Schlüsselwörter
Ehrenamt - Flüchtlingshilfe - gesundheitliche Belastungen - gesundheitliche Ressourcen
Key words
Volunteers - health-related strains - health-related resources - refugee help
Einleitung
In der zweiten Jahreshälfte 2016 waren weltweit rund 65,3 Millionen Menschen auf der
Flucht [1]. Auch die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, hat in den vergangenen
Jahren stark zugenommen [2]
[3]
[4]. Insgesamt kamen im Jahr 2015 rund 890.000 Flüchtlinge nach Deutschland [3].
Die Zahl der Flüchtlinge stellt die Kommunen und Länder, insbesondere das Sozial-,
Bildungs-, und Gesundheitssystem in Deutschland vor große Herausforderung, bietet
aber auch große Chancen [5]. Für die humanitäre Hilfe einschließlich der Gesundheitsversorgung existieren internationale
Mindeststandards [6], die auch in der gegenwärtigen Flüchtlingssituation in Deutschland anzuwenden sind,
die aber offenbar nicht immer allen Akteuren bekannt sind [7]. Zu den Herausforderungen und Möglichkeiten der gesundheitlichen Versorgung ist
im letzten Jahre eine breite wissenschaftliche Diskussion entstanden [8]
[9]
[10]
Im Zusammenhang mit dem enormen Zustrom von Flüchtlingen engagierten sich viele Menschen
ehrenamtlich in verschiedenen Bereichen der Flüchtlingshilfe [11]. Eine Analyse von Netzwerkstrukturen in der Flüchtlingsarbeit in der Stadt Erlangen
kam zu dem Ergebnis, „dass das Engagement ehrenamtlicher Akteure das Rückgrat der
Flüchtlingsarbeit … darstellt“ [12]. Ehrenamtliche wirken als Bindeglied zwischen Flüchtlingen und Aufnahmegesellschaft
und tragen dazu bei, dass Flüchtlinge sowohl kurzfristig als auch auf lange Sicht
gesehen erfolgreich integriert werden können [5]
[8]
[13]
Die Begriffe Ehrenamt, Freiwilligenarbeit, bürgerschaftliches Engagement und freiwilliges
Engagement stehen in einem engen Zusammenhang und werden weitgehend synonym verwendet
[14]. Umschrieben wird damit das (zumeist) freiwillige Engagement der Bürger in Vereinen,
Initiativen, Gruppen, Organisationen sowie öffentlichen Institutionen und Einrichtungen
[15], also in einem festen organisatorischen Rahmen. Die freiwillige bzw. ehrenamtliche
Tätigkeit wird in der Regel nebenberuflich durchgeführt und dient nicht zur Bestreitung
des Lebensunterhalts, auch wenn eine Aufwandsentschädigung gezahlt wird [16]. In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe Ehrenamt und Freiwillige im Folgenden
synonym gebraucht.
Die Aufgaben, die von ehrenamtlichen Helfern in der Flüchtlingshilfe übernommen werden,
sind sehr vielseitig und hängen individuell stark von den Ressourcen der Engagierten
und dem Bedarf an Unterstützung ab. Ehrenamtliche Helfer können diese wichtigen Funktionen
allerdings nur dann ausfüllen, wenn ihre Gesundheit erhalten bleibt [17]
[18].
Ehrenamt und Gesundheit
Der Zusammenhang von Ehrenamt und Gesundheit wurde in verschiedenen Studien untersucht.
Diese zeigten übereinstimmend, dass ein Ehrenamt einen positiven Effekt auf die Gesundheit
von Ehrenamtlichen ausübt [19]
[20]
[21]
[22].
Die Ausführung eines Ehrenamtes kann jedoch auch negative Effekte haben. Die Wahrscheinlichkeit,
ein Burnout-Syndrom zu erleiden, ist bei Ehrenamtlichen höher als bei professionell
Tätigen; dies gilt insbesondere für Menschen, die eine hohe emotionale Last tragen,
deren Erwartungen nicht erfüllt werden oder die sich nicht gut auf ihre Tätigkeit
vorbereitet fühlen [19].
Fragestellung und Zielsetzung
Die ehrenamtliche Arbeit in der Flüchtlingshilfe ist nur eingeschränkt vergleichbar
mit ehrenamtlichen Tätigkeiten in anderen Bereichen (z. B. in einem Sportverein).
