Laryngorhinootologie 2017; 96(05): 316-318
DOI: 10.1055/s-0043-102233
Gutachten und Recht
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Aus der Gutachtenpraxis: Gibt es Gehörschäden durch Vibrationen, Infraschall, Ultraschall und/oder Körperschall?

From the Experts Office: Hearing Impairment due Vibration, Infrasound, Ultrasound and/or Bodysound?
T. Brusis
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Publication Date:
17 May 2017 (online)

Einleitung

Im Rahmen der Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit werden häufig auch andere physikalische Einwirkungen (z. B. Vibrationen, Ultraschall usw.) als Schädigungsursachen oder als Kofaktoren von den Betroffenen geltend gemacht. Dies ist v. a. dann zu beobachten, wenn die nachgewiesene Schallbelastung als Schwerhörigkeitsursache allein nicht ausreichend wahrscheinlich gemacht werden kann. Der Gutachter sollte sich jedoch an Fachwissen orientieren und sich nicht zu einer wohlwollenden Hilfestellung für den Probanden aufgrund von Mutmaßungen hinreißen lassen.

1) Gehörschäden durch Vibrationen?

Vibrationen werden auch als mechanische Schwingungen bezeichnet, sind aber keine Schallwellen. Mechanische Schwingungen sind vielmehr Bewegungen von Körpern im Raum um eine Mittellage herum. Falls solche Körper mit Raum in Verbindung stehen, können aber (Körper-)Schallwellen entstehen, die im Bereich des Infraschall liegen.

Die aktuelle Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung vom 6. März 2007, welche die frühere Unfallverhütungsvorschrift „Lärm“ abgelöst hat, ist für viele Anwender aufgrund ihrer Namensgebung missverständlich. Da die Verordnung sowohl Lärmschutz als auch Vibrationsschutz umfasst, könnte man aus der Bezeichnung schließen, dass es sich dabei um den gleichen oder ähnlichen Wirkmechanismus handelt, der zu einer Innenohrschwerhörigkeit führen kann. Aus der Bezeichnung „Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung“ könnte man auch folgern, dass ein Lärmschaden bei gleichzeitiger Vibration eher auftritt oder stärker ausfällt.

Die Lärm- und Vibrations-Arbeitsschutzverordnung vom 6. März 2007 ist eine Verordnung nach § 18 des Arbeitsschutzgesetzes und hat 2 europäische Arbeitsschutz-Richtlinien in nationales Recht umgesetzt, nämlich die Richtlinie „Lärm“ (2003/10/EG) und die Richtlinie „Vibrationen“ (2002/44/EG). Mit der neuen Arbeitsschutzverordnung wurden 2 Richtlinien zusammengefasst, die zuvor getrennt abgehandelt worden waren. Der Grund für die Zusammenfassung lag darin, dass es sich bei den Einwirkungen „Lärm“ und „Vibrationen“ gleichfalls um physikalische Einwirkungen handelt. Sie führen jedoch nicht zum gleichen Schädigungsergebnis, sondern Lärm nur zur Lärmschwerhörigkeit und Vibrationen zu nur Vibrationsschäden! Diese regelhafte Zusammenführung ergab sich aus der Systematik der Berufskrankheitenverordnung, die überwiegend bestimmten „Einwirkungen“ folgt.

Beruflicher Lärm kann bekanntlich eine BK 2301 (Lärmschwerhörigkeit) hervorrufen, arbeitsbedingte Vibrationen können zu einer BK 2103 (Erkrankungen durch Erschütterungen bei Arbeit mit Druckluftwerkzeugen oder gleichartig wirkenden Werkzeugen oder Maschinen) und/oder zu einer BK 2104 (vibrationsbedingte Durchblutungsstörungen an den Händen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können) führen.

Zum Einfluss von Vibrationen bei gleichzeitiger Lärmbelastung gibt es bisher nur wenige und unterschiedliche Untersuchungsergebnisse. Einige Untersuchungen deuten daraufhin, dass bei einer kombinierten Belastung durch Lärm und Ganzkörper-Vibrationen etwas größere Hörminderungen im Vergleich zu entsprechenden Lärmbelastungen allein zu erwarten sind [6]. Eine Begründung gibt es dafür aber nicht. Die Kombination von Lärm und Hand-Arm-Vibrationen wurde vor allem bei Waldarbeitern untersucht [5]. Im Übrigen gibt es für solche Wechselwirkungen derzeit noch keine präzisen Dosis-Wirkungs-Beziehungen.

