Aktuelle Dermatologie 2017; 43(05): 208-212
DOI: 10.1055/s-0043-106155
Von den Wurzeln unseres Fachs
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Haut, Bedeutung in Wandlung

Skin, Change of Significance
E. G. Jung
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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Ernst G. Jung
Maulbeeerweg 20
69120 Heidelberg

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Publication Date:
15 May 2017 (online)

 

Zusammenfassung

Die Haut ist seit jeher als Grenzorgan empfunden worden, als Trennung zwischen Innen und Außen. In der Antike wurde dies anhand der Mythologie ausgemacht, im Schinden des Satyr Marsyas und in der Schutzfunktion von Aegis, dem Schild des Göttervater Zeus. Im Mittelalter dominierte die Verhüllung der Haut, bis es zur Erforschung des anatomischen Substrats und Klärung der physiologischen Funktion kommt. Zuletzt dient die Haut auch als Träger von psychologischen Botschaften. Beispielhaft ist die Schönheit, vor allem der Gesichter, und die Zuordnung der erotischen Attraktivität, die, als Blickfang gedacht, leider die Schönheit oft durch hässliche aber attraktive Attribute entstellen.


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Abstract

Our skin has since eve been estimated as an organ of separation between inside and outside. This is found in the antique myths of the flaying of the Satyr Marsyas and the story of Aegis, the shield of godfather Zeus. In the Middle Ages skin was mainly covered, whereas the investigation of anatomy and physiology was progressed.

Nowadays our skin, mostly of the faces, is used to express impressions and promote emotions. Therefore, erotic attractivity has to be added to eternal beauty. To reach the aim of an optimal presentation of personal attractivity, natural beauty has to be mixed up by eye catchers. And you land in a „trap of ugliness” instead of erotic attractivity.


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Was ist unsere Haut? Wozu brauchen wir diese und was machen wir daraus?

Das sind die Fragen, welche die Menschen beschäftigen, schon immer und mit wechselnder Bedeutung. Fragen also, die uns durch die gesamte Kulturgeschichte begleiten und einem diesbezüglichen Wandel unterliegen. Dem wollen wir nachgehen.

Die Haut ist ein faszinierendes Organ, das größte unseres Körpers, und trägt eine Vielzahl von Funktionen, deren Bedeutung einem steten Wandel unterliegen. Entsprechend erscheint die Haut nie so im Vordergrund von physischen und psychischen Erörterungen zu stehen wie gegenwärtig. Dies betrifft sowohl naturwissenschaftliche wie auch psychosomatische Reflexionen, betrifft aber auch die Kosmetik im weiten Sinne unter Einschluss der Selbstdarstellung und deren zielorientierter Eingriffe und Manipulationen. Aber auch die Kulturgeschichte, die Kunst und neuerdings die Kulturtheorie haben frische Aspekte zum Thema Haut beigetragen. Haut ist allgegenwärtig und mächtig wichtig. Während bisher die Medizin, also vorwiegend unsere Dermatologie, dann die Kosmetik und in besonderer Weise die Werbung sich mit Abbildungen der Haut in allen Belangen bedienten, hat die Haut im 20. Jahrhundert die neuen Medien entdeckt und im Sturm erobert. Bewegung und dreidimensionale Darstellungen, Phantasien, Clips, Videos, Filme und Installationen überschwemmen die Szene und erzwingen breite öffentliche Aufmerksamkeit. Die Haut steht oft und unglaublich stark im Vordergrund. Man ist versucht, dem Diktum von James Joyce (1977): „modern man has an epidermis rather than a soul“ zu glauben.

Die Tatsache bleibt: Unsere Haut ist anatomisches Substrat, hat physiologische Funktion, dient als Träger von Botschaften und wirkt als Metapher.