Der Großteil der Tätigkeiten in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe findet in engem
Kontakt mit Flüchtlingen statt, welche teilweise traumatisierende Erlebnisse durchlebt
haben. Die Konfrontation und Auseinandersetzung mit solchen Erlebnissen stellt für
die Helfer eine zusätzliche Belastung dar. Allerdings gibt es bislang keine Studien,
die die gesundheitlichen Belastungen, aber auch nutzbare Ressourcen von Ehrenamtlichen
in der Flüchtlingshilfe erfassen. Vor diesem Hintergrund untersucht die vorliegende
Arbeit die Frage, welche gesundheitlichen Auswirkungen die ehrenamtliche Tätigkeit
in der Flüchtlingshilfe hat und wie die Ehrenamtlichen gegebenenfalls besser unterstützt
werden können. Ziel war es, einen Überblick über die bestehenden Ressourcen zu schaffen,
Belastungsfaktoren zu identifizieren und sowie Handlungsempfehlungen für den öffentlichen
Gesundheitsdienst und die Flüchtlingshilfe zu entwickeln.
Methodik
Es wurden qualitative Befragungen mit 10 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, sowie
11 koordinativ in der Flüchtlingshilfe tätigen Fachkräften durchgeführt. Die Befragungen
fanden im Rahmen zweier Bachelorarbeiten von Ende April bis Ende Mai 2016 statt [17]
[18].
Ehrenamtliche Interviewpartner/innen wurde mit Hilfe des Bezirksamt Hamburg-Bergedorf
und in der Flüchtlingshilfe tätigen Vereinen über Rundschreiben, Emails, sowie soziale
Medien wie Facebook, angeworben. Eine genaue Zahl der angesprochenen bzw. angeschriebenen
lässt sich daher nicht angeben. Die Befragten waren in Flüchtlingsunterkünften in
verschiedenen Stadtteilen Hamburgs tätig. Interviewt wurden Personen, die sich aufgrund
der Ansprache freiwillig meldeten.
In der Gruppe der Expertinnen und Experten wurden Menschen befragt, die mit Ehrenamtlichen
in der Flüchtlingshilfe zusammen arbeiten und deren Arbeit koordinieren. Im Einzelnen
waren das Mitarbeitende der Bezirksämter (Koordination der sozialräumlichen Integration
von Flüchtlingsunterkünften), Mitarbeitende des Sozialmanagements der Wohnunterkünfte
für Flüchtlinge, darüber hinaus hauptamtliche Vertreter der Kirchengemeinden, die
das ehrenamtliche Engagement der Gemeindemitglieder koordinieren, sowie die Koordinatorinnen
und Koordinatoren von Ehrenamtsaufgaben in Organisationen der Flüchtlingshilfe. Erste
Personen wurden auf Vorschlag von in der Ehrenamtskoordination tätigen Mitarbeitern
des Bezirksamtes Hamburg-Bergedorf kontaktiert. Weitere Personenvorschläge kamen durch
die ersten geführten Interviews zustande. Insgesamt wurden 13 potentielle Interviewpartner
kontaktiert und es konnten elf Interviews durchgeführt werden.
Sowohl die befragten Ehrenamtlichen wie auch die befragten Expertinnen und Experten
stellen ein Convenience-Sample dar, sind also weder systematisch, noch repräsentativ
ausgewählt.
Die qualitativen Interviews mit den Ehrenamtlichen und den Expertinnen und Experten
wurden anhand von Interviewleitfäden mit vergleichbaren Fragen geführt (siehe Anhang).
Fragen wurden zu verschiedenen Themenblöcken in den Bereichen gesundheitliche Auswirkungen
und Unterstützungsmöglichkeiten für Ehrenamtliche gestellt. Die Interviews wurden
aufgenommen, transkribiert und mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring [23] kategorisiert und ausgewertet.
Durch die qualitative Inhaltsanalyse sollten bedeutsame Einzelfaktoren und Zusammenhänge
erkannt werden, um somit Gemeinsamkeiten in den Interviewtexten herauszuarbeiten.
Für die Auswertung wurden die Interviews paraphrasiert und deduktive, an den Leitfaden
und die Forschungsfrage angepasste Hauptkategorien als auch induktive, aus dem Material
abgeleitete, Unterkategorien gebildet. Das hieraus resultierende Kategoriensystem
ist in den [Tab. 1] und [2] wiedergegeben. Zu den jeweiligen Ober- und Unterkategorien wurden Paraphrasen kodiert
und Ankerbeispiele aus den Interviews herausgesucht. Nach diesem Durchlauf wurden
im nächsten Schritt alle Interviews mit dieser Struktur kodiert. Für die Auswertung
wurde mit dem Programm MAXQDA gearbeitet. Im nachfolgenden Ergebnisteil werden die
nach Auffassung der Autoren zentralen Ergebnisse der Interviews zusammengefasst. Dabei
sind Zitate von Interviewpartnern zu Erläuterung und Illustration in Kursivdruck eingefügt.
