ergopraxis 2018; 11(03): 16-22
DOI: 10.1055/s-0043-123522
Ergotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Handeln gegen Trägheit – Handeln ermöglichen – Trägheit überwinden

Andreas Pfeiffer

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
02. März 2018 (online)

 

Wie können Ergotherapeuten Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen motivieren, wieder aktiv zu werden und Veränderungen auch wirklich anzugehen? Andreas Pfeiffer ist einer der Autoren, die ein dafür etabliertes kanadisches Therapieprogramm für deutsche Ergotherapeuten zugänglich machten. Ein Einblick.


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Andreas Pfeiffer Ergotherapeut MSc, arbeitet seit 2001 am LVR-Klinikum Duüsseldorf – Kliniken der Heinrich-Heine-Universitaät Duüsseldorf. Schwerpunkte sind dort die Arbeit auf einer Akutstation und die ambulante Ergotherapie. 2017 erhielt er gemeinsam mit Dipl.-Psychologe Werner Höhl für das Projekt „Handeln gegen Trägheit“ den Preis für Pflege- und Gesundheitsfachberufe in Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der DGPPN.

Ziel

des Recovery-orientierten Verfahrens ist ein selbstbestimmtes Leben.

Lernziele

  • Sie lernen das Programm „Handeln gegen Trägheit“ kennen.

  • Sie können aufzeigen, was ein Recovery-orientiertes Verfahren ist.

  • Sie können die sechs Prozessschritte von „Handeln gegen Trägheit“ erläutern.

Ergotherapeuten, die in der psychiatrischen Versorgung tätig sind, erleben derzeit starke Veränderungen: Einerseits sollen Klienten Therapieangebote erhalten, die sie wirklich weiterbringen, also effektiv sind. Andererseits soll man diese Angebote schnell und mit möglichst geringem materiellen, finanziellen und zeitlichen Aufwand umsetzen. Das erfordert evidenzbasierte therapeutische Angebote, deren Wirksamkeit also durch Studien belegbar ist. Um Ergotherapie in solchen Wirksamkeitsstudien zu überprüfen, benötigen wir systematisierte und klar beschriebene Therapieinhalte.

Eine weltweite Recherche aus dem Jahr 2014 zeigte, dass in der psychiatrischen Ergotherapie nur eine einzige Intervention diesen Bedingungen entsprach: die kanadische Intervention „Action over Inertia“ – entwickelt im Jahr 2010 von einem Team um die kanadische Ergotherapeutin Prof. Dr. Terry Krupa [1].

Betätigung im Mittelpunkt „Action over Inertia“ erfüllt nicht nur erste Ansätze einer Evidenzbasierung, sondern ist zudem klientenzentiert und betätigungsorientiert. Die kanadischen Autoren entwickelten die Intervention für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, da diese am wenigsten von Gesundheitsförderungsangeboten erreicht werden. Dabei gingen die Autoren bei der Entwicklung von „Action over Inertia“ von vier Grundannahmen aus:

  • Betätigung ermöglicht Gesundheit und Wohlbefinden.

  • Ergotherapie verfügt über Methoden, die Betätigung fördern – diese sind aber bisher wenig systematisiert.

  • Ergotherapie verfügt über einen besonderen Blick und die Kompetenzbasis, die Beteiligung an Betätigung zu ermöglichen.

  • Interventionen, die Menschen mit psychischen Erkrankungen eine Beteiligung an Betätigung ermöglichen, sollten berufsgruppenübergreifend angeboten werden.

Ein Recovery-orientierter Ansatz Bei der Intervention handelt es sich um ein Recovery-orientiertes Verfahren (RECOVERY). Das heißt, das Ziel ist nicht die Gesundung im Sinne der maximalen Symptomreduktion, sondern ein selbstbestimmtes Leben. Auch bei krankheitsbedingten Einschränkungen soll dabei eine möglichst hohe Lebensqualität erreicht werden.

