ergopraxis 2018; 11(04): 40-42
DOI: 10.1055/s-0043-123551
Perspektiven
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Anorexie aus Klientensicht – „Ich habe überlebt“

Larissa Sarand

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Publication Date:
06 April 2018 (online)

 

Larissa Sarand erkrankte mit 26 Jahren an Magersucht. Dabei hatte sie nie im Sinn, „mager“ zu werden oder einem vermeintlichen Schönheitsideal nachzueifern. Selbstzweifel und Verlust waren es, die sie dazu trieben und beinahe das Leben kosteten. Sie berichtet über die letzten Jahre und ihr Buch „Friss oder stirb“ – schonungslos, unverblümt und mit schwarzem Humor.


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Abb.: Konstantin Zander

Magersüchtige sind Mädchen und junge Frauen, die nach einem vermeintlichen Schönheitsideal streben und sich um jede Mahlzeit drücken. Oder? Nun, im Gegensatz zu den tatsächlich zahlreichen Facetten der Erkrankung ist die Antwort auf diese Frage simpel: Nein.

Aber woher sollen es „Normalesser“ besser wissen? Schon der in meinen Augen ungünstig gewählte Begriff „Magersucht“ muss zwangsläufig zu falschen Annahmen verleiten. Die wenigsten Patienten magern ab, weil sie ein fragwürdiges Ästhetikempfinden haben. Und der Suchtcharakter der Anorexie ergibt sich nicht aus hervorstechenden Rippen und storchenhaften Beinen, sondern aus dem unbedingten Wunsch nach Autonomie und Kontrolle. Die Magersucht ist „lediglich“ die nach außen hin sichtbare Auswirkung großer innerer Konflikte und Probleme. Herauszufinden, worin diese eigentlich bestehen, ist für die Betroffenen eine echte Mammutaufgabe.

Die Frage nach dem Warum

„Warum wurde ich magersüchtig? Welchen ‚Gewinn‘ brachte mir die Magersucht ein?“ Die Antworten darauf haben sich mir bis heute nicht wirklich erschlossen. Letzten Endes kann ich nur Vermutungen darüber anstellen, die ich mir aus möglichst logischen Kausalketten zusammengebastelt habe. Denn ich bin schon aufgrund meines späten Einstiegsalters alles andere als die „klassische“ Anorexie-Patientin.

Natürlich hat jede Magersüchtige ihre ganz individuellen „Gründe“ für das Ausbilden einer Anorexie. Dennoch steht fest: Etwa 90 Prozent der Betroffenen sind Mädchen, die während der Pubertät erkranken [3]. Eine gängige These ist, dass die auftretenden körperlichen und psychischen Veränderungen von den Betroffenen nicht gut bewältigt werden können und sie mit „Hilfe“ der Anorexie die Kontrolle über diese Vorgänge zu erlangen versuchen. Außerdem finden sich in den Familien magersüchtiger Mädchen oftmals Eltern mit extrem hohen Leistungsansprüchen. Die meisten Magersüchtigen haben außerdem eine sogenannte Körperschemastörung. Sie empfinden sich auch dann noch als zu dick, wenn sie bereits ein lebensbedrohliches Untergewicht erreicht haben [1].


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Das Leben im Griff haben

In Bezug auf die Ursachen für Magersucht werden auch noch andere Faktoren aufgeführt, mit denen wir in meinem Fall der Sache näherkommen: Dazu gehören Selbstzweifel, ein geringes Selbstwertgefühl sowie das Eintreten belastender Situationen wie Tod oder Trennung nahestehender Personen [2]. Irgendwo hier muss bei mir der Ursprung des Übels sitzen. Denn auch wenn ich stets ein Spätzünder war, hatte ich zu Beginn der Magersucht mit 26 Jahren doch schon lange die Pubertät hinter mir gelassen. Auch eine Körperschemastörung habe ich nie entwickelt. Ich sah, dass ich (zu) dünn war, aber dieser Umstand ging mit einer – anders kann ich es nicht ausdrücken – freudlosen Befriedigung einher.

Magersucht ist eine Höchstleistung.