Um kenntlich zu machen, von welcher Befragtengruppe die jeweiligen Aussagen stammen,
sind die Ergebnisse mit „EA“ für Aussagen von Ehrenamtlichen und/oder mit „EXP“ für
die von Expertinnen und Experten gekennzeichnet. Auf die Häufigkeitsangaben hinsichtlich
verschiedener Nennungen wurde bewusst verzichtet, da dies dem Charakter und der Aussagekraft
einer qualitativen Befragung widerspricht. Eine qualitative Befragung kann und will
nur darüber Auskunft geben, ob bestimmte Inhalte genannt wurden. Wie häufig bestimmte
Inhalte relevant sind, müsste in darauf aufbauenden, weiterführenden Studien untersucht
werden [23].
Ergebnisse
Die 10 befragten Ehrenamtlichen waren zwischen 54 und 69 Jahren alt. Von ihnen waren
7 weiblich und 3 männlich. Von den befragten Fachkräften waren vier weiblich und sieben
männlich. Das Alter lag zwischen 26 und 65 Jahren.
Motivation zu ehrenamtlicher Flüchtlingsarbeit
Viele Ehrenamtliche sind aufgrund ihrer humanitären Grundeinstellung tätig (EA+EXP).
Sie wollen etwas Gutes tun und Vorurteile abbauen. Einige von ihnen suchen auch eine
Aufgabe in ihrem Leben, da sie schon älter und nicht mehr berufstätig sind (EA). Die
aktuelle Lebenssituation bzw. deren Veränderung spielt dabei eine wichtige Rolle:
Das Erwachsenwerden der Kinder oder der Einstieg in das Rentenalter, ist für die Aufnahme
eines Ehrenamtes oft ausschlaggebend gewesen (EA).
Positive Auswirkungen
Alle befragten Ehrenamtlichen sehen ihr Ehrenamt als insgesamt positiv an und haben
das Gefühl, dass sich ihr Wohlbefinden durch die Tätigkeit verbessert. „Also ich kann nur sagen, also für mich ist es echt, also es ist mir so wichtig, es
ist ein unglaublich großes Glück. Eine Bereicherung, eine Freude und ich bin so froh,
dass ich das gemacht habe“ (EA). Das Gebraucht-Werden und die erlebte Dankbarkeit und Wertschätzung wurden
als stärkste positive Auswirkung auf die Ehrenamtlichen wahrgenommen. „Man bekommt so viel, von so vielen Menschen, […] die einem dann auch was zurückgeben,
wenn man etwas tut. […]vom Gefühl her ist es unglaublich“ (EA). Das Kennenlernen neuer kultureller Aspekte genauso wie das Miteinander mit
den Flüchtlingen und die Zusammenarbeit mit anderen Ehrenamtlichen wird als Bereicherung
erlebt und neue Bekanntschaften und Freundschaften entstehen (EA).
Auch die befragten Expertinnen und Experten sehen viele positive Auswirkungen bei
den Ehrenamtlichen. Genannt werden u.a.eine erhöhte Offenheit gegenüber Fremden, der
Abbau von Vorurteilen und die Steigerung des Selbstbewusstseins (Haltung), engeres
Gemeinschaftsgefühl im Stadtteils oder der Gemeinde, neue Freundschaften und die Abnahme
von Einsamkeit (Beziehungen).
Belastungen für die Ehrenamtlichen
Neben den positiven Aspekten wurden aber auch Probleme und Belastungen beschrieben.
Eine Befragte gab beispielsweise an: „Also ich denke Tag und Nacht daran und das ist mein erster Gedanke beim Aufwachen“ (EA). Eine andere Befragte berichtete: „Doch, es kommt ganz viel zurück. Ganz viel. Aber es ist auch super anstrengend. Und
auch sehr belastend“ (EA). Manche Befragte erleben auch solche Belastungen, können sich aber gut abgrenzen:
„Ja, das finde ich belastend, aber ich glaube jetzt nicht in der Form, dass es mich
jetzt wirklich richtig tiefgehend belastet“ (EA).
Wo treten Belastungssituationen auf?
