 8 Heller G, Bauer E, Schill S. et al. Decision-to-delivery time and perinatal complications in emergency cesarean section. Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 589-596 doi:10.3238/arztebl.2017.0589
  • 9 Gissler M, Alexander S, Macfarlane A. et al. Stillbirths and infant deaths among migrants in industrialized countries. Acta Obstet Gynecol Scand 2009; 88: 134-148
  • 10 Bollini P, Pampallona S, Wanner P. et al. Pregnancy outcome of migrant women and integration policy: a systematic review of the international literature. Soc Sci Med 2009; 68: 452-461
  • 11 Razum O, Reeske A, Spallek J. Hrsg. Gesundheit von Schwangeren und Säuglingen mit Migrationshintergrund. Frankfurt am Main: Peter Lang; 2011
  • 12 Merry L, Small R, Blondel B. et al. International migration and caesarean birth: a systematic review and meta-analysis. BMC Pregnancy Childbirth 2013; 13: 27
  • 13 Oberaigner W, Leitner H, Oberaigner K. et al. Migrants and obstetrics in Austria–applying a new questionnaire shows differences in obstetric care and outcome. Wien Klin Wochenschr 2013; 125: 34-40
  • 14 David M, Borde T, Brenne S. et al. Obstetric and perinatal outcomes among immigrant and non-immigrant women in Berlin, Germany. Arch Gynecol Obstet 2018; 297: 313-322
  • 15 Schenk L, Bau AM, Borde T. et al. Mindestindikatorensatz zur Erfassung des Migrationsstatus. Empfehlungen für die epidemiologische Praxis. Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 2006; 9: 853-860
  • 16 Bongard S, Pogge SF, Arslaner H. et al. Acculturation and cardiovascular reactivity of second-generation Turkish migrants in Germany. J Psychosom Res 2002; 53: 795-803
  • 17 Statistisches Bundesamt/Destatis. Bevölkerung mit Migrationshintergrund auf Rekordniveau. Online: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/MigrationIntegration/MigrationIntegration.html last access: 05.10.2016
  • 18 Betrán AP, Merialdi M, Lauer JA. et al. Rates of caesarean section: analysis of global, regional and national estimates. Paed Perinatal Epidemiol 2007; 21: 98-113
  • 19 McCourt C, Weaver J, Statham H. et al. Elective cesarean section and decision making: a critical review of the literature. Birth 2007; 34: 65-79
  • 20 Lavender T, Hofmeyr GJ, Neilson JP. et al. Caesarean section for non-medical reasons at term. Cochrane Database Syst Rev 2012; (03) CD004660 doi:10.1002/14651858.CD004660.pub3
  • 21 Lagrew DC, Bush MC, McKeown AM. et al. Emergent (crash) cesarean delivery: indications and outcomes. Am J Obstet Gynecol 2006; 194: 1638-1643