Der Begriff Recovery wird im englischsprachigen Raum in der Rehabilitation seit vielen Jahren verwendet. Zu Beginn galt Recovery häufig als Ergebnisparameter (Outcome). Infolgedessen entstanden Definitionen, die sich nah an der wörtlichen Übersetzung orientierten (Erholung, Besserung, Genesung oder Gesundung). Seit den 1980er Jahren entwickeln sich zunehmend andere Definitionen, meist durch Menschen formuliert, die eigene Erfahrungen im Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung haben. Diese betrachten Recovery als einen persönlichen Prozess.

Nach den aktuellen Zahlen des Robert-Koch-Institutes leiden circa 40,8 Prozent der Bevölkerung in Deutschland an mindestens einer chronischen Erkrankung. Bei Menschen über 65 Jahren sind es fast 60 Prozent [3]. Dies unterstreicht die Bedeutung des Recovery-orientierten Ansatzes in der Rehabilitation. Und auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde beschrieb Recovery in der S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien“ [4].

Merkmale von Recovery Eine amerikanische Expertenkommission erarbeitete 2004 verschiedene Merkmale von Recovery [5]:

  • Selbstbestimmung (der Klient sollte primär die Entscheidungen treffen)

  • Individualisierung und Personenzentrierung (jede Rehabilitation ist anders)

  • Empowerment (Ermächtigung zu Autonomie, Selbstbestimmung und Kontrolle des eigenen Schicksals)

  • Ganzheitlichkeit (Körper, Geist und Seele im Blick halten)

  • Nichtlinearität (der Rehabilitation – auch Rückschläge gehören dazu)

  • Stärkenbasierung

  • gegenseitige Unterstützung (Peer-Unterstützung)

  • Respekt

  • Verantwortung

  • Hoffnung (Vision einer positiven Zukunft und gesellschaftlicher Teilhabe)

Die Merkmale sind für Ergotherapeuten nicht überraschend, sondern eher üblicher Standard in der Therapie. Einzig die Peer-Beteiligung, also die Einbeziehung von Menschen mit einer Krankheitserfahrung als Genesungsbegleiter, bildet dabei wahrscheinlich (noch) die einzige Ausnahme. Zwar gab es hier in den vergangenen Jahren in Deutschland bereits erste gute Erfahrungen, dennoch ist dieses Angebot bisher kaum verbreitet.

„Action over Inertia“ auch für die deutsche Ergotherapie In einem aufwendigen Prozess habe ich gemeinsam mit Dipl.-Psychologe Werner Höhl diese Intervention ins Deutsche übertragen und eine Pilotstudie dazu durchgeführt. Ende 2016 veröffentlichten wir das deutschsprachige Arbeitsbuch „Handeln ermöglichen – Trägheit überwinden“ mit der Intervention „Handeln gegen Trägheit“ im Schulz-Kirchner Verlag [6].

Recovery – Definition

Recovery ist beschrieben als ein sehr persönlicher, einzigartiger Prozess der Veränderung eigener Haltungen, Werte, Gefühle, Ziele, Fähigkeiten und/oder Rollen. Es ist ein Weg zu einem befriedigenden und hoff- nungsvollen Leben, welches einen sozialen Beitrag leistet trotz der durch Krankheit verursachten Einschränkungen. Recovery beinhaltet die Entwicklung von neuem Sinn und Zweck im Leben, um über die katastrophalen Auswirkungen der psychischen Krankheit hinauszuwachsen.

eigene Übersetzung nach Anthony 1993 [2]

Für die deutsche Version gelten dieselben Grundannahmen, somit hat auch die multiprofessionelle Zusammenarbeit eine hohe Bedeutung. Um die Transparenz zwischen den Berufsgruppen zu erhöhen, sprechen wir im Arbeitsbuch von Aktivität – auch wenn in der ergotherapeutischen Fachsprache die Begriffe Betätigung oder Handeln üblich sind. So sind beispielsweise bei Aktivitätsmustern Betätigungsmuster gemeint.