Die Experten haben in den Interviews Probleme in verschiedenen Kategorien beschrieben
([Tab. 2]).
Persönliche Schwierigkeiten treten durch Mangel an Fachwissen und Fertigkeiten für
bestimmte Aufgaben auf und durch eine zu hohe Selbsterwartung. Dass dann auftretende
Schwierigkeiten und Probleme von Ehrenamtlichen nicht artikuliert werden, wird als
sehr problematisch wahrgenommen. Diese Punkte wurden ausschließlich in den Interviews
mit den Expertinnen und Experten genannt.
Die befragten Expertinnen und Experten und die Ehrenamtlichen selbst nehmen Koordinations-
und Kommunikationsprobleme mit Behörden, den Wohnunterkünften, unter den Ehrenamtlichen
selbst sowie in der Betreuung der geflüchteten Menschen als belastend wahr. So führen
bürokratische Hürden, lange Wartezeiten und der unklare Status von Geflüchteten zu
Unverständnis und Frustration: „Es gibt Frustrationen bei den Ehrenamtlichen, es gibt Frustrationen bei den Bewohnerinnen
und Bewohnern. Weil die im ersten Moment mit so viel Enthusiasmus und Engagement hier
gestartet sind, [...]. Und sie sind fast ausnahmslos alle nicht weiter gekommen, weil
sie nicht weiter kommen können. [...] Die wollen über das Anerkennungsverfahren, aber
die kriegen nicht mal eine Einladung dazu.“ (EA).
Weitere Belastungen sind in [Tab. 1] zusammenfassend dargestellt. In der Zusammenarbeit mit den Geflüchteten berichten
die Ehrenamtlichen auch von Unsicherheit, die durch das fehlende Wissen über die andere
Kultur entsteht und dass sie Schwierigkeiten damit haben, die verschiedene Aspekte
der Lebensweise und Gepflogenheiten anderer Kulturen zu akzeptieren: „Also sowas wie Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit und ja, Verabredungen einhalten und
überhaupt Initiative ergreifen oder was mitmachen. Das erlebe ich sehr häufig als
sehr frustrierend, dass das so schwierig ist. Und dass die schwierige Aufgabe für
mich dabei ist, das eben zu akzeptieren, dass andere Menschen anders leben“ (EA).
Tab. 2 Kategoriensystem für die Auswertung der Interviews mit den Experten.
-
Tätigkeiten der Ehrenamtlichen
-
Motivationen und Beweggründe der Ehrenamtlichen
-
positive Auswirkungen auf die Ehrenamtlichen
-
Wissen
-
Haltung
-
Beziehungen
-
Gefühle und Wohlbefinden
-
schwierige Bereiche, Situationen und Probleme für die Ehrenamtlichen
-
persönliche Schwierigkeiten
-
Schwierigkeiten in der Arbeit mit Geflüchteten
-
Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit anderen Ehrenamtlichen
-
Schwierigkeiten mit Behörden
-
Schwierigkeiten mit Wohnunterkünften
-
negative Auswirkungen auf die Ehrenamtlichen
-
Frustration
-
Überforderung
-
Erschöpfung
-
psychische Belastungen
-
Bewältigungsstrategien
|
Gesundheitliche und psychische Belastungen
Einige der Ehrenamtlichen gaben auf die Frage nach negativen gesundheitlichen Auswirkungen
an, keine gesundheitlichen Belastungen wahrzunehmen. Andere hingegen bezeichneten
ihr Ehrenamt als kräftezehrend, belastend und anstrengend.
Abgrenzungsprobleme, zeitliche wie emotionale, werden von fast allen Experten als das Hauptproblem in der direkten Arbeit der Ehrenamtlichen
mit den Geflüchteten gesehen
Manche Ehrenamtliche können sich schlecht zeitliche Grenzen setzen und engagieren
sich sehr viele Stunden, so dass kaum mehr Zeit für andere Dinge in ihrer Freizeit
bleibt oder das private Umfeld vernachlässigt wird: „Und ansonsten ist es unheimlich übergriffig in mein Privatleben. Weil, also dass ich
tatsächlich meine privaten Freundschaften ganz doll vernachlässigt habe“ (EA).