Andererseits ist die Vorstellung, dass Vibrationen das Innenohr allein oder bei gleichzeitiger Lärmbelastung schädigen können, rein spekulativ. Ein entsprechender Wirkungsmechanismus ist nicht geklärt. Hier ist auch zu berücksichtigen, dass es sich bei der Lärmschwerhörigkeit um eine Stoffwechselüberlastung des Innenohres handelt. Die Lärmschwerhörigkeit ist keine Durchblutungsstörung und kein Schütteltrauma des Innenohres. Im Übrigen ist die Blutregulation des Gehirns, zu dem auch das Innenohr gehört, autonom geregelt und durch Medikamente oder physikalische Einwirkungen nicht beeinflussbar.

Das Vibrationsfühlen spielt aber bei der audiometrischen Untersuchung im Tieftonbereich eine Rolle. Für tiefe Töne können sich in Knochenleitung unrealistische Messpunkte ergeben, wenn die Vibrationen des Knochenschallgebers nicht gehört, sondern gefühlt werden (Pseudoschallleitungskomponente). Von Luftleitungshörern abgestrahlte Schwingungen werden wohl überwiegend nur von tauben Patienten gehört (Aggravation-Simulationstest) [2]. Andererseits wirken niedrigfrequente Vibrationen auf das Vestibularorgan beruhigend. Diese Erkenntnis nützen Mütter, indem sie den Kinderwagen hin- und herschaukeln, damit das Baby schneller einschläft. Bekannt ist auch, dass Auto- und Busfahrten auf viele Passagiere ermüdend wirken, sodass sie – z. B. auf längeren Busfahrten – schnell einschlafen. Das Vestibularorgan kann aber auch durch Vibrationsreize überstrapaziert werden (Kinetosen). Bei diesem Phänomen handelt es sich um physiologische Reaktionen des Zusammenwirkens verschiedener Sinnesorgane. Ein quantitatives Schadensmodell kann aus diesen Beobachtungen aber nicht abgeleitet werden.


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2) Gehörschäden durch Infraschall?

Infraschall ist Schall im Frequenzbereich unter 16 Hz und wird vielfach auch als Erschütterung oder Vibration empfunden [3]. Infraschall ist nicht hörbar ([Abb. 1]). Extrem tieffrequente Schallbelastungen können z. B. im Innenraum von Kraftfahrzeugen entstehen und sich möglicherweise als zusätzlicher Stressfaktor ermüdend auswirken. Eine positive oder negative Wirkung auf das Gehör ist nicht nachgewiesen.

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Abb. 1 Veranschaulichung der Frequenzbereiche von Infraschall, Hörschall und Ultraschall (aus: [3]).

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3) Gehörschäden durch tieffrequenten Schall?

Als tieffrequenter Schall wird der hörbare Schall zwischen 16 und 500 Hz bezeichnet. Solche Schallereignisse gibt es z. B. beim Betrieb der heute weit verbreiteten Windkraftanlagen, Klimaanlagen oder Wärmepumpen. Infraschall wird in unmittelbarer Nähe der Schallquelle wegen der langen Schallwellen oft nicht bemerkt. Die langen Schallwellen können aber durch den Wind weit weggetragen werden und führen dann nach mehreren hundert Metern zu einer unangenehmen „Schallwahrnehmung“, die gelegentlich als belästigend oder als Unwohlgefühl empfunden wird. Dem tieffrequenten Schall kommt andererseits keine spezielle schädigende Wirkung auf das Gehör zu!


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4) Gehörschäden durch Ultraschall?