Das anatomische Substrat Haut lässt sich aus der Ontogenese, der frühen Form der Embryogenese, darstellen. Aus dem Zellhaufen, der wenige Tage nach der Ei-Befruchtung entstand, differenziert sich die äußere Zellschicht als Ektoderm ab vom Mesoderm, aus welchem Skelett, Muskulatur und Bindegewebe hervorgehen werden. Das Ektoderm stülpt sich ein (Gastrulation), der Urmund entsteht, und es wird zum Entoderm, aus welchem der Magendarmtrakt hervorgehen wird mit seinen angehängten inneren Organen. Dabei werden Längsrichtung, Kopfbildung und Symmetrien ausgebildet. Ein für alle Wirbeltiere gültiges Körpermuster also, welches im Grundsatz die Phylogenese „im Zeitraffer der Schwangerschaft“ nachzeichnet, wie dies von Ernst Häckel 1866 als „Biogenetisches Grundgesetz“ formuliert wurde.

Das Ektoderm bildet die Epidermis als Außenhaut unserer Oberfläche aus, die sich in der 8 – 12 SSW mehrschichtig strukturiert und sekundär mit dem dermalen Bindegewebe (der Dermis) verzahnt und die Anhangsgebilde der Haarfollikel sowie Talg- und Schweißdrüsen ab der 12 SSW ausbildet. Diese gemeinsame Wurzel von Ektoderm und Entoderm lassen verstehen, dass „Haut und Darm“ besondere Beziehungen wahren, die sich vor allem bei Krankheitszuständen offenbaren und zudem auch vegetative sowie psychische Aspekte tragen. Sekundär wird die Haut auch sehr früh angeschlossen an das Herzkreislaufsystem zur Versorgung, und an das Nervensystem zur Wahrnehmung und Steuerung. Auch die Pigmentzellen (Melanozyten) wandern in der 8 – 12 SSW aus der Neuralleiste ein. Spuren dieser Verknüpfungen kommen gelegentlich bei somatischen Mutationen und bei Krankheiten wieder zum Vorschein [1].


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Die Haut trennt unser Inneres von Außen

Die Phylogenese belegt, die Haut der primären Wirbeltiere ist immer eine Grenzschicht gegen Wasser und diejenige der Landwirbeltiere vor allem eine solche gegen Luft. Entsprechend ist sie gestaltet. Eine große Vielfalt ist gleichsam erprobt worden. Bei den Primaten ist von dem Vielen das Beste erhalten und erscheint bei uns Menschen, gegenüber den frei lebenden Primaten, nochmals gezielter und angepasst. Der Prozess ist nicht abgeschlossen. Wir sind noch mitten im Zug der Adaption an die kulturelle Entwicklung und Gestaltung unserer Lebenswelten unter Berücksichtigung von Zivilisation und Vorstellung. Unsere Haut ist plastisch, mechanisch belastbar und weitgehend gefeit gegen Austrocknung. Und sie hat ein außergewöhnliches Potenzial der Erneuerung und Wundheilung. Unter Erhalt der Elastizität und Beweglichkeit bildet sie wunderbaren Schutz gegen mechanische Belastung sowie gegen thermische und chemische Gefährdungen. Der Mythos von Aegis spricht dafür.


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Die Schutzmetapher von Aegis

Aegis ist der Schild des Zeus, der ihm vom göttlichen Schmied Hephaistos aus Ziegenleder gefertigt und gehärtet wurde. Neben der Schutzwirkung konnte Zeus durch Schütteln zudem Donner und Gewitter auslösen. Der Schutzschild ging an Zeus’ Tochter Pallas Athene über, welche den Schild durch Orakelschlangen umrandete und zentral mit der grässlichen Fratze der durch Perseus getöteten Gorgone Medusa ausstaffierte. Dadurch konnte jeder Betrachter gelähmt und gar umgebracht werden.

