Fortschr Neurol Psychiatr 2017; 85(03): 137-138
DOI: 10.1055/s-0043-102188
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Frührehabilitation und Palliation

Neurological early rehabilitation and pallation
Claus W. Wallesch
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Publication Date:
20 March 2017 (online)

Die neurologische Frührehabilitation entwickelt sich zu einem neuen Subsektor der akutstationären Behandlung [1]. Gründe dafür sind erweiterte Behandlungsmöglichkeiten der modernen Intensivmedizin, die nicht immer von unmittelbarem Erfolg gekrönt sind, und die Spezialisierung der Akutkrankenhäuser der Maximal- und Schwerpunktversorgung infolge der Anreize des DRG-Systems auf Notfallversorgung und spezialisierte Interventionen zulasten der stationären „Ausbehandlung“ [2]. Die neurologische Frührehabilitation der Phase B ist akutstationärer Weiterbehandler von Patienten, die die Intensivstationen der Maximal- und Schwerpunktversorger weiterhin intensivbehandlungs- oder -überwachungspflichtig verlassen und (noch) nicht kooperieren können. Nach der Erhebung der Arbeitsgemeinschaft neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation im Jahr 2014 [3] kommen ¼ der Patienten beatmet zur Aufnahme, der durchschnittliche Glasgow Coma Score bei Aufnahme betrug 11,7. Nur knapp 40 % der Patienten gelangen in die weiterführende Rehabilitation. Nach Definition des Gemeinsamen Bundesausschusses sind rehabilitationsfähig „Versicherte, wenn sie aufgrund ihrer somatischen und psychischen Verfassung die für die Durchführung und Mitwirkung bei der Leistung zur medizinischen Rehabilitation notwendige Belastbarkeit und Motivation oder Motivierbarkeit besitzen“ [4].

Und die übrigen? Nach Glasgow Outcome Scale [5]:

  • 7,6 % Wachkoma

  • 38,1 % basale Kommunikation möglich, minimale emotionale Reaktionen, vollständige oder fast vollständige Abhängigkeit für die Aktivitäten des täglichen Lebens

  • 9,6 % verstorben, davon 2/3 unter einem Palliativprotokoll.

Nach Schäden und Erkrankungen des ZNS ist die Stellung einer Prognose hinsichtlich künftiger Teilhabemöglichkeit erst nach Wochen (hypoxische Hirnschädigung) bis Monaten (SHT) möglich. Bis zur Prognosestellung werden intensiv rehabilitative Ziele erfolgt. Danach haben die Behandler zu prüfen, ob sie für die weitere Behandlung überhaupt ein Mandat haben.

Die neurologische Frührehabilitation erfolgt von wenigen Ausnahmen (z. B. GBS, Querschnitt) abgesehen in engem Dialog mit Bevollmächtigten oder Betreuern als Vertretern des zuvor geäußerten oder mutmaßlichen Patientenwillens. Christoph Lücking, der in der neurologischen Frührehabilitation tätig ist, stellt in diesem Heft die rechtlichen und ethischen Rahmenbedingungen dar und erläutert den Prozess der Entscheidungsfindung zur Behandlungsbegrenzung [6]. Er schildert Problembereiche:

  • Patientenverfügung passt nicht zur konkreten Situation („bleibende schwere Hirnschädigung“, „anhaltende Bewusstlosigkeit“, „absehbar zum Tode führende Erkrankung“),

  • Patientenverfügung ist nicht konkret genug („keine Schläuche“ – Verdursten?, „keine Intensivmedizin“ – nach Verlegung von der Intensivstation?),

  • mutmaßlicher Wille kann nicht ermittelt werden (führt zur Weiterbehandlung nach medizinischer Indikation).

Wichtig ist sein Hinweis, dass die Entscheidung über die Durchführung oder Unterlassung einer medizinischen Maßnahme unter Berücksichtigung des mutmaßlichen Patientenwillens dem Behandlungsteam obliegt. Dies hilft Angehörigen und Betreuern, für die der Wechsel des Behandlungsziels von Frührehabilitation zu Palliation ohnehin eine Belastung darstellt. Nahe Angehörige, die angesichts durchgeführter „Rehabilitation“ häufig unrealistische Hoffnungen hegen, werden mit den sukzessiven Phasen des Abschieds analog Kübler-Ross konfrontiert [7]. Die Erstellung eines Protokolls zur Behandlungsbegrenzung ist ein dialogischer Prozess mit Bevollmächtigtem/ Betreuer, Angehörigen und Behandlungsteam, der Zeit braucht. Die Einbeziehung des Behandlungsteams dient auch dazu zu vermeiden, dass ohnehin belastete Angehörige unterschiedlichen Aussagen ausgesetzt sind.

Berufsbetreuer tun sich häufig schwer, ihr Einverständnis zu einer Behandlungsbegrenzung ohne Zustimmung des Betreuungsgerichts zu geben, weil sie damit das Leben des Betreuten gefährden. Im Falle des Einvernehmens von Behandlern und Betreuer ist die Genehmigung des Betreuungsgerichts nicht erforderlich (BGB § 1904 Abs. 4).

Die Prognose nach schwerer Hirnschädigung ist abhängig von Art und Ausmaß der Schädigung, aber auch von der Rekrutierung biologischer, psychologischer und sozialer Ressourcen; ihre Stellung benötigt Beobachtung über einen Zeitraum von mindestens Wochen. Die gestellte optimal mögliche Prognose muss mit dem geäußerten oder mutmaßlichen Willen des Betroffenen über das Mindestmaß an lebenswerter Teilhabe abgeglichen werden. Sind diese nicht zur Deckung zu bringen, entfällt das Mandat für medizinische Interventionen. Die weitere Versorgung umfasst Linderung von Beschwerden (Schmerzen, Angst, Atemnot) und optimale Pflege. Der Übergang in die Palliation ist ein nicht seltener Outcome der neurologischen Frührehabilitation.

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Prof. Claus-W. Wallesch
 
  • Literatur

  • 1 Wallesch CW. Die neurologische Frührehabilitation als neuer Subsektor der akutstationären Behandlung. Akt Neurol 2016; 43: 280-284
  • 2 von Eiff W, Schüring S, Niehues C. REDIA: Auswirkungen der DRG-Einführung auf die stationäre Rehabilitation. Ergebnisse einer prospektiven und medizin-ökonomischen Langzeitstudie 2003 bis 2011. Berlin: LIT-Verlag; 2011
  • 3 Pohl M, Bertram M, Bucka C. et al. Rehabilitationsverlauf von Patienten in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation. Ergebnisse einer multizentrischen Erfassung im Jahr 2014 in Deutschland. Nervenarzt 2016; 87: 634-644
  • 4 Gemeinsamer Bundesausschuss. Rehabilitations-Richtlinie. 2014 www.g-ba.de/downloads/62-882/RL-Reha_2014-17.pdf
  • 5 Jennett B, Teasdale G, Braakman R. et al. Predicting outcome in individual patients after severe head injury. Lancet 1976; 1: 1031-1034
  • 6 Lücking CB. Therapieentscheidungen bei schweren neurologischen Erkrankungen und am Lebensende. Fortschr Neurol Psychiatr dieses Heft 85: 147-156
  • 7 Kübler-Ross E. Interviews mit Sterbenden. München: Droemer-Knaur; 2001