Schwierigkeiten mit der emotionale Abgrenzung entstehen durch die ständige Präsenz
der Probleme der Geflüchteten (traumatisierende Erlebnisse, Hilflosigkeit mit der
neuen Lebenssituation in Deutschland) einerseits und die Verantwortung, die die Ehrenamtlichen
zu tragen haben andererseits. Einige Ehrenamtliche können mit diesen Schicksalen umgehen,
für andere ist es in den Augen der Experten psychisch sehr belastend. „[...] wenn so ein Flüchtling plötzlich so viel Vertrauen gefasst hat, dass er was
erzählt. Es gibt Leute, die können damit umgehen, wir haben relativ viele pädagogisch
auf die eine oder andere Weise geschulte Leute unter den Ehrenamtlichen, aber nicht
alle können damit umgehen.“ (EXP). Auch der aus der Abschiebung von Flüchtlingen resultierende Verlust von Freundschaft
oder Bekanntschaft wird als Belastung genannt: „Oder manchmal ist es auch so, dass Familien auch einfach über Nacht dann weg sind,
ohne dass man vorher von der Abschiebung wusste, und das macht natürlich auch vielen
zu schaffen, weil dann auf einmal so ein Loch in die Gemeinschaft gerissen wird. [...]
Und je enger der Kontakt, desto belastender ist das natürlich“ (EXP).
Überforderung und Erschöpfung
Von vielen Experten werden Ehrenamtliche beobachtet, die sich durch ihre Tätigkeit
in der Flüchtlingshilfe überfordern. Die Helfer nehmen zu viele Aufgaben an und wollen
mehr schaffen, als sie leisten können:. „Dass manch einer vielleicht dadurch, dass er die Not sieht, mehr versucht an Aufgaben
zu übernehmen, als er selbst leisten kann“ (EXP). In der Folge dieser Überforderung kommt es auch zur Erschöpfung: „[...] aber es ist schon ein erheblicher Teil der Ehrenamtlichen, die sich bis zur
absoluten Erschöpfung verausgaben. Und zwar weil sie ja mit Einzelschicksalen oder
mit Einzelgeschichten Kontakt bekommen“ (EXP).
Unterstützungsangebote
Im Ganzen fühlen sich die befragten Ehrenamtlichen gut über Unterstützungsangebote
informiert und wissen, an wen sie sich im Bedarfsfall wenden können. Sie fühlen sich
durch die Anbindung an Flüchtlingsorganisationen gut aufgehoben; die regelmäßige Möglichkeit,
Fragen klären zur können, und mit Information versorgt zu werden, wird als entlastend
wahrgenommen.
Dennoch gaben in den Interviews mehrere Ehrenamtliche an, dass sie zwar von Unterstützungsmöglichkeiten
wissen, aber noch keine Veranstaltungen besucht haben, da es ihnen an der Zeit fehlt,
diese zu besuchen und das Angebot aufgrund der hohen Nachfrage derzeit noch nicht
ausreicht.
Von Seiten der Expertinnen und Experten wird ein zusätzlicher Unterstützungsbedarf
für die Helfer im Hinblick auf den Umgang mit psychischen Belastungen und die Abgrenzungsproblematik
gesehen. Gleichzeitig merken sie aber auch an, dass bereits vorhandene Angebote von
den Ehrenamtlichen oft nicht angenommen werden. Sie berichten, dass es ihnen noch
nicht gelungen ist, mehr Ehrenamtliche zu Fortbildungen, Einzelgesprächen und Supervisionen
zu ermutigen. Sie ermuten, dass die Ehrenamtlichen psychische Unterstützung aufgrund
von Vorurteilen ablehnen und die Motivation, „anderen etwas Gutes zu tun“, sie davon
abhält, sich mit ihrer eigenen Gesundheit zu befassen.
Individuelle Bewältigungsstrategien
Alle befragten Ehrenamtlichen haben bereits verschiedene individuelle Möglichkeiten
gefunden, mit den Belastungen und Schwierigkeiten, mit denen sie sich konfrontiert
sehen, umzugehen [Tab. 1].
Einigen der Interviewten gelingt es offenbar, die oben angesprochene Abgrenzungsproblematik
für sich zumindest teilweise lösen zu können. Sie gaben an, sich bewusst Grenzen zu
setzen und zu gewissen Zeiten von der Ehrenamtstätigkeit Abstand zu nehmen. Dieser
Aspekt wird jedoch gleichzeitig als sehr herausfordernd empfunden. Manche der Ehrenamtlichen
berichteten auch, dass sie es erst mit dem Ehrenamt gelernt haben, Nein zu sagen und
Aufgaben abzulehnen; zudem gaben einige Befragte an, zwar in der Theorie zu wissen,
dass sie sich stärker abgrenzen müssen, dies jedoch in der Praxis nur schwer umsetzen
können. „Ich denke, was ich, was jede Freiwillige lernen muss, ist abgrenzen. Das finde ich,
das ist das aller schwerste. Vor allen Dingen, wenn da diese persönlichen Bindungen
entstanden sind“ (EA).