Der aus Ziegenhaut geschaffene Schild diente zunächst zum mechanischen Schutz des Göttervaters und wirkt in der Hand der Tochter neben der üblichen Schutzfunktion auch gegen die Blitze von Zeus. Er ist nunmehr zusätzlich ausgerüstet zur Aggression gegen Feinde und sogar gegen jeden, der das schreckliche Bild anzusehen bekam. Eine Steigerung der Schutzwirkung aus der Abwehr heraus, neu in „Fernwirkung“, also zur Fremdwirkung auf Abstand und zugleich als gezielte und äußerst effektive Aggression. Der Schutzschild also als Waffe. Nicht selten wurden auch Feinde mit dem Schild erschlagen. Und Usurpatoren wurden im alten Rom auf den Schild erhoben, um so als Anführer gewonnen zu werden und dies zu verkünden.

Die Haut als unser Außenschutz ist wirksam und wirkungsvoll. Sie bleibt dabei nicht „ungeschoren“. Wunden [2] und Narben zeugen davon. Nicht zuletzt die legendäre Wadennarbe aus der Jugend des Homerischen Helden Odysseus, an welcher die Hausmagd nach 20 Jahren Abwesenheit den Rückkehrer wiedererkennt [3]. Narben sind Zeugen der Zeit, bilden Geschehenes ab und wirken manchmal auch als „Ehrenzeichen“. Sie wurden, und werden es auch heute noch, zudem als Schmuck und Symbolsprache artifiziell angebracht und gedeutet [4].

Unsere Haut ist lebensnotwendig. Großflächige Verbrennungen zeigen dies. Und seit jeher, soweit Zeugnisse aus Kultur und Kriegen reichen, ist Schinden als sehr schmerzhafte und sichere Todesstrafe bekannt und weidlich eingesetzt worden [5] [6] [7]. Der Mythos von Marsyas unterstreicht solches.


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Marsyas der Geschundene

Als die griechischen Götter Musikinstrumente erfanden, Apollon die Kithara (Leier) und Athena den Aulos (Oboe), begann diese Geschichte. Athena verabscheute ihr beim Blasen aufgedunsenes und entstelltes Gesicht, verwarf die Flöte und wünschte einem möglichen Finder Verderben. Der Satyr Marsyas fand die Flöte, spielte sie meisterhaft und forderte Apollon zum Wettstreit. Der Sieger möge mutwillig verfahren; Schinden war angesagt. Es kam, wie es kommen musste, Apollon gewann und Marsyas wurde bei lebendigem Leib zu Tode geschunden. Damit wird gezeigt, dass den Menschen göttliche Qualitäten versagt bleiben und schon der Vergleich grimmig bestraft wird [7].


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Ein hoher Stellenwert unserer Haut im Altertum

Diese Beispiele belegen, dass die Haut in den Mythen reichhaltig zur Darstellung kommt und in den Götter- und Heldengestalten zuweilen gar personenspezifische Merkmale zeigt. Die Erkennungsnarbe von Odysseus, das Gorgonenhaupt und die verletzlichen Stellen bei Herakles und Siegfried sind Paradebeispiele dazu. Und die steinernen Zeugnisse der frühen Hochkulturen sind voller Erzählungen, in welchen die Haut von Bedeutung ist. Schinden, Verletzungen, Wundpflege einerseits und Ausschmückung anderseits werden dargestellt und hervorgehoben. Körperpflege und Kosmetik spielten schon sehr früh sowohl eine Rolle im ritualen wie auch im persönlichen Bereich. Die Pflege der Haut dient nicht nur der persönlichen Schönheit und Attraktivität, sondern auch dem Wohlbefinden und der Gesundheit [8]. Solches wirkt nach bis heute, wenn im Pali-Kanon unter den 32 großen Merkmalen des Buddha 10 sich mit Haut und Haaren beschäftigt und unter den 80 kleinen Merkmalen sogar 29 [9]. Und im „Hohen Lied“ von König Salomon (965 – 926 vor Chr.) beklagt sich das Mädchen im berühmten „Niger sum, sed formosa“ ([Abb. 1]) über die damaligen Schönheitskriterien und deren Auswirkungen.

