GGP - Fachzeitschrift für Geriatrische und Gerontologische Pflege 2017; 01(04): 150-151
DOI: 10.1055/s-0043-120617
Kolumne
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Warum erklären uns eigentlich immer andere, was Pflege ist?

Sabine Hindrichs
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Publication Date:
07 December 2017 (online)

Wie wäre es, wenn an der Spitze fast ausschließlich Fachkräfte aus der Praxis stehen würden?

Es ist doch mehr als erstaunlich: Pflege ist fast ausschließlich weiblich – zumindest vor Ort bei den Patienten, Bewohnern und Kunden. Geht es allerdings um Führung, zentrale Entscheidungen und Entwicklungen, sind die handelnden Personen zumeist männlich und darüber hinaus mehrheitlich nicht aus unserer Profession.

Geht es Ihnen auch so wie mir? Egal um welches Thema es gerade in der Pflege geht, wie z. B. Pflegeberufegesetz, Pflegekammer, Pflegestärkungsgesetze oder Stärkung der Pflege, es wird sehr viel geredet über uns, aber nicht mit uns! Und wenn ich ehrlich bin, ärgert mich dies maßlos. Allerdings muss ich zugeben, ein klein wenig Schuld tragen wir auch selbst. Denn schaut man genau hin, wer hier mit wem über uns diskutiert, muss man sich zwangsläufig fragen: Wo sind eigentlich die ganzen tollen, zumeist weiblichen Pflegefachkräfte aus der praktischen Pflege vor Ort?

Entweder befinden sie sich gerade im Kampf mit dem pflegerischen Alltagswahnsinn, versuchen Lösungen zu finden, um die immer schneller schwindenden Personalressourcen irgendwie zu kompensieren, wehren sich gegen Attacken von selbsternannten Pflegeexperten in der Presse und deren Meinung, dass Pflege in Deutschland so schlecht sei, oder sie haben bereits resigniert und sind auf der Suche nach Fluchtmöglichkeiten aus diesem Beruf, weil sie an den Pranger gestellt werden für Rahmenbedingungen, für die sie nicht verantwortlich sind.

Bei allen Erkenntnissen, dass Pflege in Deutschland ein wichtiges Gut ist und dass die vorhandenen Ressourcen immer knapper werden und die pflegebedürftigen Personen immer mehr, muss man sich schon wundern, wie mit der menschlichen Pflegeressource umgegangen bzw. wie diese in dieser Gesellschaft wertgeschätzt wird.

Eckart von Hirschhausen hat dies sinngemäß sehr treffend formuliert: „Wenn Piloten streiken oder Lokomotivführer, dann regen sich alle auf. Was passiert konkret? Es kommen ein paar Tage ein paar Menschen nicht von A nach B. Wenn die Pflege nicht mehr da ist, kommt kein Bedürftiger mehr vom Bett aufs Klo, es gibt nichts zu essen und keine Hilfestellungen – und das ist wirklich dramatisch!“

Bei meiner Arbeit vor Ort sehe ich, wie Kolleginnen und Kollegen erfolgreich ihre täglichen Kämpfe bestehen. Aber warum schaffen wir es eigentlich nicht, uns zu organisieren und gemeinsam für unsere eigenen Interessen und die der pflegebedürftigen Menschen zu kämpfen? Und damit meine ich nicht, dass wir diesen Kampf an Personen übertragen, die nicht mehr oder womöglich noch nie in dieser unserer Pflege tätig waren. Glauben wir denn wirklich, dass die Herren mit Anzug und Krawatte unsere Erfahrungen und Vorstellungen haben, wenn es um eine gute, leistbare, sichere und faire Pflege in Deutschland geht?

Seit Jahren sehe ich die schleichende Entwicklung von immer mehr Anforderungen und überbordender Bürokratie in den Einrichtungen der Langzeitpflege. Ein stetig wachsender Kreis von Personen und Institutionen stellt Anforderungen, die nicht hinterfragt werden, von Führungen und Leitungen der Einrichtungen kritiklos übernommen und an die Pflege vor Ort einfach unreflektiert durchgereicht werden.

In den zwei Jahren als Regionalkoordinatorin im Projektbüro Ein-Step durfte ich gemeinsam mit meinen vier Kolleginnen an der Seite von Elisabeth Beikirch und dem Patienten- und Pflegebeauftragten Karl-Josef Laumann aus voller Überzeugung für eine grundlegende Veränderung der Arbeitsbedingungen in der Pflege arbeiten: für die Rückbesinnung auf die tatsächlichen Aufgaben in der Langzeitpflege durch eine bewusste Veränderung der eigenen Sichtweise auf die professionelle Pflege und damit für die Rückgewinnung der Fachlichkeit für unseren Beruf.

Das bundesweite Projekt zur „Entbürokratisierung der Pflegedokumentation“ wurde in den letzten zwei Jahren zu einer einzigartigen Erfolgsgeschichte im Bereich der Pflege. Im September 2017 endete das Projekt und wurde offiziell in die Hände der Selbstverwaltung und der Länder übergeben. Bei der Abschlussveranstaltung waren alle Beteiligten aus Politik, den Kassen, den Medizinischen Diensten, den Trägervertretern und der Pflegewissenschaft anwesend, um Bilanz zu ziehen für dieses Projekt, seine Einführung und die Implementierung in der Praxis vor Ort in den Einrichtungen.

Ich gebe zu, ich bin stolz, dabei gewesen zu sein, meinen ganz persönlichen Beitrag geleistet zu haben und mit Pflegefachlichkeit, Sachverstand und Herz für die Kollegen vor Ort und die pflegebedürftigen Personen Veränderungen angestoßen und Lösungswege aufgezeigt zu haben.

Trotz dieses Erfolgs, der wunderbaren Begegnungen in den Einrichtungen oder mit den Kollegen in den Seminaren, den lebhaften Diskussionen, in denen es nun endlich um Inhalte und den Wunsch der pflegebedürftigen Person ging und nicht darum, welches Dokument noch auszufüllen ist, weil irgendjemand es für erforderlich und qualitätssichernd erachtet, sehe ich die drohende und schleichende Gefahr, dass wir ohne Rückbesinnung auf unsere eigentliche Profession und Tätigkeit sehr schnell wieder in die alten Bürokratiemuster zurückfallen werden.

Ich erlebe in meiner beruflichen Praxis weiterhin Führung und Leitung als höchst beeinflussbar und nicht als Rückhalt und Stütze ihrer Einrichtung und ihrer Mitarbeiter. Wirtschaftlichkeit, MDK-Noten, Heimbegehungsberichte, selbstgewählte und auferlegte Qualitätssicherungsinstrumente sind weiterhin mehr wert, als das, was tatsächlich fühlbar und erlebbar in den Einrichtungen durch die Mitarbeiter geleistet wird. Solange das korrekte Ausfüllen von Protokollen und Dokumenten wichtiger ist, als das tatsächliche Handeln und die Ergebnisqualität, sind wir weiterhin meilenweit davon entfernt, professionelle Pflege als das zu sehen und wertzuschätzen, was sie wirklich ist.

Für mich sehe ich noch immer die zentrale Aufgabe darin, die Kollegen vor Ort in der Praxis zu unterstützen, um eine selbstbestimmte Versorgung und Pflege in Deutschland zu ermöglichen. Ich finde, wir sind es beiden Gruppen schuldig – den Pflegenden und den Pflegeempfängern –, dass wir alle uns dafür einsetzen.

Ihre

Sabine Hindrichs

sabine@hindrichs-pflegeberatung.de