Aktuelle Dermatologie 2017; 43(01/02): 40-45
DOI: 10.1055/s-0043-100299
Von den Wurzeln unseres Fachs
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Trichologische Annäherungen an das Charakterbild der Kriegerfiguren Riace A und B in der Ausstellung „Athen-Triumph der Bilder“ im Frankfurter Liebieghaus 2016

Trichological Approaches to the Character of the Warrior Figures Riace A and B in the Exhibition “Athen-Triumph der Bilder” at the Liebieghaus, Frankfurt 2016
R. Möhn
Further Information

Korrespondenzadresse

Dr. med. Rudolf Möhn
Arzt für Hautkrankheiten und Allergologie
Philippsruher Allee 35
63454 Hanau

Publication History

Publication Date:
14 February 2017 (online)

 

Zusammenfassung

Auf der Athener Akropolis vor dem Erechtheion standen einst die Figuren des Erechtheus, sagenhaften Königs von Athen (Riace A), und des Eumolpos, Königs der Thraker (Riace B). Das ist das Ergebnis jahrelanger Überlegungen, Untersuchungen und Restaurierung von zwei männlichen Kriegerstatuen, die 1972 von Sporttauchern bei Riace, nahe Reggio di Calabria, im Meer gefunden wurden. Der jetzt wieder hell leuchtende Helm des Erechtheus und die thrakische Fuchsfellmütze (Alopekis) des Eumolpos ([Abb. 1] und [Abb. 2]) erregen im weitesten Sinne auch das Interesse des Dermatotrichologen. Alopekis ist sprachverwandt mit Alopecia, dem medizinisch-fachlichen Oberbegriff für alle Formen auch des menschlichen Haarausfalls, der sich auf die Fuchsräude bezieht, die bei diesem Tier unter großem Haarverlust häufig zum Tode führt. Im Wissen um diese gefährliche Krankheit haben wahrscheinlich im Dunklen liegende Vorgänge im kollektiven Gedächtnis der Thraker zu einer symbolistischen Überhöhung der Alopekis geführt, sodass sie zu einem halbsakralen, kronenartigen Gegenstand wurde, der nun von ihrem König repräsentativ getragen wurde. Tierfelle und das volle „dunkle“ Haar des Dionysos, das er auf Vasenbildern immer trägt, lassen auch immer an dessen „dunkle“ kultische Verehrung denken. Dagegen symbolisiert der leuchtende Helm des Erechtheus, der in Anlehnung an Synesios von Kyrene als künstliche Glatze aufgefasst wird, „helle“ maßvolle Klugheit und Weisheit. Dieser zunächst nur aus der Trichologie und Kopfbedeckung erarbeitete Hell-Dunkel-Gegensatz wird bei den Namen, den getragenen Waffen sowie Herkunft und Charakter der Personen und der mythologischen Zusammenhänge überprüft und – sehr überraschend – voll bestätigt.


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Abstract

On the Athenian Acropolis in front of Erechtheion once stood the statues of Erechtheus, legendary King of Athens (Riace A) and Eumolpos, King of the Thracians (Riace B). This is the result of long-time careful research, investigations and the restoration of two male warrior statues, which skin divers had found in the sea near Riace in the vicinity of Reggio di Calabria in 1972. The now once again brightly shining helmet of Erechtheus and the Thracian fox skin cap (Alopekis) of Eumolpos in the widest sense arouse the interest of the dermatotrichologist. Alopekis is linguistically akin to Alopecia, which in medical terminology denotes all forms of human loss of hair that can be related to itch mite. In the case of the animal it often leads to a heavy loss of coat hair and eventually to death. The knowledge of this dangerous disease together with obscure historical events may have led to a symbolistic enhancement of Alopekis in the collective memory of the Thracians, so that it became a semi-sacred, crown-like object, which was worn by their king for representation. Animal coats and the thick, dark hair of Dionysus worn by him on vase paintings always indicate the “dark” side of Dionysian cult. By contrast, the brightly shining helmet of Erechtheus, which according to Synesios of Kyrene, is conceived of as an artificial bald head, symbolizes the brightness of moderation, prudence and wisdom. The contrast between bright and dark initially deduced from trichology and headwear is also being examined with reference to the weapons, the persons carry, their names, origins and mythological contexts, and is, rather surprisingly, fully confirmed.


