ergopraxis 2017; 10(10): 18-23
DOI: 10.1055/s-0043-113917
Ergotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Nervenkompressionssyndrome – Wenn Nerven nerven

Teil 2: Untersuchung und Therapie
Cornelia Paries
,
Andrea Zander

Subject Editor:
Further Information

Publication History

Publication Date:
09 October 2017 (online)

 

In Unterarm und Hand verlaufen wichtige Nerven auf engstem Raum. Werden sie komprimiert, können nachhaltige Nervenschäden entstehen. Im zweiten Teil unseres Refreshers erfahren Sie mehr über die Befunderhebung sowie die therapeutischen Maßnahmen bei Nervenkompressionssyndromen der oberen Extremitäten.


#

Cornelia Paries

Zoom Image

Cornelia Paries, Ergotherapeutin B.A., arbeitete mehrere Jahre in der Handrehabilitation. Heute ist sie Fachhochschuldozentin der Akademie für Handrehabilitation (AfH) und Herausgeberin von ergopraxis.

Andrea Zander

Zoom Image

Andrea Zander, Physiotherapeutin, ist seit 1995 in einer Praxis mit Schwerpunkt Handrehabilitation tätig. Sie arbeitet außerdem als Fachhochschuldozentin der AfH.

Lernziele

  • Sie kennen drei Untersuchungsmethoden der physischen Anamnese.

  • Sie können verschiedene Therapiemaßnahmen zur Behandlung von Kompressionssyndromen nennen und beschreiben.

Nervenkompressionen lassen sich in akute und chronische Formen einteilen. Die akute Kompression kommt zum Beispiel durch zu enge Gipsverbände oder falsche Lagerung zustande. Chronische Nervenkompressionen entstehen eher durch lokale anatomische Engpässe. Auch raumfordernde Prozesse wie Kallusbildung nach einer Fraktur oder Tumore können eine chronische Druckschädigung verursachen [1]. Im Allgemeinen weisen Lokalität, Art und Qualität der Symptome auf die Art der Störung hin sowie auf die Struktur, die dieses Problem verursacht. Daher sind anatomische und pathophysiologische Kenntnisse für Befunderhebung und Behandlung erforderlich (ERGOPRAXIS 9/17, S. 18).


#

Ein Blick auf die Pathophysiologie

Wird ein Nerv einem direkten Druck ausgesetzt, der höher ist als der Kapillardruck und längere Zeit anhält, kommt es zur Unterbrechung der Durchblutung und zur Minderversorgung der diesen Nerv versorgenden eigenen Nerven. Letztendlich wird die Reizweiterleitung unterbrochen. Neben der Druckeinwirkung spielt auch die „Schutzausstattung“ des Nervs eine Rolle. So weisen Nerven an Orten erhöhter physiologischer Druckbelastung mehr Fettzellen im Epineurium auf, um sich zu schützen.

Langanhaltender Druck wirkt sich zuerst auf die sensiblen Nervenfasern aus, was sich in Parästhesien und/oder Taubheit zeigt. Bei anhaltendem Druck reagieren auch motorische Fasern, und es kommt zur Kraftminderung bis hin zur Atrophie des Muskels.

Ein Beispiel: Im Karpaltunnel herrscht physiologisch ein Tunneldruck von 2,5 mmHg (Millimeter Quecksilbersäule = Maßeinheit für den Blutdruck), welcher bei flektiertem bzw. extendiertem Handgelenk auf 30–50 mmHg ansteigt. Untersuchungen zeigen, dass bei einem Karpaltunnelsyndrom bereits in Nullstellung ein Druck von 30 mmHg vorliegt, der sich bei Flexion und Extension um ein Vielfaches erhöht [2]. Bedenkt man, dass bereits ein Druck von 30 mmHg den intraneuralen Blutstrom beeinträchtigt und 50 mmHg eine totale Unterbrechung verursacht, zeigt das, wie stark der Nerv geschädigt werden kann, wenn eine Therapie nicht zeitnah erfolgt.

Bei einem Nervenkompressionssyndrom ist zudem die Neurodynamik beeinträchtigt, also die Fähigkeit des nervalen Bindegewebes gegenüber dem umliegenden Gewebe zu gleiten. Durch die Verletzung kommt es im Epineurium zu einem Ödem, das wiederum zu einer Ischämie führt. Die Folgen sind eine gestörte Reizweiterleitung, eine veränderte Mechanosensitivität und Adhäsionen, die zu einem gestörten Gleitverhalten führen [3].