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Abb. 1 Nigra sum, sed formosa, Bibel A.T.: HL 1,5-6.

Es ist festzuhalten, dass die Haut des Menschen, ihre Darstellung und die Wertschätzung, schon in allen frühen Hochkulturen immer wieder und ausgesprochen vielseitig zum Ausdruck kommt. Darin sind sich die Experten der Medizingeschichte, der Geistes- und der Verhaltenswissenschaften absolut einig [1] [10] [11] [12] [13]. Ein besonderes „Schatzkästlein“ stellt die reichhaltige Synopsis von Steven Connor [14] ([Abb. 2]) dar.

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Abb. 2 Steven Connor, the Encyclopaedist.

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Mittelalter und frühe Neuzeit

Während die Haut im Altertum in jeder Beziehung sichtbar und von mythischer Relevanz war, ändert sich dies im Mittelalter dramatisch. Die Haut wurde deutlich weniger offengelegt, zuweilen gar verhüllt. Die Symbolkraft für Schönheit und Gesundheit tritt in den Hintergrund, Körper- und Hautpflege wurden vernachlässigt und die Darstellung der Haut in der Kunst untersagt. Diese Entwicklung war im christlichen Abendland besonders drastisch, wo Erbsünde, Demut und Buße die religiöse Welt prägten. Im Vordergrund stand die spirituelle Bewältigung der Körper-Geist-Probleme unter Vernachlässigung und sogar Unterdrückung neuer wissenschaftlicher Ansätze.

Erst ab dem 11. Jahrhundert wurden erste Leichenöffnungen gewagt und die anatomische Erforschung des menschlichen Körpers, und damit auch der Haut, nahm scheuen Anfang. Wissenschaft und Kunst waren die treibenden Kräfte. Und die erste zusammenfassende Darstellung erfolgte 1523 durch den Brüsseler Naturforscher Andreas Vesalius in seinem Werk „De corporis humani fabrica libri septem“. Dies kam einem Durchbruch nahe [15].

Mittels der durch Antoni van Leewenhoek (1632 – 1723) im niederländischen Delft entwickelten Mikroskopie gelang Marcello Malpighi (1632 – 1694) die Beschreibung der Schichtung der Haut und ihrer Anhangsgebilde. Abraham Vater (1684 – 1751) und Filippo Pacini (1812 – 1883) beschrieben die Hautnerven und die nach ihnen benannten Endkörperchen. 1857 entdeckte der Göttinger Anatom Friedrich Merkel (1845 – 1919) die Merkelzellen und 1904 Felix Pinkus (1868 – 1947) die Haarscheiben als Mechanorezeptoren. Georg Meissner (1829 – 1905) berichtete 1852 über die nach ihm benannten Tastkörperchen. Und im Jahre 1875 beschrieb Paul Langerhans (1847 – 1888) die nach ihm benannten dendritischen, Antigen präsentierenden Zellen in der Haut. Soweit die Anatomie [15].

Im Jahre 1845 veröffentlicht der Wiener Dermatologie Ferdinand von Hebra (1816 – 1880) sein richtungsweisendes Werk „Versuch einer auf pathologische Anatomie gegründeten Einteilung der Hautkrankheiten“. Damit belebt er die Dermatologie aufgrund der mikro- und makrologischen Morphologie, setzt eindeutig auf wissenschaftliche Grundlagen und lockert die humoralpathologischen Fesseln [15]. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert entstand eine Vielzahl von dermatologischen Fachkliniken und Forschungseinrichtungen. Die Dermatologie ist in der akademischen Welt angekommen und prosperierte seither entsprechend. Die Neuzeit beginnt nun auch für unser Fach.