Nach dem Ausschlussprinzip bleiben bei mir zwei Stellgrößen übrig, denen ich eine Mitschuld an meiner Essstörung geben kann: der Verlust meiner Eltern – vor allem der meines geliebten Vaters – und die kläglichen Reste eines Selbstwertgefühls, das meine Mutter kontinuierlich und im wahrsten Sinne des Wortes aus mir herausgeprügelt hat. Da ich aufgrund des fehlenden Selbstwerts nicht glauben kann, dass ich eine Existenzberechtigung habe, wenn ich keine Leistungen erbringe, definiere ich mich über diese. Und ich bin mir durchaus des faden Beigeschmacks meiner folgenden Aussage bewusst, zutreffend ist sie trotzdem: Magersucht ist eine Höchstleistung. Dafür sind unbedingte Disziplin, exakte Planung und eiserner Wille vonnöten. Außerdem bot die Anorexie mir nach einer Phase absolut unkontrollierbarer Ereignisse, dem Krebstod meines Vaters und dem Suizid meiner Mutter, die Möglichkeit, endlich wieder selbst die Dinge im Griff zu haben. Ich hatte wieder die Kontrolle, hatte mich unter Kontrolle.


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Von high bis beschissen

Die Krankheit hat mich physisch immens geschwächt, aber psychisch beflügelt – so der verquere Gedankengang einer Erkrankten. Und irgendwann veränderte sich auch mein Verhältnis zum Hunger. War es anfänglich eine Tortur, ständig mit einem gefühlten Loch im Bauch herumzulaufen, ließ es sich mit der Zeit immer leichter ertragen. Mehr noch: Oft war ich regelrecht „high“ vom Hungern. Wer schon einmal eine Fastenkur gemacht hat, hat vielleicht Ähnliches erlebt. Hierbei produziert der Körper verstärkt das Glückshormon Serotonin, und ein Hochgefühl breitet sich aus.

Natürlich hat mich die Magersucht alles andere als glücklich gemacht. Es ging mir in dieser Zeit wirklich beschissen. Aber ich erinnere mich an Momente, in denen ich vor Hunger am Ende meiner körperlichen Leistungsfähigkeit die Straße entlanglief und geradezu abzuheben schien. Plötzlich fühlte sich alles ganz leicht an. Ich schwebte über dem Boden – und über den Dingen. Dieses Gefühl birgt ein Suchtpotenzial, und ich bin mir sicher, viele Anorektiker werden mir darin zustimmen. Im Endeffekt sind wir also weniger süchtig danach, mager zu sein, als vielmehr danach, Kontrolle über uns auszuüben, unsere Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und dafür regelmäßig mit besagtem Euphorie-Schub „belohnt“ zu werden. Diese Sucht hält in der Krankheit gefangen und lässt nicht wenige mit dem Leben bezahlen.


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Verbleib in der Komfortzone

Die Frühphase meiner Krankheit begriff ich gar nicht als solche. Zu keinem Zeitpunkt habe ich mir bewusst „vorgenommen“, magersüchtig zu werden. Quasi von heute auf morgen begann ich Öl, Fett und Kohlenhydrate zu meiden. Die Verbotsliste für Lebensmittel wuchs rasch an und verselbstständigte sich. Bald bestand mein Speiseplan beinahe ausschließlich aus Salat und Tiefkühl-Wok-Gemüse. Fast zwei Jahre lang redete ich mir erfolgreich ein, es handelte sich bei diesem Verhalten um eine gesunde Ernährung und nicht um eine psychische Erkrankung.

Das Gefühl, über dem Boden zu schweben, bietet ein enormes Suchtpotenzial.

Als ich mir mit einem Kampfgewicht von etwa 40 Kilo endlich eingestand, dass ich ein Problem mit dem Namen Magersucht hatte, öffnete ich mich meinen Freunden. Viele hatten mich natürlich schon früher auf meine Gewichtsreduktion angesprochen. Aber sie konnten meinen häufig aggressiv vorgetragenen Ausreden nichts entgegensetzen. Ich war schlicht und ergreifend beratungsresistent. Nun also trat ich allerorts zur Beichte an und berichtete von meinem Vorhaben, mich in therapeutische Hände zu begeben. Das mir entgegengebrachte Verständnis war groß – zu groß, um ehrlich zu sein. Denn fortan brauchte ich kein Versteckspiel mehr, um meine Anorexie zu betreiben. Bei gemeinsamen Feiern bot mir niemand mehr von sich aus ein Stück Kuchen an, und ich konnte völlig unbehelligt ein Glas Cola Light nach dem anderen in mich hineinschütten, die extra für mich und meine Essstörung eingekauft worden war. Meine Freunde, von denen einige künftig sogar vermieden, in meiner Anwesenheit selbst etwas zu essen, verfolgten mit ihrem Verhalten zwar die besten Absichten, aber ermöglichten mir damit den Verbleib in meiner Komfortzone.