#

Anamnese

Nervenkompressionsstörungen sind nicht immer ausschließlich schmerzhaft, sondern können verschiedene Arten von neuralen Symptomen aufweisen [4]:

  • Parästhesien (andersartige Empfindungen)

  • Dysästhesien (abnorm unangenehme, oft schmerzhafte Empfindungen)

  • Hypoästhesie (verminderte Empfindlichkeit auf einen Reiz)

  • Hyperästhesie (übermäßige Empfindlichkeit)

  • Hyperalgesie (übersteigertes Schmerzempfinden)

  • Allodynie (ein normalerweise nicht schmerzhaft empfundener Reiz wird schmerzhaft empfunden)

Patienten geben Schmerzen in der Regel als tief, stumpf und dem Zahnschmerz vergleichbar an [5]. Außerdem berichten sie häufig über Kraftverlust, Faszikulationen (Muskelzucken), Krämpfe und vegetative Symptome. Diese Symptome lassen sich durch mechanische Reize, zum Beispiel veränderte Kopf- und Armhaltungen oder Positionswechsel, im Alltag verringern oder verstärken. Im Rahmen der Befunderhebung sollte der Patient solche symptombeeinflussenden Bewegungen demonstrieren, um die nervalen Symptome zu reproduzieren. Diese Bewegungsabläufe dienen zudem der Wiederbefundung, um nach einer Behandlungsmethode eine Verbesserung bzw. Verschlechterung der Symptomatik beurteilen zu können. Auch Stress führt zu einer erhöhten Symptombelastung, weshalb das in der Anamnese beachtet werden sollte.

Eine Kompressionsstörung ist nicht immer ausschließlich schmerzhaft.

Der Ergotherapeutin stehen drei klinische Untersuchungsmethoden zur Verfügung, die stets Bestandteil der physischen Untersuchung sein sollten: die neurologische Untersuchung, die neurodynamische Untersuchung und die Nervenpalpation.


#

Neurologische Untersuchung

Die neurologische Untersuchung gibt Aufschluss über die Nervenleitfähigkeit und die Lokalisation der Nervenschädigung. Sie dient auch der Verlaufsbeobachtung. Hier testet die Therapeutin Sensibilität, Muskelkraft und Reflexe.

Die Überprüfung der Sensibilität gibt auch Auskunft über die Lokalisation der Schädigung. Während sensible Veränderungen im Bereich eines Dermatoms (Hautareals) auf ein segmentales Problem hinweisen (z. B. Bandscheibenvorfall), deuten Ausfallerscheinungen im Verlauf der sensiblen Innervation auf Läsionen des entsprechenden peripheren Nervs hin. Die Abbildungen 1–4 zeigen sowohl die sensiblen Innervationen als auch die segmentalen Innervationen/Dermatome ([ABB. 1]–[2], S. 20; [ABB. 3]–[4], S. 22).

Zoom Image
ABB. 1 Periphere, sensible Hautinnervation (rechter Arm, Ansicht von ventral)
Abb.: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustration von K. Wesker. Stuttgart: Thieme; 2005
Zoom Image
ABB. 2 Periphere, sensible Hautinnervation (rechter Arm, Ansicht von dorsal)
Abb.: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustration von K. Wesker. Stuttgart: Thieme; 2005
Zoom Image
ABB. 3 Segmentale Hautinnervation/Dermatome (ventral)
Abb.: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustration von K. Wesker. Stuttgart: Thieme; 2005
Zoom Image
ABB. 4 Segmentale Hautinnervation/Dermatome (dorsal)
Abb.: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustration von K. Wesker. Stuttgart: Thieme; 2005

Eine Frage der Befunderhebung: Ist die Ursache segmental oder peripher?