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Einleitung

Im Jahre 1972 fanden Sporttaucher im Meer bei Riace in Kalabrien die Statuen zweier Männer, schon auf den ersten Blick aus dem klassischen Altertum stammend. Umfangreiche Untersuchungen und stilistische Überlegungen ergaben, dass es sich um zwei Krieger handelt, jetzt Riace A und B genannt, entstanden etwa um das Jahr 440 v. Chr., also zu Athens glanzvoller Hegemonialzeit. Die ursprünglich getragenen Waffen und Kopfbedeckungen waren nicht mehr vorhanden und von der einstigen Bemalung fanden sich nur noch spärliche Reste. Alles wurde aber nach sorgfältiger Überlegung und Beachtung der gefundenen Spuren in der Folgezeit in mühevoller Kleinarbeit restauriert, sodass wir die Figuren, heute im Besitz des archäologischen Museums von Reggio di Calabria und seit 2016 als Dauerleihgabe im Frankfurter Liebieghaus, wieder in ursprünglichem, vollem und üppigem, polychromem Glanze und in „heroischer Nacktheit“ ([1], S. 114) bewundern können ([Abb. 1] und [Abb. 2]). Waffen und Kopfbedeckungen „sind in der Antike bereits die wichtigsten Verständnisstützen für die Identität der dargestellten Personen, die sicher aus dem griechischen Mythos stammen, gewesen“ ([1], S. 115). Man glaubt heute zu wissen, dass es sich um die einst vor dem Erechtheion auf der Athener Akropolis aufgestellten und vom Reiseschriftsteller Pausanias erwähnten Statuen der mythologischen Figuren des Erechtheus (Riace A) und des Eumolpos (Riace B) handelt.

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Abb. 1 Krieger Riace A, restauriert, soll den mythologischen Athener König Erechtheus darstellen, Bronze, Höhe 198 cm, Museo Reggio di Calabria, Original um 440 v. Chr. Er ist nicht kleiner als Statue Riace B, der Größenunterschied ist fotografisch bedingt (Bild: © Liebieghaus Skulpturensammlung – ARTOTHEK).
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Abb. 2 Krieger Riace B, restauriert, soll den mythologischen Thrakerkönig Eumolpos darstellen, Bronze, Höhe 197 cm, Museo Reggio di Calabria, Original um 440 v. Chr. (Bild: © Liebieghaus Skulpturensammlung – ARTOTHEK).

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Erechtheus und Eumolpos

Die mythologischen Personen von Erechtheus dem Älteren und seinem Enkel Erechtheus dem Jüngeren sind für die Geschichte Athens und Attikas von großer Bedeutung gewesen, das wunderschöne Erechtheion auf der Athener Akropolis mit den Korensäulen zeugt bis heute davon. Der Ältere war ein Sohn der Erde, wurde von der Göttin Athene gepflegt und in ihren Tempel auf der Akropolis versetzt, wo er zum „Urheros“ wurde ([2], S. 307). Unter dem Jüngeren, sagenhaften König von Athen, den Statue A darstellt, fand der Krieg mit Eumolpos, dem König der Thraker, Sohn des Poseidon und der Chione (Statue B) statt. Als Gründer der Mysterien von Eleusis und verbündet mit seinen Einwohnern, führte er den Krieg gegen Erechtheus den Jüngeren um den Besitz dieser Stadt ([2], S. 324). Beide Heroen fanden hierbei den Tod. Sie leben in glanzvoller Apotheose in Form ihrer prachtvoll restaurierten Statuen bis heute fort.


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Die Alopekis des Eumolpos (Figur B)

Was hat das alles mit der Trichologie, der Haarkunde des Dermatologen zu tun? In erweitertem Sinne bei beiden Statuen sehr viel, wie wir sehen werden.