Aktivität führt zu Gesundheit Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und Aktivität lässt sich durch die gute Datenlage für den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Krankheit erkennen: Menschen ohne Arbeit haben die meisten Krankenhaustage, die höchste Fallzahl im Krankenhaus [7] und bereits nach zwei Jahren ein viermal höheres Sterberisiko [8]. Es besteht dabei kein Zusammenhang mit Gesundheitsproblemen vor der Arbeitslosigkeit [9]. Bei Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen verkürzt sich die Lebenserwartung sogar um durchschnittlich mehr als 25 Jahre wegen Passivität oder gesundheitsgefährdenden Aktivitäten [10].

Die skandinavischen Autoren Ulrika Bejerholm und Mona Ecklund beschrieben im Rahmen ihrer Forschungsaktivitäten sieben Dimensionen von Aktivitäten [11, 12]:

  • Balance

  • körperliche Aktivität

  • Struktur und Routine

  • Bedeutung

  • Zufriedenheit

  • soziale Integration

  • Zugang zum Gemeindeumfeld/Teilhabe

Diese sieben Dimensionen von Aktivitäten sind fest im Therapieprogramm „Handeln gegen Trägheit“ integriert. Für jeden einzelnen Aspekt gibt es im Arbeitsbuch ein Erhebungsblatt und ein zusätzliches Arbeitsblatt, welches alle Dimensionen mit Selbsteinschätzungsskalen betrachtet.

Ziel: Aktivitäten umverteilen und besser nutzen Bei „Handeln gegen Trägheit“ geht es weniger um den Aufbau von Aktivitäten als eher um eine Umverteilung innerhalb der Betätigungskategorien mit einer Veränderung der Betätigungsbalance. Konkret bedeutet dies häufig, weniger Zeit mit Ruhen und mehr mit Selbstfürsorge (Self-Care), Freizeitaktivitäten oder Produktivität zu verbringen. Wobei es durchaus aktive Klienten gibt, die zum Beispiel sehr viel Zeit mit Computerspielen oder mit der Arbeit verbringen. Bei ihnen kann es darum gehen, Zeitanteile zugunsten anderer Betätigungsbereiche zu verringern, um beispielsweise mehr Zeit mit Ruhen, Erholung oder Freizeit zu verbringen.

Klientenzentrierte Beratung im Vordergrund der Therapie Insgesamt enthält das Arbeitsbuch 31 Arbeits- und 19 Informationsblätter [6]. Es gibt keine Vorgabe, wie viele und welche Arbeits- und Informationsblätter im Verlauf des therapeutischen Prozesses zum Einsatz kommen. Zwei Arbeitsblätter dienen der Ergotherapeutin eingangs der Fremdbewertung, fünf unterstützen sie bei der eigenen Reflexion und eines soll die Implementierung der Intervention in ihr eigenes Arbeitsfeld unterstützen.

Die Menge an Material erweckt häufig den Verdacht, dass dies für die Klienten eine Überforderung sein könnte. In der von den Therapeuten gesteuerten Nutzung zeigt sich jedoch immer wieder, dass die Klienten die Materialien eher als Entlastung wahrnehmen, da sie eine systematisierte Beratungsgrundlage darstellen. Hier sind die Therapeuten gefordert, die Arbeits- und Informationsblätter der Sprache der Klienten anzupassen. Klient und Therapeutin entscheiden gemeinsam, welche Arbeits- und Informationsblätter für die Therapie hilfreich sein könnten. Deren Reihenfolge ist nicht festgelegt.

Auch die Sorge, dass die manualisierte Intervention unflexibel und nicht klientenzentriert sei, ist unbegründet. Grundsätzlich ist man bei „Handeln gegen Trägheit“ nicht zwingend auf die Arbeitsmaterialien angewiesen – es ginge auch ohne. Folglich kann man die Intervention problemlos in der alltäglichen Umwelt des Klienten durchführen, bei ihm zu Hause oder auch in einem Café. Man braucht lediglich einen Ort, an dem sich Klient und Therapeutin ungestört miteinander austauschen können.