Tab. 1 Kategoriensystem für die Auswertung der Interviews mit den Ehrenamtlichen.
-
Gründe für das Engagement
-
Positive Auswirkungen und Ressourcen
-
Individueller Mehrwert
-
Sinnhaftigkeit
-
Bestätigung von Anderen
-
Zusammenarbeit mit Flüchtlingen
-
(Kulturelle) Bereicherung
-
Zusammenarbeit mit anderen Ehrenamtlichen
-
Negative Aspekte und Belastungen
-
Strukturelle Rahmenbedingungen
-
Unterkunftsbedingte Schwierigkeiten (uneinheitliche Standards; Organisation von Seiten
der Unterkunft; Regeln und Vorschriften)
-
Zusammenarbeit mit Einrichtungsmitarbeitern (Kommunikationsschwierigkeiten; fehlende
Wertschätzung; Hierarchiestrukturen; Arbeit der Einrichtungsmitarbeitenden)
-
Zusammenarbeit mit Behörden und Institutionen (Koordination der Flüchtlingssituation;
fehlende Wertschätzung; Überforderung der Mitarbeitenden)
-
Zwischenmenschliche Konflikte
-
Zusammenarbeit der Ehrenamtlichen (Kommunikationsschwierigkeiten; kulturelle Konflikte;Hierarchiestrukturen;
fehlende Zuverlässigkeit)
-
Zusammenarbeit mit Flüchtlingen (Sprachbarriere; kulturelleSchwierigkeiten)
-
Gesundheitliche Auswirkungen
-
Umgang mit Belastungen
-
Verbesserungswünsche und Vorschläge der Befragten
-
Organisation der Flüchtlingssituation
-
Rahmenbedingungen der Aktivitäten
-
Strukturierung des Ehrenamts
-
Weiterbildungsangebote
|
Strukturelle Hilfen, Angebote
Neben Änderungswünschen in der Zusammenarbeit mit Behörden, zu den Abläufen in Wohnunterkünften
und zu politischen Verbesserungen insgesamt wurden auch konkrete Anregungen zu Weiterbildungsangeboten
durch die Ehrenamtlichen gemacht. Das betraf Weiterbildungsangebote zu Asylrecht und
Behördenstrukturen, aber auch Wissen im Umgang mit Traumatisierung von Flüchtlingen
und Verbesserung der interkulturellen Kompetenz.
Angebote zum Thema Selbstfürsorge für Ehrenamtliche wurden ebenfalls gewünscht. „Und
vielleicht auch sogar, weiß ich nicht, so eine Art Seminarangebot ‚Umgang mit persönlichen
Belastungen durch die Geschichten von Flüchtlingen‘ und so. Denn man nimmt schon auch
Nachrichten, also ich lese die Zeitung anders, ich nehme die Nachrichten anders wahr,
wenn man einen Jungen aus Aleppo kennt oder aus Kundus oder aus Eritrea, wenn man
weiß, was da los ist“ (EA).
Eine andere Anregung war die Einrichtung einer Beratungsstelle, an die sich Ehrenamtliche
wenden können, um über ihre Belastungen und Sorgen zu sprechen. Diese Stelle sollte
laut den Befragten unabhängig von den Trägern der Flüchtlingsarbeit sein, damit auch
Kritik unbefangen geäußert werden kann.
Unterstützungsangebote zum Zeitraum der Interviews
Zum Zeitpunkt der Interviews bestanden in Hamburg Angebote von Fortbildungen und Workshops,
die vom Thema Asylrecht über interkulturelle Kompetenzen bis hin zum Thema Erkennung
von Traumata reichen. Dennoch scheint das Angebot, gemessen an der Vielzahl von Ehrenamtlichen,
die allein in Hamburg tätig sind, nicht sehr groß zu sein. Hinzu kommt, dass die Fortbildungen
in der Regel nur einmal stattfinden und der Veranstaltungsort teilweise am Rande der
Stadt liegt. Zudem sind einige der Fortbildungen kostenpflichtig, worin eine weitere
Teilnahmebarriere liegt. Auch wenn diese Kosten übernommen werden könnten, fehlt oft
die Information darüber, wer welche Maßnahmen bezahlt oder bezuschusst. Ein systematisches
und kontinuierliches Angebot, mit dem die Ehrenamtlichen im Umgang mit belastenden
Situationen unterstützt werden, existiert nicht, auch wenn die Mitarbeiter von Unterkunftsbetreibern
für Gespräche zur Verfügung stehen.