Wie z. B. in der Heraldik (ungezählte Wappen mit Löwen und Adlern), der Literatur (Märchen und Tierfabeln) und Religion (ägyptische Tiergottheiten) versteckt sich der Mensch offenbar gerne hinter dem Tier, oder will sogar, wie im Falle des Tieres in der Religion, etwas Metaphysisches ausdrücken. Auch an die Redewendung „jemand ist ein hohes Tier“ (z. B. in Politik, Verwaltung oder öffentlichem Leben) sei erinnert. So wundert es nicht, dass auch die medizinische Terminologie diesem merkwürdigen Phänomen der Tiervergleiche unterliegt. Begriffe wie Ichthyosis, Leontiasis, Ornithose sind sachlich noch nachvollziehbar, bei den so wichtigen Lupuserkrankungen (Lupus, der Wolf) ist das schon sehr viel weniger der Fall. In der Trichologie werden gleich zwei Tiere bemüht, nämlich die symbolistisch überfrachtete Schlange (gr. ophis), davon abgeleitet die Ophiasis, womit eine besonders schwere Verlaufsform des kreisrunden Haarausfalls gemeint ist, und sehr viel häufiger und wichtiger der Fuchs (gr. Alopex), wovon sich die Alopekia (latinisiert Alopecia, eingedeutscht Alopezie) als Oberbegriff für sämtliche Formen auch des menschlichen Haarausfalls ableitet. Hiermit sind wir dann sprachlich-assoziativ sofort bei der von Eumolpos getragenen thrakischen Fuchsfellmütze Alopekis angekommen. Wir wissen zwar, dass sich der Begriff der Alopezie auf die verheerende und sehr oft mit dem Tode endende Fuchsräude bezieht, wir wissen aber bis heute nicht, wann, wo und von wem er in die medizinische Fachsprache eingeführt wurde.


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Fuchs und Wolf im thrakischen Bergland

So mag denn das wald- und wildtierreiche thrakische Bergland mit einem wahrscheinlich großen, aber auch durch die Seuche oft erheblich dezimierten Bestand an Füchsen vielleicht einen wichtigen Hinweis zur Herkunft des Begriffes Alopezie geben. Für die damaligen Einwohner Thrakiens kann man sich denken, dass ein Mangel an dem wärmenden Kleidungsstück Alopekis gerade in kalten Wintern bei stark reduziertem Bestand gesunder Felle zum Problemfall wurde. Vielleicht gab es auch einen Pelzhandel, der darunter erheblich gelitten hat. Diese schwierigen Situationen sind wahrscheinlich im Dunkel der Vergangenheit in das kollektive Gedächtnis der Bevölkerung eingegangen und haben möglicherweise nicht nur zu einem medizinischen „terminus technicus“ beigetragen, sondern auch zu einer fast kultischen Verehrung des so wichtigen Tieres geführt. Die von der täglichen Realität gelöste Darstellung einer bedeutenden mythologischen Figur, deren wärmende Fuchsfellmütze Alopekis als reinem Gebrauchsgegenstand bei sonstiger „heroischer Nacktheit“ keinen praktischen Sinn ergibt, weist auf eine abstrahierende, zumindest heraldische, wenn nicht fast sakrale Sichtweise auf das nunmehr gleichsam geadelte Tier hin, gerade auch weil der besonders kostbare und seltenere Silberfuchs abgebildet ist

Übrigens scheint auch der Wolf in Thrakien eine besondere Rolle gespielt zu haben, worauf der Name des sagenhaften thrakischen Königs Lykurgos (lykos = der Wolf), nicht zu verwechseln u. a. mit dem berühmten spartanischen Gesetzgeber, hinweist. Ähnlich wie die Alopekis ist die Wolfsfellmütze aus der germanischen Mythologie und Geschichte bekannt. Ihre Träger machten einen bedeutsamen, furchterregenden Eindruck. Im Vergleich zur germanischen Wolfsfellmütze wirkt die Alopekis aber weniger archaisch-wild. Der Fuchs, vielleicht auch schon im griechischen Altertum wegen seiner Schlauheit bekannt, steht in der Rangordnung der Tiere deutlich höher als der Wolf, dennoch wird die animalisch „dunkle“ Seite ihres Trägers betont