Um die Sensibilität zu messen, haben sich der Semmes-Weinstein-Test und die Zwei-Punkt-Diskrimination bewährt: Beim Semmes-Weinstein-Test drückt die Therapeutin mit einem kalibrierten Monofilament aus steifem Nylon auf die Haut des Patienten. Dieser Reizschwellentest misst die Druckwahrnehmung. Bei der Zwei-Punkt-Diskrimination untersucht man, inwieweit ein Patient zwei taktile Reize noch getrennt voneinander wahrnehmen kann. Die Normwerte variieren je nach Hautareal. An der Zeigefingerbeere beträgt der „normale“ Abstand 2–5 mm, an der palmaren Grundphalanx 6–10 mm. Beide Tests erfolgen ohne visuelle Kontrolle.

Liegt der Verdacht nahe, dass es sich um eine segmentale Ursache handelt, bestätigt (oder widerlegt) die Therapeutin ihre Hypothese, indem sie zunächst die Kennmuskeln (Muskeln, deren Innervation aus einer einzigen Spinalnervenwurzel erfolgt) testet. Dazu führt sie einen Muskelfunktionstest (nach Daniels oder Janda) durch. Eine Abschwächung des Muskels spricht für eine segmentale Ursache. Für die obere Extremität gibt es folgende Kennmuskeln:

  • M. biceps brachii (C5/C6)

  • M. brachioradialis (C6)

  • M. triceps brachii (C7)

  • Hypothenar (C8)

Zum anderen dient die Überprüfung der Reflexe der Differenzierung von peripheren und zentralen Nervenpathologien. So sind bei peripheren Nervenläsionen mit segmentaler Ursache die Reflexe abgeschwächt oder fehlen ganz. Zentrale Läsionen hingegen steigern sie oder lösen pathologische Reflexe aus, zum Beispiel den Babinski-Reflex. Folgende Reflextestungen sollte die Therapeutin bei Verdacht einer segmentalen Ursache durchführen: Bizepssehnenreflex (C6), Radiusperiostreflex (C7), Trizepssehnenreflex (C8).


#

Neurodynamische Untersuchung

Mit der neurodynamischen Untersuchung testet man die Beweglichkeit (Gleitfähigkeit gegenüber dem angrenzenden Gewebe), die Anpassungsfähigkeit an Bewegung und die Mechanosensitivität des Nervensystems. Es gibt eine Reihe von Standardtests, mit denen man überprüfen kann, ob ebenfalls eine Beteiligung des Rückenmarks vorliegt [6], wie Slump-Test, Straight Leg Raise und Passive Neck Flexion.

Die sogenannten Upper Limb Neurodynamic Tests (ULNT) sind Nervenspannungstests. Hier positioniert die Ergotherapeutin den Arm des Patienten in einer für jeden Nerv festgelegten Ausgangsstellung, um den Nerv in Spannung zu bringen. Über verschiedene Bewegungskomponenten kann sie nun die dadurch reproduzierten neuralen Symptome oder vergleichbare Symptome (Symptome, die der Patient nicht kennt, die aber in einem Zusammenhang mit der Kompression stehen, z. B. ein erhöhtes Spannungsgefühl im Seitenvergleich) weiter untersuchen. Ebenso kann sie erneut feststellen, ob die Symptome peripher (über Bewegungen des Armes) oder segmental (über Bewegungen des Kopfes) zu beeinflussen sind.

Insgesamt gibt es vier ULNTs: ULNT1 und ULNT2a überprüfen den N. medianus. ULNT2b testet den N. radialis und ULNT3 den N. ulnaris. Die Beurteilung der Tests setzt die Ergotherapeutin immer in Bezug zur mechanischen Berührungsfläche (Strukturen, die dem Nerven anliegen, wie Muskeln oder Knochen) und zur gesamten klinischen Präsentation, d. h. zu den Symptomen des Patienten und den Ergebnissen der vorangegangenen Untersuchungen.


#

Nervenpalpation

Durch die Palpation von Nerven lassen sich neurale Symptome auslösen, was die Diagnostik unterstützt. Die Palpation kann nur dort erfolgen, wo die Nerven an der Oberfläche verlaufen, nicht aber wenn diese unter Muskeln liegen.

Das Hoffmann-Tinel-Zeichen (= Beklopfen des Nervs) als eine Palpationsmöglichkeit erfolgt am vermuteten Ort der Schädigung. Bei positiven Zeichen werden Parästhesien lokal und im vom Palpationsort distal gelegenen kutanen Versorgungsgebiet des Nervs ausgelöst. Andere Nervenpalpationstechniken wie sanfte Querdehnungen am Ort der Kompression kann die Therapeutin später als Behandlungstechnik einsetzen. Ziele dabei sind Durchblutungsverbesserung, Ödemabtransport, Desensibilisierung und Verbesserung des transversalen Gleitens des Nervs.


