Allgemeine Homöopathische Zeitung 2017; 262(05): 3
DOI: 10.1055/s-0043-114582
Editorial
Karl F. Haug Verlag in Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schmerz: Prüfstein und Herausforderung

Anne Sparenborg-Nolte
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Publication Date:
06 October 2017 (online)

Einige Patienten, die ich zwischen 1984–1988 in Auroville/Südindien behandelte, sind mir in lebhafter Erinnerung geblieben, darunter ein junger Tamile, der mich wegen Kopfschmerzen aufsuchte:

„Wann haben Sie Kopfschmerzen?“

„Jetzt.“

„Wo genau tut es weh?“

„Kopf.“

„Wie fühlt sich der Schmerz an?“

„Arg.“

Verlegen schaute ich in mein Repertorium. Wo sollte ich suchen? Das Problem hatte sich bereits gelöst, jedenfalls für mich. Als ich wieder aufschaute, war der Patient verschwunden. Ich hatte ihn mit meinen Fragen in die Flucht geschlagen. Vielleicht dachte er sich: Ein Doktor, der so viel fragt, kann nicht viel wissen.

Und eine Patientin aus Delhi, die in Auroville lebte und mich ebenfalls wegen Kopfschmerzen konsultierte:

„Die Kopfschmerzen kommen immer nur nachts, zwischen 0–1 Uhr. Ich bekomme dann große Angst. Ich habe Angst, es ist ein Tumor im Kopf und ich werde sterben. Die Angst macht mich unruhig, ich muss aufstehen und herumlaufen, herumlaufen. Nach 1 Stunde ist es vorbei und ich kann mich hinlegen und weiterschlafen. Das habe ich alle 14 Tage.“

Die zeitlichen Modalitäten sowie die Begleitsymptome machen die Arzneiwahl in diesem Fall einfach (Arsenicum album C 200). In den folgenden 30 Jahren homöopathischer Praxis hatte ich keine so unergiebige Anamnese wie im ersten Beispiel, aber auch kaum jemals wieder eine so prägnante wie im zweiten.

Schmerzpatienten, ob akut oder chronisch, sind für die Homöopathie ein Prüfstein und eine Herausforderung. Eine präzise Anamnese ist unumgänglich, Schmerzmodalitäten und Begleitsymptome sind von großer Bedeutung. Wir sehen das am Beispiel der Herpes-zoster-Neuralgie im Beitrag von Brigitte Jauch-Wimmer und an den Zahnschmerzpatienten von Roland Schule. Trifft man ins Schwarze, ist der Patient ganz ohne Schmerzmittel schmerzfrei, was er vorher mit Schmerzmitteln nicht war. Die Homöopathie kann etwas, was alle Schmerzmittel nicht können (so hilfreich sie auch sein mögen), nämlich dauerhaft schmerzfrei machen, wo das eben möglich ist.

Und damit nicht genug: Nicht selten suchen psychosomatische Schmerzpatienten homöopathischen Rat. Vermittelt über das vegetative Nervensystem werden Trauer und Ängste in Magen, Darm oder Brustbereich projiziert und sorgen dort für Schmerzen. Christian Lucae zeigt in seinem Beitrag das Vorgehen bei funktionellen Bauchschmerzen im Kindesalter.

Wolfgang Würger beschreibt das Organismusmodell in der Homöopathie. Diese Zusammenhänge sind das Rüstzeug, auf dem die homöopathische Praxis fußt. Man beschwere sich nicht, dass das zu kompliziert oder zu theoretisch sei. Die tägliche Praxis mit Schmerzpatienten ist ebenso oft schwierig, vielschichtig und facettenreich – aber diese Menschen haben Schmerzen und brauchen unsere Hilfe. Auch wenn das nicht immer im ersten Anlauf klappt, wie unsere Autoren authentisch beschreiben.

Schmerz ist ein Teil des gesamten Organismus. Ganz besonders gilt das für die Patienten, bei denen organisch bedingte Schmerzen mit seelischen Leiden anderer Ursache vermischt sind, eine häufige Konstellation. Diesen kompliziert Kranken widmet sich Daniela Albrecht in ihrem Beitrag über die Behandlung der Schmerzen bei Arthrose, bei der sie mit dem Therapeutischen Taschenbuch (Bönninghausen) und der General Analysis (Boger) arbeitet. Beatrix Szabo zeigt uns anhand einer Schmerzpatientin die Vorgehensweise von Vijayakar. Beide Ansätze tragen zur Ordnung bei, was gerade in unübersichtlichen Fällen von Bedeutung ist, da man sich sonst leicht im Labyrinth der Symptome verliert.

Man könnte noch vieles mehr über den Schmerz schreiben. Das Thema hatte einen so regen Widerhall, dass nicht alle eingereichten Artikel in dieses Heft aufgenommen werden konnten, ein Indiz, dass die Homöopathenschaft die Herausforderung erfolgreich annimmt. Ich möchte allen Autoren meinen Dank aussprechen, dass sie neben ihrer praktischen Arbeit noch die Zeit gefunden haben, einen Artikel zu verfassen!

Anne Sparenborg-Nolte

Bibliografie

DOI https://doi.org/10.1055/s-0043-114582

AHZ 2017; 262: 3

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

ISSN 1438-2563