Die seit Jahren, insbesondere auch entgegen der damals formulierten Absichtserklärungen
nach der 2007 vorgenommenen Novellierung, steigenden Einweisungs- und Erledigungszahlen
der Unterbringung in der Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) beschäftigen forensische Praxis
und Wissenschaft (z. B. [1]
[2]) und empirische Kriminologie (z. B. [3]
[4]). Der Ausbau der Kapazitäten bindet finanzielle Mittel, die „Abbrecher“ stellen
eine relevante kriminologische Risikopopulation dar [4]
[5], die Zunahme von „Langstraflern“ geht sowohl mit verstärkten baulichen Sicherheitsmaßnahmen
als auch mit geringerer Lockerungsbereitschaft durch MRV-Verantwortliche und Justiz
einher, was wiederum im Sinne der Gewaltspirale die Zahl der Erledigungsanträge steigen
lässt und die therapeutischen Kompetenzen der Teams eher reduziert als stärkt. Dennoch
kommt der auch in forensischen Kreisen immer wieder formulierte Ruf nach einer Abschaffung
des § 64 StGB unseres Erachtens zu früh. Wir meinen, dass die immerhin für fast die
Hälfte der in den Entziehungsanstalten Behandelten offensichtlich gesundheitlich wie
kriminalprognostisch sinnvolle Maßnahme entsprechend der formulierten Vorgaben präziser
indiziert und katamnestisch besser erforscht werden sollte.
Sowohl aus dem Maßregelvollzug (z. B. [6]) als auch aus der Justiz (BGH 5 StR 37/14 vom 10.04.2014 in NStZ 6/2014: 315f) werden
Stimmen laut, die Höchstdauern der Behandlungen zu verlängern, obgleich auf der anderen
Seite nichtforensische stationäre Rehabilitationsbehandlungen Suchtkranker, an denen
sich die Gesetzgebung orientierte, mittlerweile in der Regel unter 12 Monaten Dauer
liegen. Klinische Erfahrung und versorgungsepidemiologische Ergebnisse zeigen aber
eindeutig, dass die im weiteren Text geschilderten klaren Forderungen des Gesetzgebers
im Rahmen der Novellierung 2007 sowohl von Gutachtern als auch von erkennenden Gerichten
bis hin zur obergerichtlichen Rechtsprechung ignoriert werden.
Dies betrifft schon den in den juristischen Kommentaren mehr als in den forensischen
Texten ausführlich diskutierten kausalen Zusammenhang zwischen dem sicher zu bejahenden
Hang, „alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu
nehmen“, was deutlich über einen Missbrauch hinausgehen muss und eine Fähigkeit zur
Kontrolle des Konsums ausschließt, und der daraus resultierenden Gefahr, infolge des
Hanges erhebliche rechtswidrige Taten zu begehen. Eindeutig wird im Gesetzestext die
Priorität der Abhängigkeitsproblematik gegenüber anderen Motivationen oder allfälligen
kriminellen Neigungen formuliert. Bei Menschen mit starken dissozialen Tendenzen bis
hin zur entsprechenden Persönlichkeitsstörung dienen Suchtmittel häufig dazu, intendierte
Grenzüberschreitungen zu erleichtern. Nicht der Hang ist bei dieser Personengruppe
für die Gefährlichkeit entscheidend, sondern die vorbestehende anders zu begründende
motivationale oder psychiatrische Problematik.
Zumindest in der baden-württembergischen Praxis werden diese gerade auch von unserer
Forschungsgruppe formulierten Hinweise in den letzten Jahren doch stärker wahrgenommen,
was sich in einem deutlichen Rückgang der Einweisungen in die Entziehungsanstalt bei
Sexualdelikten zeigt. Insbesondere Alkohol spielt bei vielen Sexualdelikten eine Rolle
(siehe die entsprechende Rate in der Polizeilichen Kriminalstatistik PKS), aber nicht
im Sinne eines die Grenzüberschreitung determinierenden Hanges, sondern als Katalysator,
um die entsprechende Gewaltbereitschaft zu erhöhen. Ohne dies mit Zahlen belegen zu
können, scheinen nach wie vor trotz entsprechender Hinweise zu viele Menschen mit
Beschaffungskriminalität im höheren Ausmaß in die Entziehungsanstalt eingewiesen zu
werden, obgleich häufig weniger der Hang oder gar eine Abhängigkeit vom Suchtstoff,
sondern der Wunsch nach materiellen Vorteilen die Delikte wesentlich motiviert. Wir
fanden in gutachterlichen Verfahren negative Haaranalysen bei Drogendealern, die auch
die Gerichte davon überzeugten, dass nicht der Hang zu schädlichem Konsum die Gefährlichkeit
bestimmt, sondern das Verharren in einer kriminellen Lebensweise.