Bei „Handeln gegen Trägheit“ wird im Wesentlichen miteinander gesprochen. Dieses Vorgehen verändert die psychiatrische Ergotherapie deutlich: Die klientenzentrierte Beratung nimmt einen hohen Stellenwert ein. Die zahlreichen Arbeits- und Informationsblätter dienen dabei lediglich als Unterstützung und Strukturierung für das Gespräch zwischen dem Klient und der Therapeutin (FALLBEISPIEL, S. 20).

Bei „Handeln gegen Trägheit“ wird im Wesentlichen miteinander gesprochen. Dieses Vorgehen verändert die psychiatrische Ergotherapie deutlich.

Flexibel handhabbar, aber dennoch klar strukturiert Um die Intervention zu systematisieren, sind ein klar beschriebener Prozess und strukturiertes Arbeits- und Informationsmaterial erforderlich. „Handeln gegen Trägheit“ erfüllt diese Kriterien. So ist das Arbeitsbuch in sieben Kapitel gegliedert. Die ersten sechs Kapitel entsprechen dabei den Prozessschritten der Intervention selbst. Das siebte Kapitel beschäftigt sich mit der Implementierung der Grundannahmen und der Intervention in Institutionen und der Gesellschaft:

  • Vorbereitungen zur Nutzung des Arbeitsbuches

  • persönliche Aktivitätsmuster verstehen

  • ein erster Schritt: schnelle Veränderungen bei Aktivitäten erreichen

  • Bereitstellung von Informationen über Aktivität, Gesundheit und psychische Erkrankungen

  • längerfristige Veränderungen erreichen

  • Aktivitätsveränderungen unterstützen und auswerten

  • Gesundheit durch Aktivität bei der Angebotsentwicklung thematisieren

1. Vorbereitungen zur Nutzung des Arbeitsbuches

Im ersten Schritt betrachtet und erhebt man die Aktivitätsmuster des Klienten, um zu entscheiden, ob diese Intervention in Betracht kommt. Dem Klienten stellt man dafür Arbeitsmaterial zur Überprüfung zur Verfügung. Neben seiner subjektiven Sicht und Bewertung kann er mit dem Arbeitsblatt „Was sagen andere über meine Aktivitätsmuster?“ auch die Metaperspektive einnehmen. Ausnahmsweise gibt es an dieser Stelle auch Arbeitsmaterial zur Fremdeinschätzung durch die Therapeuten, das Team oder anderer am Prozess beteiligten Personen.


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2. Persönliche Aktivitätsmuster verstehen

Möchte der Klient seine Aktivitätsmuster verändern, erfolgt im zweiten Schritt eine gemeinsame Erhebung, Betrachtung und Diskussion der Aktivitätsmuster, der Betätigungsbalance und der sieben Dimensionen von Aktivität. Die Bewertung erfolgt ausschließlich durch den Klienten, was die hohe Klientenzentriertheit des Programmes unterstreicht – und von der Therapeutin entsprechende Zurückhaltung fordert.


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3. Ein erster Schritt: Schnelle Veränderungen bei Aktivitäten erreichen

Nach der zeitlich umfangreichen Erhebung und Bewertung von Aktivitätsmustern und des Veränderungswunsches aus Sicht des Klienten geht es jetzt darum, ein schnelles Erfolgserlebnis anzustreben. Das motiviert den Klienten für weitere Anstrengungen und schafft eine Dynamik von Veränderung. Dafür werden Aktivitäten möglichst gemeinsam ausgewählt, die wenig Ressourcen erfordern und schnell umsetzbar sind. Diese Aktivitäten werden als Experimente bezeichnet, da Experimente nicht unbedingt gelingen müssen, sondern immer ein Versuch mit unbekanntem Ausgang sind.