Diskussion
Die qualitativen Interviews von ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe tätigen Menschen
sowie von Fachleuten mit koordinierenden Tätigkeiten in der Flüchtlingshilfe haben
gezeigt, dass das Ehrenamt von vielen Freiwilligen als eine starke Ressource erlebt
und genutzt werden kann. Viele Menschen erfahren durch die ehrenamtliche Tätigkeit
eine Steigerung ihres Wohlbefindens und ihres Selbstwerts. Gleichzeitig erleben jedoch
manche, aber nicht alle Ehrenamtlichen auch zeitliche und emotionale Belastungen,
die zu gesundheitlichen und psychischen Belastungen führen. Als wichtigste Ressource
für den Umgang mit diesen Belastungen wurde immer wieder die Fähigkeit zur Abgrenzung
genannt. Während manche Ehrenamtliche diese Fähigkeit bereits mitbringen oder in ihrer
Tätigkeit entwickeln, haben andere hier noch einen Entwicklungsbedarf.
Bei der Interpretation der Ergebnisse dieser Befragungen muss berücksichtigt werden,
dass es sich um qualitative Interviews mit explorativem Charakter handelt. Aus den
hier berichteten Befragungsergebnissen kann somit immer nur geschlossen werden, dass
die genannten Gesichtspunkte für einige Befragte relevant sind. Rückschlüsse darüber,
ob diese Gesichtspunkte nur für wenige oder für viele Betroffene relevant sind, können
mit einem solchen Forschungsansatz nicht gezogen werden. Hinzu kommt, dass sowohl
die interviewten Freiwilligen als auch die interviewten Expertinnen und Experten ein
kleines Convenience-Sample darstellen, das weder auf einer Zufallsauswahl noch auf
einer systematischen Auswahl beruht und daher keinen Anspruch auf Repräsentativität
erheben kann. Da die interviewten Personen aber nach eigenen Angaben zur Zielgruppe
der ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe tätigen Personen gehörten, bzw. zur Fachleuten
mit koordinierenden Tätigkeiten in der Flüchtlingshilfe, kann davon ausgegangen werden,
dass die berichteten Ergebnisse für die Zielgruppe relevant sind.
Vor diesem Hintergrund können aus den Ergebnissen die folgenden, vorläufigen Schlussfolgerungen
und Handlungsoptionen abgeleitet werden.
Handlungsmöglichkeiten und Konsequenzen
Bei einem ehrenamtlichen Engagement kommt es auf strukturelle Bedingungen an, die
dafür sorgen, dass Ehrenamtliche in einem angemessenen zeitlichen Rahmen arbeiten,
sich nicht überfordern, auf ihre Aufgaben vorbereitet werden und durch regelmäßige
Supervisionen unterstützt werden [19].
Um geflüchtete Menschen zu unterstützen, ist es für die Ehrenamtlichen wichtig, sich
über die eigenen Ressourcen aber auch über die Belastungen, die mit der ehrenamtlichen
Tätigkeit einhergeht, bewusst zu sein.
Hier wäre zu prüfen, ob der Öffentliche Gesundheitsdienst ÖGD entsprechende Angebote
entwickeln und umsetzen kann. In den meisten Sozialpsychiatrischen Diensten der Gesundheitsämter
arbeitet ein multiprofessionelles Team mit Zusatzausbildungen in systemischer Beratung,
Therapie und Supervision. Des Weiteren haben Mitarbeiter/innen in der (kommunalen)
Gesundheitsförderung vielfältige Erfahrungen zu Unterstützungsangeboten, Programmen
und Trainings, die im Wesentlichen darauf abzielen, Zielgruppen zu stärken.
Angebote zur Supervision, runde Tische für die Ehrenamtlichen mit den Themen Abgrenzungsprobleme
oder Umgang mit Kommunikationsschwierigkeiten aber auch die Steigerung der Selbstwirksamkeit
für einen konstruktiven Umgang mit Stress, sowie Selbstfürsorge und Achtsamkeit sind
Maßnahmen, die zur Bewältigung der Belastungen und psychischen Problemen, denkbar
sind.
