intensiv 2018; 26(02): 58-59
DOI: 10.1055/s-0043-124952
Kolumne
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Auf ein (Un-)Wort!

Heidi Günther
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Publication Date:
07 March 2018 (online)

Wenn jemand spricht, so spricht er eine bestimmte Mundart auf einem bestimmten Niveau in einem bestimmten Sprachstil.

(Eugenio Coseriu (1921–2002), rumänischer Romanist und Sprachwissenschaftler an der Eberhard Karls Universität Tübingen)

An jedem Jahresende warte ich gespannt, wie wohl das Wort, das Unwort und der Satz des Jahres, die von der Gesellschaft für deutsche Sprache gekürt werden, lauten werden. Und, wie fast jedes Jahr, bin ich auch dieses Mal wieder ein bisschen enttäuscht. 2017 wurde das Wort des Jahres: „Jamaika-Aus“. Als hätte uns das ganze Theater um die Sondierungen der diversen Parteien und das bockige Aus durch die FDP am Ende nicht schon genug genervt. In meiner Welt wäre diese Wortschöpfung gerade mal gut, um als Unwort des Jahres herzuhalten. Außerdem wird dieses ganze Gebaren der sonnigen Karibikinsel bestimmt nicht gerecht. Nicht, dass ich dort schon mal gewesen wäre, aber in meiner Vorstellung sehe ich zumindest keine übellaunigen, machtversessenen, demotivierten Politiker und eigentümliche Balkonszenen. Eher assoziiere ich Sonne, Strand, Urlaub und fröhliche Menschen. Die Jury hat ihre Entscheidung selbstverständlich auch begründet: Der Begriff stehe nicht nur für eine schwierige Regierungsbildung, sondern sei auch sprachlich interessant. Ersteres verstehe ich ja noch und habe nur Sorge, dass eine schwierige Regierungsbildung, die uns ja ohne Zweifel bevorsteht, noch ganz andere (Un-)Wortschöpfungen hervorbringen kann. Nämlich sobald sich SPD und Union anschicken eine ebensolche vorzunehmen. Den Nachsatz über sprachliches Interesse verstehe ich allerdings überhaupt nicht. Das will nichts heißen – ich muss ja nicht alles verstehen. Vielleicht haben Sie ja eine Idee?

Immerhin werden in fast allen Ländern dieser Welt sprachliche Höhepunkte des jeweils vergangenen Jahres gekürt. Tröstlich dabei ist, dass auch andere Länder keine kreativeren Sieger zu verkünden haben.

Dabei gibt das Thema Sprache so einiges her. Ich habe einige Kollegen – das bietet sich in meinem Multi-Kulti-Team förmlich an – mal schätzen lassen, was sie glauben, wie viele Sprachen es auf der Welt und – als zweite Schätzfrage – wie viele Dialekte oder Mundarten es in Deutschland gibt. Die Schätzungen lagen so was von daneben. Bei den Sprachen schwankten die Antworten zwischen 50 und 100 – weit gefehlt: Es gibt auf der Welt tatsächlich 6.500 Sprachen. Und in Deutschland tatsächlich neben bayrisch und sächsisch noch weitere 51 Dialekte, auch da lagen die Kollegen mit Schätzungen zwischen 10 und 15 deutlich daneben. Ich muss natürlich zugeben, dass ich diese Zahlen auch nicht nur durch meine gute Allgemeinbildung aus dem Ärmel geschüttelt habe. Wie so oft musste ich wieder einmal Wikipedia bemühen.

Sprachlich gesehen ist ein Krankenhaus ja geradezu eine Fundgrube der sprachlichen Be- und Absonderheiten und mit hohem Potenzial prädestiniert, bei der Jury mindestens Beachtung zu finden. Um es vorwegzunehmen: Das hat nur sehr wenig, bestenfalls ein ganz kleines bisschen mit den Kollegen aus dem Ausland oder einer speziellen sprachlichen Region unseres Landes zu tun. Es hat oft viel von Realsatire, wenn der niederbayrische Patient dem bosnischen Krankenpfleger seine Wünsche verständlich machen will. Da nützt dann auch die mit großem Erfolg bestandene B2-Prüfung nichts. Dummerweise kann selbst ich da oft nicht weiterhelfen und auch meine Bitte, es doch mal auf Hochdeutsch zu versuchen, wird meist abschlägig beschieden. Schließlich san mia hiar dahoam und mia san mia! Nicht viel anders ergeht es uns mit unseren arabischen Patienten. Nur, dass sie hier nicht zu Hause sind und trotzdem erwarten, dass wir ihre Sprache sprechen. Nein, das tun wir eher weniger, um nicht zu sagen gar nicht. Die Kommunikation artet dann oft in eine pantomimische Vorstellung mit Zurhilfenahme lustiger Piktogramm-Karten aus. Zwischendurch möchte ich nur kurz erwähnen, dass ich nach wie vor auf einer Station und nicht im Varieté arbeite! Ich kann es ja jetzt mal auf die Spitze treiben: Ein Kollege aus Bosnien, Serbien, Ungarn oder einem ganz anderen Land soll einem Patienten aus wieder einem ganz anderen Land, der mit einer Handfraktur in unser Haus kommt, erklären, dass eben diese gebrochene Hand jetzt in einem „Mädchenfänger“ platziert wird. Dazu musste der ausländische Mitarbeiter zuvor erst einmal lernen, dass diese Extensionshülse bei uns „Mädchenfänger“ genannt wird. Die Kollegen mussten auch lernen – und das hat das Goethe-Institut im Deutschunterricht schmerzlich vernachlässigt –, dass eine Urinflasche als „Ente“ bezeichnet wird. Und dann das dazugehörige Wasserlassen – die deutsche Sprache bringt schier unendliche Begrifflichkeiten hervor, auf die ich jetzt lieber nicht im Detail eingehen möchte. Und dann erst diese vielen Namen! Vielleicht liegt es auch an der Globalisierung oder aber an den immer geringer werdenden Liegezeiten der Patienten: Kein Mensch scheint sich mehr Namen merken zu können und ich nehme mich da überhaupt nicht aus. Wahrscheinlich bin ich sogar mit meinem Unvermögen, mir Namen zu merken, ganz weit vorn. Schnell werden aus den Frauen Lehmann und Mariczikanitziky die Füße von Zimmer 3 und aus den Herren Huber und Nidal Abdel Hafid El Ahmad die Hüfte und das Knie von Zimmer 1.

Was ich eigentlich nur sagen möchte ist, dass unsere Sprache so viel mehr hergibt, als nur am Ende eines Jahres einen Begriff als Wort oder Unwort des Jahres zu küren. „Jamaika-Aus“ sollte da eigentlich ganz weit hinten zu finden sein. Vielleicht sollten sich die Mitglieder dieser Jury mal unter das Volk in einem Betrieb, einer U-Bahn, einer Universität oder wo auch immer mischen. Sie würden dort garantiert fündig. Vielleicht sollte ich mich im nächsten Jahr aber auch mal aufraffen und meine Ideen für das Wort, das Unwort oder den Satz des Jahres 2018 an entsprechender Stelle einreichen. Das geht nämlich auch.

In diesem Sinne, Ihre

Heidi Günther
hguenther@schoen-kliniken.de