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4. Bereitstellung von Informationen über Aktivität, Gesundheit und psychische Erkrankungen

Ergotherapeuten stellen Wissen zu Krankheitsmodellen bereit, zum Beispiel zum Vulnerabilitäts-Stress-Modell, zum Umgang mit Stress, Substanzgebrauch und Stigmatisierung. Die Bedeutung dieser Themen ist für die Durchführung gesundheitsfördernder Aktivitäten so groß, dass die Therapeutin diese Inhalte aktiv anspricht. Die Materialien des Arbeitsbuches kann sie dafür individuell an den jeweiligen Klienten anpassen oder durch andere Materialien zur Psychoedukation ersetzen.


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5. Längerfristige Veränderungen erreichen

Dieser Schritt knüpft an die Dynamik erfolgreicher Aktivitätsexperimente an. Durch diese motiviert und verstärkt, planen Klient und Therapeutin gemeinsam Veränderungen (Ziele), die innerhalb von etwa sechs Monaten realisierbar sind. Es geht dabei in der Regel um die Hinzunahme neuer Aktivitäten, Wiederaufnahme früherer (angenehmer) Aktivitäten oder die Änderungen der Struktur der Zeitnutzungsmuster (Betätigungsbalance).

Fallbeispiel: Ein Klient wird aktiv

Alexander Hahn[*] ist 28 Jahre alt. Er kam wegen einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome auf unsere offene psychiatrische Akutstation.

Besonders ausgeprägt waren seine Antriebsarmut und sein Rückzug auf das Zimmer. Er lag dann nicht im Bett, sondern saß lange Phasen auf einem Stuhl an einem Tisch, ohne etwas zu tun. Auf die Besuche des Ergotherapeuten reagierte er zwar nicht abweisend, war aber generell einsilbig und affektflach. Sein Leidensdruck war für den Therapeuten spürbar. Dieser fühlte sich hilflos, da es ihm nicht gelang, das Verhalten des Klienten zu beeinflussen.

Später verbrachte Herr Hahn viele Stunden des Tages damit, Autorennen auf seinem Smartphone zu spielen. Trotz zahlreicher multiprofessioneller Interventionen war über viele Wochen keine nennenswerte Veränderung erkennbar. Auf das Personal und andere Klienten wirkte er durch sein Verhalten eher abweisend.

Angeregt durch die Psychotherapeutin, bat Alexander Hahn den Ergotherapeuten, mit ihm eine Interessen-Checkliste auszufüllen. Er kam zum vereinbarten Termin und konnte zahlreiche Interessen in der Vergangenheit und für die Zukunft benennen, wirkte in dem Gespräch kognitiv nicht eingeschränkt, sondern sogar sehr differenziert. Auch seine sozialen Kompetenzen schienen plötzlich in keiner Weise auffällig. Klient und Ergotherapeut erkannten, dass es kein Problem sein würde, eine Aktivität durchzuführen. Aber dem Klienten war völlig unklar, warum man auch (längerfristig) aktiv sein sollte.

Der Ergotherapeut schlug vor, sich gemeinsam die sieben Dimensionen von Aktivität mithilfe der Arbeitsblätter von „Handeln gegen Trägheit“ anzuschauen. Bei der Aufzählung wirkte der Klient geradezu gebannt. Er war hoch motiviert, die Blätter auszufüllen, und begann von sich aus zu erzählen: Ihm wäre besonders die „Bedeutung“ wichtig. Er möchte bei dem Videoportal www.twitch.tv einen Live-Streaming-Kanal gestalten. Dafür habe er bereits alle Vorbereitungen getroffen, sei angemeldet und auch das technische Equipment sei vorhanden. Nur gestartet sei er noch nicht. Er habe kein finanzielles Interesse an dieser Aktivität, sie habe aber eine große Bedeutung für ihn. Er notierte „twitch.tv“ auf einen Notizzettel und gab diesen dem Therapeuten. Im nächsten Termin würde er seine Youtube-Kanäle bekanntgeben, damit der Therapeut sich diese anschauen könne – er habe dort zahlreiche Tutorials für Apps veröffentlicht.