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Die neue Zeit

In der neuen Zeit des 20. und 21. Jahrhunderts kommen unserer Haut wiederum ganz neue Bedeutungen zu. Die Dermatologie blüht in Forschung und Therapie enorm auf und die deutlich zunehmenden Hautkrankheiten werden Objekte öffentlicher Wahrnehmung. Eine Entwicklung, die nicht zuletzt den Medien zu verdanken ist und unseren Patienten zugute kommt. Zudem nimmt die Kosmetik im weiteren Sinne neue Räume ein und begeht frische Wege. Kosmetik expandiert und boomt [8].

Ganz wesentlich aber ist die neu aufkommende psychologische Betrachtungsweise, die aus der Reserve getreten ist und unsere Haut und deren Bewertung in vielfältiger Weise belebt. Der Haut wird sogar ein sogenanntes „Haut-Ich“ zugesprochen [16]. Sie wird personalisiert und ihr wird, partiell wenigstens, eine eigenständige Rolle zugedacht. Der tiefsinnige und vielgestalte Diskurs darüber lässt uns erstaunen und fasziniert zugleich [12] [13] [14] [16]. Hat die Haut aber ein eignes „Ich“, so ist der Weg zum Gedächtnis nicht mehr weit. Solchem virtuellen Speicher werden ewige Wahrheiten und elementare Gefühle eingebracht, virtuell eben oder „in effigie“ [17].

Die Haut als Grenzfläche zu Luft und Wasser wird erweitert auf das Körperinnere und die Außenwelt. Die anatomische, physiologische und auch physikalische Betrachtungsweise wird ergänzt und ausgeweitet auf die Person und deren Gesamtstruktur auf der einen Seite und die Außenwelt anderseits. Dies wird gestaltet und betrachtet als ein Produkt von Klima, Habitat, Menschen, Arbeit und sozialen Beziehungsgeflechten. Die Haut beginnt daran teil zu nehmen [18] [19] [20].

Vergesellschaftet mit den neuen Gesellschaftsstrukturen, kommt der Haut als Projektionsfläche unserer Erscheinung weit größere Bedeutung zu. Es ist dies die Umwertung zur „Ego-Gesellschaft“ mit Selbstständigkeit und Selbstverwirklichung [21]. Die Gesellschaft wird offener, „Singles“ und befristete Partnerschaften sowie soziale Absicherungen nehmen einspringend überhand. Gleichzeitig änderten sich die biologischen Bedingungen. Gezielte Verhütung und damit Geburtenregelung führten zur Trennung von Sex und Fortpflanzung. Die Partnerwahl aber wird dadurch zu einer lebenslangen und immer wieder vordringlichen Aufgabe. Selbstanpreisung und „Zurschaustellung“ ist angesagt. Da kommt es zwangsläufig zur drastischen Steigerung attraktiver Effekte durch alle möglichen Mittel und Möglichkeiten der individuellen und besonderen Attraktivität. Kosmetik der dekorativen und invasiven Art ist gemeint und die Haut hat all dies zu tragen [8].

Diese besondere und individuelle Attraktivität wir ausgehend von der allgemeinen Schönheitsvorstellung [22] durch Hervorhebung und Ausarbeitung der Blickfänger vordringlich im Gesicht gesucht. Dabei bewegt man sich auf einer gleitenden Skala zwischen Schönheit und Hässlichkeit [23], wie dies in der Mythologie durch die Medusa [24] und in den Traditionen des Maskenwesens [26] [27] vorgezeichnet wird. Hier droht die „Hässlichkeitsfalle“, da oft das richtige Maß der Attraktivitätssteigerung verfehlt oder überschritten wird und Hässlichkeit erreicht wird. Ablehnung oder gar Abstoßung wird erreicht, was der ursprünglichen Intention gänzlich zuwider läuft.