Hierbei können Teile/einzelne Abteilungen des ÖGD, Maßnahmen in Zusammenarbeit mit
Flüchtlingsorganisation vor Ort anregen und vermitteln und wenn möglich, selber durchzuführen.
In Hamburg Bergedorf sind aufgrund der hier dargestellten Ergebnisse, erste Maßnahmen
umgesetzt worden. Auf einem Workshop zur Ressourcenförderung sind zusammen mit Ehrenamtlichen,
Ressourcen und Belastungen in der Arbeit mit Geflüchteten ermittelt worden. Als Ergebnis
konnten umgehend konkrete Arbeitsaufgaben an die örtliche Flüchtlingsorganisation
adressiert und Fortbildungsmaßnahmen zur Selbstfürsorge verabredet werden. Darüber
hinaus nahmen Ehrenamtliche zusammen mit Mitarbeitern aus dem Gesundheitsamt an einer
sogenannten Community Resiliency Model (CRM)- Lotsenschulung teil [24].
Weiterhin steht dem ÖGD das Instrument der Gesundheitskonferenzen zur Verfügung, auf
denen Projekte und Maßnahmen im Bereich der Gesundheitsförderung von Geflüchteten
und Ehrenamtlichen vorgestellt werden können [25].
Allerdings ist auch schon ein breites Angebot an Unterstützung für Ehrenamtliche vorhanden.
Diese Unterstützungsangebote werden jedoch aus den verschiedensten Gründen nicht in
der gewünschten Form von der Zielgruppe angenommen. Die Experten bemängeln in diesem
Zusammenhang vor allem die Kommunikationsschwierigkeiten und undurchsichtige Strukturen,
sodass davon auszugehen ist, dass viele Informationen über die Angebote oftmals nicht
bei den ehrenamtlich Tätigen ankommen.
Um die Teilnahmequote an Supervisionen und psychischen Unterstützungsangeboten zu
erhöhen, müssten die Gründe für das Fernbleiben von solchen Angeboten genauer untersucht
werden. Damit Vorurteile und Ängste gegenüber psychischer Unterstützung zu verringert
werden können, ist eine umfangreiche Aufklärung über die Angebote und deren Nutzen
sinnvoll. Auch hierin könnte eine wichtige Aufgabe des ÖGD liegen.
In Extremfällen, z. B. für besonders belastete Gruppen von Ehrenamtlichen, die sich
zeitlich sehr stark einbinden oder psychisch durch ihre Tätigkeiten ausgesprochen
belastet werden, könnte eine verpflichtende Teilnahme an Fortbildungen und Supervisionen
diskutiert werden. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie und durch wen solche
besonderen Bedarfe erkannt werden können und wie dann sinnvolle Unterstützungsmaßnahmen
rechtzeitig eingeleitet werden können.
Last, not least wäre zu überlegen, ob der ÖGD in der Zusammenarbeit der verschiedenen
behördlichen Strukturen unterstützend tätig werden kann.
Insgesamt zeigt sich, dass das Thema des Ehrenamtes in der Flüchtlingshilfe nicht
ausreichend wissenschaftlich untersucht ist. Es ist also weitere Forschung, insbesondere
hinsichtlich der gesundheitlichen Auswirkungen, dringend notwendig, um die Ehrenamtlichen
vor Belastungen zu schützen, aber auch um die Ressourcen, die im Ehrenamt entwickelt
werden, besser nutzen zu können. Unter anderem wäre hierbei zu untersuchen, welche
Faktoren die psychische Widerstandsfähigkeit der Helfer stärken können (Resilienzfaktoren),
ob eine verbesserte Selbstwirksamkeit bei der Bewältigung von Belastungen hilfreich
ist, und wie letztlich solche hilfreichen Ressourcen systematisch aufgebaut und verstärkt
werden können. Es ist geplant, aufbauend auf den hier berichteten qualitativen Ergebnissen
einen Fragebogen zu entwickeln, mit dem gesundheitliche Ressourcen und Belastungsfaktoren
in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe auch quantitativ abgeschätzt werden können.
Letztlich wurde in unserer Befragung auch das enorme Potenzial deutlich, das im Wissen
und der Erfahrung der Ehrenamtlichen steckt. Die Freiwilligen sollten deutlich mehr
in die verschiedenen Prozesse der Flüchtlingshilfe eingebunden werden, da sie sowohl
im Kontakt mit den Flüchtlingen selbst als auch im Austausch mit den Unterkunftsleitungen
stehen und somit Probleme aus mehreren Perspektiven wahrnehmen.