Juristisch wie forensisch breiter diskutiert werden seit Langem die im § 64 StGB geforderten
prognostischen Aussagen – es muss eine „hinreichend konkrete Aussicht“ bestehen, „die
Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt zu heilen oder eine erhebliche
Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger
Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen“. Dass mit dieser Forderung entsprechende
Behandlungsprogramme mit einer Orientierung auf Leben und Arbeit in Freiheit verbunden
sind, hat der Bundesgesetzgeber 2007 aufgegriffen und mit dem in der Praxis überwiegend
umgesetzten zeitlichen Vorrang der Strafe vor der Maßregel umgesetzt. Die mit diesen
Vorgaben verbundenen potenziellen, an Prozent- und nicht an Absolutwerten orientierten
Strafzeitverringerungen führten dann aber in den letzten Jahren zu zahlreicheren Einweisungen
von Patienten mit längeren Strafen, damit gravierenderen Delikten, was in den Kommentierungen
der Gesetzesnovellierung eigentlich ausgeschlossen worden war: Als Beispiele für Fälle,
in denen trotz Vorliegens der Voraussetzungen des Hanges von der Unterbringung abzusehen
ist, sind im Gesetzgebungsverfahren angeführt worden: Sprachunkundigkeit, Erwartung
baldiger Ausweisung, Zusammentreffen des Hangs mit kriminogenen Persönlichkeitsstörungen,
durch die Erprobungen unter Lockerungsbedingungen ausgeschlossen sind …“ [7]. Würden diese Vorgaben korrekt umgesetzt, wäre die Klientel der von der § 64-Behandlung
zu wenig Profitierenden und damit „Abbrecher“ um eine kriminologisch höchst problematische
Gruppe reduziert, was sich gerade in den Auswertungen der forensischen Basisdokumentation
in Baden-Württemberg deutlich zeigt.
Rechtliche Änderungen könnten in einer auf 6 Monate befristeten probatorischen Behandlung
nach der Hauptverhandlung gesehen werden, wobei dies unseres Erachtens nur greifen
würde, wenn die oben genannten Punkte deutlich stärker als bisher gutachterlich wie
juristisch berücksichtigt würden. Weniger komplex und möglicherweise im Sinne der
Gleichbehandlung ohnehin geboten, wäre die Änderung der Anrechnung der Haft- und Therapiezeiten:
In der Summe sollten sie nicht wie aktuell bereits auf Halbstrafe berechnet werden,
sondern auf zwei Drittel. Dies würde die rechnerische Attraktivität des § 64 StGB
auf „Langstrafler“ reduzieren und die faktische erhebliche Ungerechtigkeit beseitigen,
dass sich Patienten mit 2 Jahren Haftstrafe zum Teil genau solange im Freiheitsentzug
befinden wie solche mit 5 Jahren Haft.
Therapie komplexer Persönlichkeitsprobleme und -störungen existiert nicht nur in der
Entziehungsanstalt, sondern auch in Haft sowie im psychiatrischen Krankenhaus! Mit
Therapie darf keine von voherein in Aussicht gestellte Verkürzung der Vollzugszeit
verbunden werden, sonst schafft man eine kriminologische Risiko-Klientel. Für mehr
als 50 % der nach § 64 StGB Untergebrachten ist diese Behandlung sinnvoll und Suchtmittel-
wie Deliktrückfälle deutlich reduzierend.
Der § 64 StGB ist aus unserer Sicht dahingehend zu ändern, dass er stärker probatorische
Elemente in den Vollzug einbaut und zeitliche Vorteile gegenüber der Haft ausgeschlossen
werden.