Zu den folgenden Terminen (zwei Einzeltermine à 30 Minuten pro Woche) kam Herr Hahn immer pünktlich und zuverlässig. Er brachte ausgefüllte Erhebungsbögen mit, soweit er diese ohne Unterstützung bearbeiten konnte. In den gemeinsamen Sitzungen vervollständigte er die Bögen und diskutierte sie mit dem Ergotherapeuten. So war der ansonsten eher affektflache Klient bei der Auswertung des Zeitnutzungsprotokolls emotional berührt, da er demnach nur eine Stunde am Tag „produktiv“ war. Er bat darum, den Wert auf drei Stunden zu korrigieren, was der Therapeut ohne eine Wertung vornahm. Denn auch dies war im Verhältnis zu Freizeit und Ruhe/Erholung vergleichsweise wenig. Im Gegensatz zu der mit einem Arbeitsblatt erhobenen Fremdeinschätzung des Behandlungs- teams sah der Klient bei den meisten Aspekten von Betätigung gar keinen Veränderungsbedarf. Seiner Einschätzung nach waren lediglich Defizite in den Aspekten Zufriedenheit und Bedeutung vorhanden.

In den Gesprächen überraschte er mit neuen Informationen über sich, beispielsweise, dass er sich sehr für die englische Sprache und für Tiere interessiere. Auf dieser Grundlage vereinbarten Ergotherapeut und Klient gemeinsam bis zur nächsten Sitzung, über ein mögliches erstes Aktivitätsexperiment nachzudenken. Der Therapeut schlug vor, mit Tieren aus dem nahe gele- genen Tierheim spazieren zu gehen, was der Klient allerdings ablehnte. Herr Hahn überraschte erneut: Er brachte sein iPad zur Sitzung mit und zeigte eine 2015 begonnene Internetseite zu Apps für die AppleWatch. Die englischsprachige Seite sah sehr professionell aus, bestand jedoch vorrangig aus Blindtexten und Beispielbildern. Diese Seite wollte der Klient in den kommenden 14 Tagen fertigstellen. Dies würde ihm Zufriedenheit und Bedeutung vermitteln. Er zeigte deutlich mehr Affekt und Mimik und hielt auffällig lange Blickkontakte.

Wenige Tage später hatte er die Titelseite mit Inhalten gefüllt, Social-Media-Funktionen eingebunden und auch auf den ersten Unterseiten redaktionell bearbeitete Inhalte eingefügt. Der Klient berichtete, etwa drei Stunden täglich daran gearbeitet zu haben und dies „sei nicht unangenehm gewesen“. Er wolle sich auch in den kommenden Wochen weiter dieser Aktivität widmen, da er sie gut dosieren könne und sie ihm etwas bedeute. Dieser Erfolg könnte zu einem späteren Zeitpunkt als Grundlage für die erste längerfristige Aktivitätsveränderung dienen: tägliches Broadcasting eigener Beiträge auf twitch.tv (Live-Beiträge per Textchat, die Abonnenten jederzeit aufrufen können). Eine Aktivität, die nach der Einschätzung des Klienten täglich etwa acht Stunden Arbeit bedeute.

Das Fallbeispiel zeigt, dass die Klienten diese Intervention in hohem Maße akzeptieren. Auch die Kollegen, die „Handeln gegen Trägheit“ nutzten, berichteten, dass allein das Gespräch über Zeitnutzung, über Aktivitätsmuster und die Dimensionen von Aktivität die therapeutische Beziehung verändert habe und eine Reihe von Veränderungen beim Klienten und in der therapeutischen Beziehung auslösten.


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6. Aktivitätsveränderungen unterstützen und auswerten

Die Ergotherapeutin erfasst und bewertet die erreichten Ergebnisse der Intervention als Motivationsgrundlage. Dafür kann sie die zu Beginn erhobenen Daten erneut erheben und vergleichen. Neben dieser quantitativen Auswertung ergänzen die subjektiv erlebten Erfahrungen des Klienten die Evaluation. Die Therapeutin selbst kann die Maßnahmen durch zwei Arbeitsblätter reflektieren.