#

Differenzialdiagnostik

Nach der Abgrenzung zu zentralen und segmentalen Ursachen führt die Ergotherapeutin Tests für den zu untersuchenden peripheren Nerv durch, um dessen Kompressionshöhe einschätzen zu können. Hierfür nutzt sie isometrische Krafttests der jeweils innervierten Muskulatur. Eine Abschwächung des M. pronator teres weist zum Beispiel auf eine Nervenkompression des N. medianus proximal des Karpaltunnels hin, da die Ausfälle immer distal der Schädigungsstelle deutlich werden. Weiterhin werden differenzialdiagnostisch die drei anatomischen Engstellen des Plexus brachialis (Skalenuslücke, Kostoklavikularraum, Korakopektoralraum) befundet, wenn die vorangegangenen Untersuchungen auf diese proximalen Kompressionshöhen hindeuten.


#

Therapiemaßnahmen

Das wichtigste Therapieziel ist, die möglichst vollständige motorische und sensorische Funktion des Nervs wieder zu erreichen. Inhalte und Schwerpunkte der therapeutischen Maßnahmen richten sich nach der Art und Schwere der Kompression und dem Verlauf der Regeneration. Im Folgenden werden Maßnahmen aus den Bereichen ADL-Training, Schienenversorgung, Sensibilitätstraining, passive/aktive Therapiemaßnahmen, Nervenmobilisation und elektrische Stimulation vorgestellt.


#

ADL-Training

Ein Schwerpunkt ist zunächst die Patienteninformation und -schulung. Die Therapeutin klärt den Patienten auf, inwieweit sich die Nervenschädigung auf den Gebrauch seiner Hand auswirkt, erklärt Vorsichtsmaßnahmen und erarbeitet mit ihm ein Übungsprogramm für zu Hause. Im Vordergrund stehen der Umgang mit der fehlenden Kraft und/oder Sensibilität und der Schutz der Kompressionsstelle (z. B. durch Polster). Es ist wichtig, dass die Therapeutin dem Patienten zeigt, wie er seinen Arm im Alltag einsetzt, ohne die Kompressionsstelle weiter zu belasten. Dazu entwickelt sie unter anderem Ausgleichsstrategien, um möglichst die Kompressionsursache zu beseitigen: Sie führt z. B. Maßnahmen der Rückenschule durch bzw. berät über eine ergonomische Sitzhaltung, wenn zum Beispiel eine Ulnariskompression im Bereich des Ellenbogens durch eine falsche Sitzhaltung am Schreibtisch vorliegt. Auch zu Hilfsmitteln wie ergonomische Fahrradgriffe und anderen Alltagshilfen berät sie.

Der Patient darf die sensorischen Reize maximal als unangenehm empfinden.


#

Schienenversorgung

Auf Anweisung des Arztes fertigt die Therapeutin Lagerungs- und/oder Funktionsersatzschienen an. Die Schienen ersetzen die ausgefallene Funktion und beugen so Überdehnung von Strukturen, Kontrakturen und weiterer Kompression vor. Sobald die Reinnervation begonnen hat, rückt die Aktivität mehr in den Vordergrund, und die Schienen werden zunehmend weggelassen. Bei Sensibilitätseinschränkungen kontrolliert die Therapeutin regelmäßig die Durchblutungs- und Hautsituation.


#

Sensibilitätstraining/Desensibilisierung

War die Kompression so stark, dass der Patient schmerzhafte Stimuli auf der Haut nicht mehr wahrnimmt (keine Schutzsensibilität mehr vorhanden), gilt es zuerst, Maßnahmen zur Hautpflege und zum Schutz bei Hitze, Kälte, Reibung usw. zu ergreifen. In diesem Stadium der Nichtinnervation wäre ein lokales Sensibilitätstraining nicht zielführend, da die nervale Verbindung zwischen Peripherie und ZNS unterbrochen ist. Hier sollten das imaginäre Training und die Spiegeltherapie zum Einsatz kommen, um eine Veränderung des sensorischen Kortex und damit eine signifikante kortikale Reorganisation zu vermeiden, in deren Verlauf der Körper lernt, die Hand nicht mehr zu gebrauchen, da die Repräsentation der Hand bzw. des Armes auf der Großhirnrinde verloren geht. In der Therapie kann diese Stimulation des sensorischen Kortex auf unterschiedliche Weise erfolgen [1, 7]:

  • motorische/sensorische Übungen durch mentales Vorstellen einer Bewegung bzw. Berührung

  • visuotaktile Information (z. B. Bewegung der Hände anderer beobachten)

  • Tätigkeitswörter lesen bzw. hören

  • Ersatzsensibilität über Nutzung anderer Sinne (z. B. Hörsinn, indem der Patient Knisterfolie berührt/anfasst)

Diese Übungen absolviert der Patient täglich, auch in seinem Heimübungsprogramm – nur dann können sie eine Wirkung erzielen.

Ist die Reinnervation zumindest teilweise erfolgt, stehen die Verbesserung und die Nutzung der wiedergewonnenen Sensibilität im Vordergrund. So kann der Patient Materialien und Gegenstände aus dem täglichen Leben ohne visuelle Kontrolle ertasten und beschreiben [7]. Das ist auch während der Nichtinnervation möglich. Zum Beispiel ertastet er mit verbundenen Augen einen Schlüssel, eine Blume, einen Joghurtbecher. Die Trainingsdauer sollte 15 min nicht überschreiten, da dies konzentrativ sehr anspruchsvoll ist. Im weiteren Verlauf werden die sensorischen Trainingsmethoden mit der Motorik verknüpft. Der Patient soll nun Gegenstände in Form und Größe, Gewicht und Materialbeschaffenheit unterscheiden.

Zudem arbeitet die Therapeutin mit bilateralen Übungen und multisensorischen Stimulationen, um die unterschiedlichen Rezeptoren der Haut zu stimulieren: Sie streicht mit Bürsten oder Pinseln über die Haut, setzt mit einem Vibrationsgerät Vibrationsreize etc. Grundsätzlich gilt, dass sie die Reize jeweils nur so stark dosiert, dass der Patient diese höchstens als unangenehm empfindet. Im Verlauf der Behandlung passt die Therapeutin die Intensität permanent neu an – entsprechend der Regeneration des Nervs.

Tensioner fördern die Dehnfähigkeit, Slider die Gleitfähigkeit des Nervs.


#

Passive und aktive Therapiemaßnahmen

Eine wichtige Rolle spielen vor allem detonisierende Maßnahmen. Denn häufig ist auch ein erhöhter Muskeltonus für die Kompression ursächlich. Mithilfe verschiedener Faszientechniken (z. B. Bindegewebsmassage, muskulofasziales Release), Dehnungen oder thermischen Anwendungen (z. B. Wärmepackungen) lassen sich Muskeln entspannen.

Ist es zudem zu motorischen Ausfällen gekommen, sollte die Therapeutin den Arm bzw. die Hand passiv bewegen. Dies führt der Patient auch eigenständig durch, um Kontrakturen und Weichteilverkürzung vorzubeugen. Liegt nur noch eine Schwäche des Muskels vor, steht die aktive Therapie im Vordergrund. Diese beinhaltet die allgemeine und spezielle Kräftigung der Muskulatur und das Üben alltagsrelevanter Bewegungen, z. B. Arm hochheben, mit den Händen greifen. Ist die Muskulatur komplett reinnerviert, erfolgen die weitere Kräftigung sowie das alltagsnahe und berufsbezogene Training der Koordination und Geschicklichkeit. Das ist individuell sehr spezifisch, je nach Alltag bzw. Beruf. Näht eine Patientin zum Beispiel gerne, kann man mit ihr trainieren, den Faden einzufädeln, arbeitet sie am PC, übt sie das 10-Finger-Schreibsystem.


#

Nervenmobilisation

Vor der Nervenmobilisation erfolgt die Behandlung von Muskeln, Faszien und Gelenken (= extraneurale Strukturen), sofern diese die neuralen Symptome beeinflussen. Dies ist der Fall, wenn beispielsweise beim Pronator-teres-Syndrom ein zu hoher Muskeltonus den Nerv komprimiert. Für die Mobilisation des Nervs nutzt die Therapeutin unterschiedliche Techniken.

