ergopraxis 2017; 10(06): 12-13
DOI: 10.1055/s-0043-106260
Wissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Lena Feldhaus und Bianca Adriana Dreghin – Eine junge Kultur verschafft sich Gehör

Heike Meyer

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
09. Juni 2017 (online)

 

Gehörlose Menschen gelten in der Gesellschaft häufig als behindert. Ihre Interessenvertreter plädieren jedoch dafür, sie anstatt einer Behinderung vielmehr einer Kultur oder sprachlichen Minderheit zuzuordnen. Die Ergotherapeutinnen Bianca Adriana Dreghin und Lena Feldhaus analysierten in ihrer Bachelorarbeit, welche kulturspezifischen identitätsstiftenden Betätigungen Gehörlose ausüben.


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Lena Feldhaus und Bianca Adriana Dreghin
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Bianca Adriana Dreghin (rechts) und Lena Feldhaus (links) bei ihrer Bachelor-absolventenfeier. Die Gebärde, die sie hier zeigen, bedeutet „I love you“ und gilt als internationaler Gruß oder Erkennungszeichen unter Gebärdensprachlern.
Abb.: D. Wahlich

Bianca Adriana Dreghin (rechts im Bild) ist 26 Jahre alt und wurde in Rumänien geboren. Ihre Eltern wanderten nach Deutschland aus, als sie elf Monate alt war. Mit zehn Monaten ertaubte sie infolge einer Meningitis und erhielt Ergotherapie aufgrund von Gleichgewichtsproblemen. Später entschied sie, selbst Ergotherapeutin zu werden, und absolvierte das Bachelorstudium in Bochum. Derzeit arbeitet sie tagesstrukturierend und kommunikationsorientiert mit gehörlosen und taubblinden Menschen in Sachsen. Während des Studiums lernte sie Lena Feldhaus (links im Bild) kennen. Die heute 25-Jährige studiert aktuell im berufsbegleitenden Master „Psychosoziale Beratung und Recht“ und arbeitet in Teilzeit in einem ambulant betreuten Wohnen für psychisch erkrankte Menschen in Gelsenkirchen. Erste Kontakte zur Gehörlosenkultur hatte sie im Rahmen eines Volkshochschulkurses für Gebärdensprache.

Die Bachelorarbeit

Wollen Ergotherapeuten inklusionsfördernde, betätigungsorientierte und klientenzentrierte Maßnahmen bei Gehörlosen etablieren, setzt dies voraus, dass sie deren Bedürfnisse und Lebenswelt verstehen. Bisherige Studien zu diesem Thema sind defizitorientiert, haben eine pathologische Sichtweise auf die Gehörlosigkeit und der Einbezug des kulturellen Hintergrundes fehlt. Bianca Adriana Dreghin und Lena Feldhaus untersuchten deshalb, welche Betätigungen Gehörlose ausführen, die ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Gehörlosenkultur vermitteln und zu ihrer Kulturidentität beitragen. Im Rahmen einer hypothesenbildenden Herangehensweise mit ethnografischem Fokus kombinierten sie die teilnehmende Beobachtung mit qualitativen Interviews.

Den Kontakt zu fünf Interviewpartnern im Alter von 21 bis 50 Jahren stellte Bianca Adriana Dreghin her, die selbst kulturell gehörlos ist. So bezeichnet man alle Personen – auch Hörende –, die sich der Gehörlosengemeinschaft zugehörig fühlen. Voraussetzung für die Studienteilnehmer war, dass sie die Gebärdensprache beherrschen sowie Grundkenntnisse der deutschen Schriftsprache aufweisen. Die Studentinnen befragten die Teilnehmer einzeln über eine Dauer von 60 bis 105 Minuten. Darin ging es beispielsweise um den Zusammenhang zwischen Sport und der Gehörlosenkultur und welche Erfahrungen die Interviewten damit gemacht haben. Anschließend analysierten die Ergotherapeutinnen die Antworten mit dem Ziel, eine allgemeingültige Theorie abzuleiten. Ihr Vorgehen lehnten sie an der Grounded Theory an, um sich trotz kleiner Stichprobe einer theoretischen Sättigung der Daten anzunähern. Dazu verwendeten sie das sogenannte theoretische Sampling, um Kategorien und deren Eigenschaften aufzudecken und Beziehungsgefüge abzubilden.

Gehörlosigkeit wird von den Betroffenen als Kulturgut erlebt.