„Handeln gegen Trägheit“ ermöglicht eine klientenzentrierte und betätigungsorientierte Therapie auf Augenhöhe.


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7. Gesundheit durch Aktivität bei der Angebotsentwicklung thematisieren

Das Arbeitsbuch zeigt im siebten Kapitel Möglichkeiten auf, wie „Handeln gegen Trägheit“ in Institutionen implementiert werden kann. Auch hierfür steht Arbeitsmaterial zur Verfügung.

Am gesamten Prozess sind die Ergotherapeutin (bzw. der Dienstleitungserbringer) und der (erweiterte) Klient beteiligt. Auch wenn die Intervention deutlich erkennbar vom ergotherapeutischen Denken geprägt ist, will das Arbeitsbuch keine anderen Professionen von der Nutzung der Intervention ausschließen und spricht daher vom Dienstleistungserbringer.

Klienten nehmen die Intervention sehr gut an Im Rahmen unserer Pilotstudie haben wir 22 ambulante Klienten in zwei Gruppen randomisiert. Eine Gruppe nahm an einer konventionellen Ergotherapie teil, die andere Gruppe an der Intervention „Handeln gegen Trägheit“ [13].

Alle Klienten erhielten 12 Einheiten ambulante Ergotherapie nach dem SGB V (psychisch-funktionelle Behandlung) als Einzeltherapie mit einer Dauer von je 60 Minuten. Nach der Behandlung stellten die verblindeten Rater in beiden Gruppen einen Aktivitätsaufbau fest. In der „Handeln gegen Trägheit“-Gruppe war dieser fast doppelt so hoch wie in der Kontrollgruppe mit der Standard-Ergotherapie. Auffällig war zusätzlich die höhere Therapieakzeptanz der Klienten aus der „Handeln gegen Trägheit“-Gruppe: Sie nahmen deutlich mehr angebotene Termine wahr, brachen die Therapie seltener ab und führten nach der Studie sehr viel häufiger die Ergotherapie mit dieser Intervention fort. Sowohl die Klienten als auch die Ergotherapeuten äußerten sich durchweg positiv zur Intervention.

Ausblick für die Zukunft Die Intervention richtet sich generell an Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen – ohne spezifischen Störungsbezug. Dennoch haben die kanadischen Autoren bereits Ergänzungsmaterial entwickelt: für affektive Störungen, Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), generalisierte Angststörung, Demenz, Schlaganfall und traumatische Hirnverletzung, Autismus und geistige Behinderung, chronische Schmerzen sowie benachteiligte Jugendliche.

Das Ergänzungsmaterial für chronische Schmerzen (ins Deutsche übersetzt von Lisa Käßmair und Andreas Pfeiffer) wird im Juni 2018 in Würzburg auf dem Ergotherapiekongress vorliegen und in einem Vortrag vorgestellt. Weiterhin ist geplant, auch das Ergänzungsmaterial für PTBS und Demenz ins Deutsche zu übertragen.

Wir möchten alle psychiatrisch tätigen Ergotherapeuten dazu auffordern, einfach loszulegen! Und zwar im doppelten Sinne: pragmatisch und klientenzentriert den Ansatz Gesundheit durch Aktivität einzusetzen und das Material von „Handeln gegen Trägheit“ zu nutzen. Dies bedeutet, eine therapeutische Beziehung auf Augenhöhe (und manchmal auch etwas darunter) einzugehen und die Entscheidungen für das Vorgehen beim Klienten zu belassen. Davon profitiert nicht nur der Klient, sondern es ist auch eine deutliche Entlastung für die Therapeutin, da so auch die Verantwortung für das gemeinsame Handeln beim Klienten verbleibt.


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* Name von der Redaktion geändert




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