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Exkurs über die Schönheit

Folgt man Umberto Eco, der 2004 ein wunderbar bebildertes Buch über die „Geschichte der Schönheit“ [22] schrieb, suchten schon die alten Griechen die „Schönheit“ in ihren Mythen. Früh, schon bei Homer, erscheint Helena, die schönste Frau, als zentrale Figur des Geschehens um den Trojanischen Krieg. Ihre Schönheit soll so überwältigend gewesen sein, dass jeder Mann, der sie sah, Helena besitzen wollte, und der sie bekam, ihr die Seitensprünge verzieh.

Neben der umwerfenden Schönheit kam, auch damals schon, sexuelle Attraktivität mit ins Spiel; und bei dieser Verknüpfung ist es offensichtlich bis heute geblieben.

Helena verkörpert die absolute Schönheit, war sie doch die Tochter des Göttervaters Zeus, welche der Leda aus dem Ei schlüpfte. Eine Krönung gleichsam, in der von den Göttern in idealtypischer Weise geschaffenen Welt der Natur und der innewohnenden Geschöpfe, auch des Menschen. Dort ist die Schönheit angesiedelt und am besten zu finden. Die Natürlichkeit in den Darstellungen der bildenden Künste dient als Wertmaß der Schönheit über Jahrtausende und ist auch heute keineswegs entwertet. In der Natur also muss die Schönheit von Anordnung und Konfiguration gesucht (Pythagoras 570 – 510 v. Chr.) und mathematisch erfasst (Euklid um 300 v. Chr.) werden.

In der Geometrie gibt es eine Symmetrie und unendliche Asymmetrien, aber nur eine, deren Einzigartigkeit und Besonderheit als gefällig, ja schön die Aufmerksamkeit auf sich zog. „Goldener Schnitt“ wird die göttliche Proportion genannt. Es ist das Verhältnis, das dann entsteht, wenn man eine Linie AB durch einen Punkt C so teilt, dass AB sich so zu AC verhält wie AC zu CB [22]. Der goldene Schnitt wiederholt sich entlang einer Zahlenreihe, die später als Fibonacci-Folge benannt wird, so der Mathematiker Leonardo da Pisa (1170 – 1246).

Der goldene Schnitt erscheint aber auch als harmonischer Zusammenhang von Flächen (Rechtecken), wobei die große Fläche stets aus der Summe der beiden kleineren besteht, die in der Reihe der großen Fläche vorgelagert sind. Zudem erscheint er in der Sprossung wachsender Pflanzenstengel [28] und wohl auch in den Abständen der Planeten zu unserer Sonne. Werden den Rechtecken die Kreissegmente eingezeichnet, so erscheint die Spiralwindung der Nautilus-Schnecke. Man fragte sich, ob es sich dabei um „Zeichen“ einer übergeordneten Weltordnung handeln könnte.

In der Renaissance und den anschließenden naturwissenschaftlichen Epochen wird der goldene Schnitt der Antike wieder aufgenommen. Das Suchen nach Signalen oder Quellen einer übergeordneten Weltordnung als Spuren eines Schöpfungsplanes wird nicht mehr in der Mythologie gesucht. Es wird vielmehr versucht, die Spuren der Schöpfung in Maß und Zahl zu fassen und auf den Menschen und dessen Schönheit anzuwenden.

So sind, unter vielen anderen, die Versuche über die Proportionen des vitruvianischen Menschen von Leonardo da Vinci 1490 zu werten und diejenigen Albrecht Dürers 1528 [22]. Dies gelingt nicht überzeugend, obschon es nicht an weiteren Versuchen fehlt. Anderseits darf man nicht vergessen, dass der goldene Schnitt bei der Anordnung von Flächen, Schatten, Figuren und Konstellationen etc. in den darstellenden Künsten, der Architektur, Grafik und Design sehr oft berücksichtigt wird und beiträgt zu dem, was Betrachter und Nutzer empfinden, nämlich Gefallen und Schönheit. Er begleitet uns im Alltag sogar in der DIN-Normierung unserer Schreibwaren.