Ultraschall (Schall oberhalb von 16000 Hz) kommt heute in vielen Bereichen der industriellen Produktion zur Anwendung, z. B. beim Reinigen, Schweißen, Bohren und Schneiden [1]. Dabei entstehen an den zugehörigen Arbeitsplätzen in der Regel tonale Geräuschbelastungen sowohl im Ultrafrequenzbereich als auch im Hörfrequenzbereich [4]. Die Geräusche im Ultrafrequenzbereich sind naturgemäß für den Beschäftigten nicht hörbar, also auch nicht wahrnehmbar, und können das Gehör nicht schädigen. Gefahr kann jedoch durch die Begleitgeräusche im Hörbereich drohen, die durch sog. „Subharmonische“ (Subharmonische Schwingungen, Unterschwingungen, Untertöne) hervorgerufen werden. Manchmal bestehen an solchen Arbeitsplätzen Nebengeräusche, die als unangenehme Pfeiftöne empfunden werden. Wenn diese die gehörschädigende Grenze von 85 dB (A) überschreiten, können sie das Gehör beeinträchtigen. Für die Risikobeurteilung ist daher nicht die Lautstärke des nicht hörbaren Ultraschalls entscheidend, sondern die Lautstärke des tatsächlichen Lärms am Arbeitsplatz. Deshalb muß die Messung mit einem speziellen Ultraschallfilter als AU-bewerteter Lärmexpositionspegel LEX AU, 8h erfolgen. Die VDI-Richtlinie 3766 gibt für Geräusche mit Ultraschallanteilen geeignete Richtwerte vor, um entsprechend belastete Beschäftigte vor Hörminderungen im Sprachfrequenzbereich bis 8000 Hz zu schützen (AU-bewerteter Lärmexpositionspegel LEX AU, 8h: 85 dB). In der Neufassung der VDI- Richtlinie 2058 Bl. 2 (2017) heißt es, dass bleibende Gehörschäden durch luftgeleiteten Ultraschall im Sprachfrequenzbereich von 100 bis 8000 Hz nicht wahrscheinlich sind, wenn die AU-bewerteten Lärmexpositionspegel von 85 dB bzw. die Z-bewerteten Spitzenschalldruckpegel von 140 dB unterschritten werden.

Da aber keine konkreten Erkenntnisse zur Schadensverhinderung im Hochfrequenzbereich und zur Vermeidung möglicher psychovegetativer Beeinträchtigungen durch Ultraschall, wie Kopfschmerzen, Schwindelgefühle und Übelkeit vorliegen, gibt es für die Betreiber von Ultraschallanlagen zusätzliche Richtwerte für Höchstwerte von Terzbandpegeln zwischen 16000 bis 40000 Hz.


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  • Literatur

  • 1 Kusserow H. Kritische Betrachtung der deutschen Beurteilungskriterien für berufliche Ultraschalleinwirkungen auf das Gehör im Rahmen eines internationalen Vergleichs und am Beispiel von Ultraschallmaschinen. IFA -Report 04/2016
  • 2 Lehnhardt E. und R. Laszig: Praxis der Audiometrie. Thieme Verlag; 9. Aufl 2009
  • 3 Maue J.H. 0 Dezibel+0 Dezibel=3 Dezibel. Einführung in die Grundbegriffe und die quantitative Erfassung des Lärms. Erich Schmidt Verlag; 2009
  • 4 Maue J.H. Messung und Beurteilung von Ultrallschallgeräuschen am Arbeitsplatz. Technische Sicherheit Bd 2012; 2: 51-55
  • 5 Palmer K.T. et al. Raynaud-Phänomen, vibrationsbedingtes vasospastisches Syndrom (VVS) und eingeschränkte Hörfähigkeit. Occup Envirom Med 2002; 59: 640-642
  • 6 Schmidt M. Die kombinierte Wirkung des Lärms und der Ganzkörper-Vibrationen auf das Gehör des Landmaschinenfahrers. Z. f. Lärmbekämpfung 1992; 39: 43-51
  • 7 VDI 3766 Ultraschall-Arbeitsplatz-Messung, Bewertung, Beurteilung und Minderung. Berlin: Beuth Verlag; 2012
  • 8 VDI 2058 Bl. 2: Beurteilung von Lärm hinsichtlich Gehörgefährdung. Berlin: Beuth Verlag; 2017