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Synesios von Kyrene – ein begeisterter Adept des klassischen Altertums

Auch der Helm des Erechtheus muss eine die Realität einer kriegerischen Kopfbedeckung übersteigende Bedeutung gehabt haben. Eine Brücke dazu bietet uns ein späthellenistischer Schriftsteller und dessen trichologische, halbmetaphysische Schrift „Das Lob der Kahlheit“ [3], die uns hier weiterbringen kann.

Synesios lebte etwa von 370 – 412 n. Chr. und war, noch immer griechisch schreibend, ein Schüler der berühmten Philosophieprofessorin Hypatia in Alexandria, bei der er auch die platonische Philosophie studierte. Obwohl später als eher widerwilliger Christ sogar Bischof von Ptolemais, blieb er doch zeitlebens den Traditionen des klassischen Altertums verbunden. Seine Ausführungen zu berühmten historischen und mythologischen Personen der griechischen Geschichte im „Lob der Kahlheit“ wie Homer, Herodot, Xenophon, Sokrates, Dionysos,Silen u. v. a. sind, obwohl bereits mehr als 800 Jahre nach der großen Zeit Athens entstanden, von unmittelbarer Frische, Begeisterung für die Antike und voller überraschender Ergebnisse, wenn auch aus heutiger Sicht oft nur noch wenig nachvollziehbar. Seine Hauptargumente für das Lob der Kahlheit waren anthropologische (der Mensch ist die Krone der Schöpfung und von allen Lebewesen am wenigsten behaart, umgekehrt ist das dümmste aller Tiere das Schaf mit seiner Wolle), kosmologische (in der Natur sind die nackten, reifen Früchte wie Nüsse, Getreidekörner, Hülsenfrüchte das wichtigste, nicht die vergänglichen Blüten, die gleich dem Haar nur überflüssiger Zierrat sind), astrale (der Kahlkopf wird mit ebenso „kahlköpfigen“ bedeutenden Himmelskörpern verglichen), das homerische Leuchten der Kahlköpfigen und viele trichologische Beispiele aus der griechischen Geschichte, vor allem die Kahlköpfigkeit des Sokrates. Unter anderem dessen unzweifelhafte Intelligenz lässt ihn endlich zu dem wahrhaft gewaltsamen Schluss kommen: „Von den Haaren konnte gezeigt werden, dass sie Ausdruck von Unvernunft, tierischer Natur und Teil der Front gegen das Göttliche sind“ ([3], S. 81).


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Der ungeschmückte Helm – eine künstliche Glatze

Unter allen Ausführungen des Synesios verdienen seine Bemerkungen zum Helm für unser Thema besondere Beachtung. Wir können sein Eintreten für die Kahlköpfigkeit anhand dieses militärischen Gegenstands am besten nachvollziehen. Bereits bei den alten Ägyptern (Beispiel der berühmte Arzt, Staatsmann und Schriftsteller Imhotep) war die künstliche Glatze als Ausdruck von Klugheit und weiser Autorität verbreitet. Viele altägyptische Statuen zeigen Imhotep mit einer turbanartigen, künstlichen Glatze gleichsam ex cathedra zu uns sprechend. Synesios sieht jetzt eine Parallele im Helm des klassischen griechischen Altertums. Er macht zwar keine direkten Angaben zur Art und Herkunft dessen, was ihm vorgeschwebt hat, aber bei seiner Vorliebe für Athens große Zeit kann m. E. kein Zweifel daran bestehen, dass es sich um einen Helm vom Typ der Erechtheusfigur ([Abb. 1]) handelt, wie er ganz ähnlich auch von Perikles und der Göttin Athene ([Abb. 3]) getragen wurde. „Wir sehen ja, dass die Soldaten, wenn sie ihren Gegnern Furcht einjagen wollen, einen Helm auf dem Kopf tragen. Der Helm aber ist der Sache nach nichts anderes als ein Schädel aus Bronze … In der Urform liefert der Helm das genaueste Abbild der Glatze und ist der Ausrüstungsgegenstand des Soldaten, der den meisten Schrecken einflößt … Die glatte und glänzende Oberfläche des Helms ist es wohl, die wie eine Glatze wirkt und Schrecken einflößt“ ([3], S. 67 – 69).