Im Jahre 1855 fasste Adolf Zeising [29] in seinem Buch über ästhetische Forschungen viele Beobachtungen zusammen und propagierte den goldenen Schnitt als Grundlage einer allgemeinen Proportionslehre. Daran allerdings zweifelte Gustav Theodor Fechner (1801 – 1887), einer der Gründungsväter der Psychologie. Er etablierte das sog. Fechner-Experiment. Dazu hat er eine Testreihe von 10 flächenmäßig gleich großen Rechtecken etabliert. Darunter befanden sich auch das Quadrat und der goldene Schnitt. Über Jahrzehnte testete er mehrere hundert Personen, welche die gefälligste (also auch schönste) Figur zu bezeichnen hatten. Der goldene Schnitt bewährte sich als die weitaus wohlgefälligste Konfiguration; Zeising wurde bestätigt [30]. Erst 1987 unternahm Holger Höge eine qualifizierte Wiederholung des Fechner-Experiments und erreichte überraschende Resultate. Der goldene Schnitt wurde nur selten bevorzugt, hingegen fand das Quadrat hohe Präferenz, und auch andere Rechtecke wurden, wenn auch geringer, dem goldenen Schnitt vorgezogen [3] [31]. Als Ursache wird die grundsätzliche Veränderung der „Lebenswelt“ in den 100 Jahren angeführt und eine „Geschmacksveränderung angenommen. Diese Hypothese hat viel an sich, beobachten wir doch, dass die Gefälligkeit (goldener Schnitt) nicht mehr ausreicht, die der Schönheit zugesellte und offenbar erforderliche erotische Attraktivität zu erreichen. Abweichende Formen müssen als Blickfang beigezogen werden. Diese Tendenz gilt es zu verfolgen.

Ein Sinn für Schönheit ist uns Menschen eigen, möglicherweise gar genetisch angelegt. Dies gilt für die Fremdeinschätzung sowie für die Eigendarstellung. Hier gilt das Prinzip der Prototypikalität, der Durchschnittlichkeit; ein Gesicht also ist dann am schönsten, wenn es dem Prototyp aller Gesichter nahe kommt, gleichsam in der Allgemeinheit verschwindet [8].

Die Studien zeigen allerdings, dass der Schönheitssinn nicht einheitlich ist, Spielräume umfasst und sich in der Zeit auch verändert. So änderte sich etwa die Bedeutung der Bräunung sehr stark mit der Zeit ([Abb. 2]). Neuerdings kommt zum Schönheitssinn ein neues Element hinzu, die erotische Attraktivität, die ausgehend vom Schönheitsdenken besonderen Blickfang erfordert, und der in Erfüllung der neuerdings möglichen ständigen, also lebenslangen Partnersuche oft an Bedeutung enorm übersteigert wird. Damit werden die passageren und die bleibenden Attraktivitätssteigerungen vor allem der erogenen Zonen im Gesicht so hervorgehoben, dass sie auf einer virtuellen Skala von Schönheit zu Hässlichkeit deutlich zu letzterer tendieren. Schäden und nicht reversible Veränderungen sind die Folge. Leider wird des Öfteren in diese „Hässlichkeitsfalle“ getappt. Die „Schönheit“ geht dabei verloren.

Die Haut ist ein Grenzorgan, zwischen Innen und Außen. Das gilt seit jeher [8] [32] und wird nun von offizieller Seite wieder betont, in Deutschland von unserer Fachgesellschaft, der DDG [33], und auch in der Schweiz [34]. Nicht von der Hand zu weisen ist die Tatsache, dass unsere Haut als ein Organ der Selbstdarstellung und der erotischen Attraktivität neu in den Vordergrund tritt. Und die Werbebranche sowie die neuen Medien wissen dies zu nützen oft in verblüffender Weise.


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Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Ernst G. Jung
Maulbeeerweg 20
69120 Heidelberg


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Abb. 1 Nigra sum, sed formosa, Bibel A.T.: HL 1,5-6.
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Abb. 2 Steven Connor, the Encyclopaedist.