Es gibt unter anderem die Slider und die Tensioner. Für beide Mobilisationstechniken dienen die bereits erwähnten ULNTs als Ausgangsstellung. Je nachdem, welcher Nerv behandelt wird, wählt die Therapeutin die entsprechende ULNT-Position aus. Slider sind Bewegungskomponenten des Armes, welche die Therapeutin in der entsprechenden ULNT-Position ausführt, um den Nerv zu bewegen. Dies fördert dessen Gleitfähigkeit. Der gesamte Nerv wird bei dieser Technik bewegt, indem er an einem Ende (z. B. Hand) „gezogen“ und am anderen Ende (z. B. HWS) entspannt wird. Tensioner hingegen verbessern die Spannung (Dehnfähigkeit) des Nervs. Hier bewegt die Therapeutin den Arm des Patienten in eine bestimmte Position, um den Nerv von beiden Seiten auf Spannung zu bringen [4].

Bei der Ausführung ist zu beachten, dass Schmerzfreiheit gegeben ist, dass also die Therapeutin die neurale Vorspannung nur so stark wie nötig einstellt und möglichst nah am Symptombereich startet. Zum Beispiel beim Karpaltunnelsyndrom direkt am Handgelenk. Zu Beginn empfiehlt sich eine passive Durchführung von circa 3–30 sek (10 x) bis 60 sek (3 x). Bei diesen Behandlungstechniken kann es anfangs zu Nachreaktionen kommen, bei denen sich die bekannten Symptome verstärken und die noch bis zu zwei Tage nach der Behandlung auftreten können. Daher sollte man anfangs unterdosiert arbeiten und die erste Reaktion auf die Behandlung abwarten, bevor man die Dosierung erhöht. Im weiteren Verlauf ist eine aktive Durchführung effektiv und erwünscht.

Tensioner und Slider dienen dem Patienten zudem als Heimübungsprogramm, das er täglich eigenständig durchführen sollte.

Grundsätzlich sollten vor der Nervenmobilisation mögliche Kontraindikationen geklärt werden. Zum Beispiel entzündliche Prozesse mit starker Progression, neurologische Ausfälle (Lähmungen usw.) und deutliche Strukturveränderungen der mechanischen Berührungsflächen. Unabhängig davon erfordern Symptome, die nach der Behandlung auftreten und sich verschlechtern, etwa wenn die Technik zu intensiv ausgeführt wurde, eine Anpassung der Therapie.


#

Elektrische Stimulation

Bei einer Nicht- oder Teilinnervation empfiehlt sich eine elektrische Stimulation, um den Muskel zu stimulieren, einer Atrophie vorzubeugen bzw. das aktive Kontrahieren des Muskels zu unterstützen. Ist es zu einer vollständigen Reinnervation gekommen, wird die elektrische Stimulation beendet und das aktive, neuromuskuläre Training tritt in den Vordergrund.


#

Fazit

In der Behandlung von Nervenkompressionssyndromen ist es unerlässlich, deren Pathomechanik zu kennen und mit den notwendigen Befundmaßnahmen zusammenzubringen. Nur so können die Therapiemethoden gezielt und effizient eingesetzt, und ein befriedigendes Therapieergebnis wird erzielt. Eine engmaschige Kontrolle des Therapieerfolges mit regelmäßiger Evaluation sollte selbstverständlich sein. Mit den richtigen Maßnahmen sowie mit Geduld und Disziplin seitens des Patienten werden die Nerven dann bald nicht mehr nerven.

Cornelia Paries, Andrea Zander


#
#

Zoom Image
Zoom Image
Zoom Image
ABB. 1 Periphere, sensible Hautinnervation (rechter Arm, Ansicht von ventral)
Abb.: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustration von K. Wesker. Stuttgart: Thieme; 2005
Zoom Image
ABB. 2 Periphere, sensible Hautinnervation (rechter Arm, Ansicht von dorsal)
Abb.: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustration von K. Wesker. Stuttgart: Thieme; 2005
Zoom Image
ABB. 3 Segmentale Hautinnervation/Dermatome (ventral)
Abb.: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustration von K. Wesker. Stuttgart: Thieme; 2005
Zoom Image
ABB. 4 Segmentale Hautinnervation/Dermatome (dorsal)
Abb.: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustration von K. Wesker. Stuttgart: Thieme; 2005