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Keine Normalität ohne Konfrontation

Falls Sie in Ihrem Umfeld Betroffene haben: Bitte ändern Sie Ihr Verhalten nicht. Die Konfrontation mit unseren Ängsten, also dem Essen, ist ebenso unangenehm wie wichtig. Wir können nur in die Normalität zurückfinden, wenn wir normale Dinge tun. Dazu gehört es eben auch, anderen Menschen beim Essen zuzusehen, sich hin und wieder ein Stück Kuchen einzuverleiben und eine Limonade zu trinken. Wenn wir das nicht jederzeit können, ist das in Ordnung. Aber das Angebot muss bestehen bleiben. Ansonsten können Sie, so meine Erfahrung, nicht sonderlich viel tun, um Magersüchtigen aktiv Hilfestellung zu bieten. Die Krankheitseinsicht und der Wille, aus der Anorexie auszubrechen, muss von den Patienten selbst kommen. Wenn mich jemand drängte, etwas zu essen, was ich nicht wollte, kompensierte ich die mir aufgezwungenen Zusatzkalorien umgehend mit einer Zusatz-Sporteinheit.


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Ein kräfteraubend zäher Genesungsweg

Bei meiner Therapeutensuche hatte ich bereits im zweiten Anlauf Glück. Zunächst war ich bei einer Psychiaterin, die mich nach einem kurzen, abschätzigen Blick lapidar fragte: „Tabletten oder gleich in die Klinik?“ Da musste ich erst mal schlucken und erkundigte mich nach weiteren Therapieformen. „Bei mir nicht“, kam prompt die Antwort, und genauso prompt verließ ich die Praxis. Auf Empfehlung einer Bekannten landete ich dann bei einem Verhaltenstherapeuten, der mir geduldig, aber konsequent auf den richtigen Weg half. Unter seiner Anleitung traute ich mich peu à peu, meine antrainierten Ernährungsstrategien aufzubrechen und meine Liste an „verbotenen Früchten“ schrittweise zu kürzen. Allmählich verstand ich, dass ein gewisser Hedonismus mich nicht zu einer undisziplinierten Versagerin macht, sondern schlichtweg Bestandteil eines lebenswerten Lebens ist.

Falls Sie in Ihrem Umfeld Betroff ene haben: Bitte ändern Sie Ihr Verhalten nicht.

Mein Genesungsweg war kräfteraubend und zäh. Nachdem ich im Herbst 2016 den Versuch unternahm, wieder „normal“ zu essen, suchten mich Fressanfälle heim, die ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können – über Wochen hinweg machte ich täglich bis zu 6.000 Kalorien platt, ohne mich gegen den Heißhunger wehren zu können. Heute weiß ich, dass das ein übliches Phänomen nach einer langen Hungerperiode ist. Aber zu dieser Zeit war ich der Ansicht, nun von der Mager- in die Fresssucht gerutscht zu sein. „Symptomverschiebung“ – eine andere Erklärung lässt sich schwer akzeptieren, wenn Sie auf dem Sofa sitzen und heulend die vierte Tafel Schokolade verdrücken, weil einfach alles in Ihnen nach Fett und Zucker schreit und obwohl Ihnen schon nach der zweiten Tafel kotzübel war.


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Gesund? Na ja

Ob ich heute gesund bin? Na ja, ein gesunder Mensch ist nur jemand, der nicht ausreichend untersucht wurde, habe ich mal gelesen. Ich schaffe es jedenfalls, mein Gewicht zu halten und Gedanken über mein Essverhalten nicht mehr meinen kompletten Alltag dirigieren zu lassen. Und da ich zeit meines Lebens das Schutzschild des Zynismus vor mir hergetragen habe, betrachte ich nun auch meine Erkrankung mit beißender Selbstironie.

Erst habe ich mich kontrolliert beinahe zu Tode gehungert und mir anschließend vollkommen unkontrolliert in kürzester Zeit wieder zehn Kilo angefressen. Ich habe mich von meinem Verlobten getrennt und meinen Job geschmissen. Ich habe im wahrsten Sinn des Wortes die Krise bekommen, und musste all das, was mir da widerfahren ist, zu Papier bringen. Nicht jedem wird gefallen, wie ich das beschreibe, was ich in „Friss oder stirb“ beschreibe. Aber ich habe eine lange Zeit hinter mir, in der ich zwischen Nacht und Dunkel schwebte – entsprechend gefärbt ist mein Humor. Ich mache Witze darüber, weil ich Witze darüber machen kann. Ich habe überlebt.


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Abb.: Konstantin Zander