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Das Ergebnis

Die beiden Ergotherapeutinnen kamen zu der Hypothese, dass kulturell Gehörlose identitätsstiftende Betätigungen meist in Form einer sogenannten Co-Occupation ausführen. Sie suchen also überwiegend die Gemeinschaft zu anderen (Gehörlosen). Dies kann ausschließlich innerhalb der Gehörlosengemeinschaft stattfinden. In diesem Fall stärkt die Zugehörigkeit zu einer eigenen Kultur das Selbstbewusstsein. Andererseits kann die Betätigung auch in der Welt der Hörenden stattfinden. Hierbei bestehen jedoch Betätigungsbarrieren. Angebote wie Gehörlosentheater gibt es zum Beispiel nicht so häufig. Solche umweltbedingten Betätigungsbarrieren können eine sogenannte Occupational Injustice hervorrufen, also eine Benachteiligung, dass Gehörlosen bestimmte Betätigungen wie der Theaterbesuch gänzlich verwehrt bleiben oder nur mit massivem Aufwand möglich sind. Vier der fünf Teilnehmer berichteten von solchen diskriminierenden kommunikationseinschränkenden Erfahrungen.

Eine weitere Variante ist der Wechsel zwischen hörendem und gehörlosem Kontext. Gehörlose nehmen in diesem Fall eine Mittlerrolle zwischen beiden Kulturen ein. Essenziell sind dabei moderne Kommunikationstechniken und soziale Netzwerke.


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Das Fazit

Gehörlosigkeit wird von den Betroffenen als Kulturgut erlebt. Durch identitätsstiftende Betätigungen fühlen sie sich zur ethnischen Gruppe der Gehörlosengemeinschaft zugehörig. Defizite wie Verständigungsprobleme mit Hörenden „wegzutherapieren“ wäre für sie kein klientenzentriertes ergotherapeutisches Ziel. Stattdessen ist ein kultursensibles Vorgehen indiziert, das die persönliche Umwelt und kulturbedingten Besonderheiten berücksichtigt. Das heißt, geringen Kontakt zu Hörenden sollte man nicht als Verständigungsprobleme deklarieren. Stattdessen sollten Ergotherapeuten genau analysieren, wo das eigentliche Problem liegt.

Heike Meyer

4 Fragen an Lena Feldhaus und Bianca Adriana Dreghin

Welche Botschaft möchten Sie Hörenden im Umgang mit Gehörlosen mitgeben?

Gebt Gehörlosen nicht das Gefühl, behindert zu sein. Seid mutig, sie anzusprechen, und unterstreicht das Gesagte mit Körpersprache.

Gibt es Fähigkeiten, mit denen Gehörlose den Hörenden überlegen sind?

Gehörlose nehmen die Welt visuell viel intensiver wahr. Sie sind auf Mimik und Gestik angewiesen und haben oft eine gute Menschenkenntnis. Ihre Kultur hat eine ganz eigene Art von Humor und versteht es, zwischen den Zeilen zu lesen.

Was war Ihr eindrücklichstes Erlebnis im Umgang mit gehörlosen Menschen?

Feldhaus: Als ich im Zug eine Gruppe Gehörloser einfach angesprochen und gebärdet habe, waren sie unsagbar aufgeschlossen und haben mir für die restliche Fahrt neue Gebärden beigebracht.

Dreghin: Ich durfte in Japan einer Konferenz mit 130 Gehörlosen beiwohnen und ein Referat halten. Ich wurde so herzlich aufgenommen, als wären wir eine Familie.

Welches Land würden Sie gern gemeinsam bereisen und warum?

Wir würden gerne in die USA reisen und die Gallaudet University in Washington besuchen. Diese weltweit einzige Universität für Gehörlose hat die Geschichte und die Forschung zur Gehörlosenkultur maßgeblich beeinflusst.


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Bachelorarbeit

Dreghin BA, Feldhaus L. Kultur oder Behinderung? Eine ethnographische Studie zu identitätsstiftenden Betätigungen von gehörlosen Erwachsenen. Bachelorarbeit an der Hochschule für Gesundheit Bochum; 2016


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Bianca Adriana Dreghin (rechts) und Lena Feldhaus (links) bei ihrer Bachelor-absolventenfeier. Die Gebärde, die sie hier zeigen, bedeutet „I love you“ und gilt als internationaler Gruß oder Erkennungszeichen unter Gebärdensprachlern.
Abb.: D. Wahlich