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Abb. 3 Dieselbe Art des Helmes wie in [Abb. 1] bei der athenischen Schutzpatronin, der Göttin Athene, sog. Athena des Myron, Liebieghaus Frankfurt. Kopie aus den Gärten des Lukullus, Rom, augusteische Zeit. Auch hier der Eindruck von Weisheit und Klugheit (bei mädchenhafter, gänzlich unmilitärischer Schönheit. Schönste Darstellung der Athena nach Ansicht des Frankfurter Liebieghauses) (Bild: © Liebieghaus Skulpturensammlung – ARTOTHEK).

Hierzu einige sprachliche Bemerkungen, wie ich sie schon in meiner Arbeit „Über das Lob der Kahlheit“ des Synesios von Kyrene mit trichologischem Rückblick in die Antike sowie Ausblick in Gegenwart und Zukunft ([4], S. 468) gemacht habe. Synesios nennt die Glatze nicht „Alopekia“, sondern spricht von „phalakra“, wobei „phalos“ ein bügelartiger, den Helm dorsal umfassender Wulst bedeutet, der die eigentliche (kahle und ungeschmückte) Spitze „akra“ umgibt. Der Vergleich mit einer typischen androgenetischen Alopezie bei stark erhaltenem bügelartigem Haarkranz dorsal und Kahlheit nur auf der Kopfmitte ist sehr einleuchtend und wird noch untermauert durch ein weiteres Detail, nämlich dass „die Helme hinten zwischen Filz und Metall mit in Reihen angeordneten Tierhaaren besetzt werden“ ([3], S. 67). Diese fungieren für den Glatzenhelm also gleichsam als bügelartiger erhaltener Haarkranz. Schamhaft verborgen unter einem Efeukränzchen ist diese Glatzenform ganz typisch z. B. bei der mythologischen Figur des Silenos auf Vasenbildern zu sehen.

Weiter liegt im Griechischen bei Helm und Schädel ein Wortspiel vor, denn der Helm heißt „kranos“ und der Schädel „kranion“, also eigentlich das Helmchen. So wird klar, dass Helm und (kahler) Schädel zu einer nahezu untrennbaren Einheit verschmelzen. Dem Helm des Erechtheus sind bei Riace A sogar farbig markierte Nasen- und Augenpartien angefügt, die hier aber erst über der Stirn getragen werden, sodass das Ganze wie ein zweites nach oben verlagertes Gesicht wirkt. Im Kampfe wurde der Helm, bei Spielraum zwischen ihm und dem Schädel, zum Schutz zentraler Gesichtspartien wahrscheinlich heruntergezogen, sodass dann der Eindruck eines „korinthischen Helms“ ([1], S. 115) entstehen konnte. Wichtig ist aber, dass seitliche Extraflügel zum Schutz lateraler Gesichtspartien, oder gar permanente Gesamtverhüllung des Gesichtes sowie jeglicher Schmuck und Zierrat fehlen. Das wirkte weit weniger martialisch oder prächtig (man vergleiche dazu eine ganze Galerie korinthischer Helme bei Wikipedia), macht den Helm mit seiner Leuchtkraft bei unverhülltem Gesicht aber besonders geeignet zum Tragen auch außerhalb des Kampfes, etwa zu Zwecken der Repräsentation und zur Hervorhebung einer wichtigen Persönlichkeit.


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Der Glatzenhelm wird zum Symbol für Weisheit und Klugheit

Wenn man also den typischerweise ungeschmückten griechischen Helm als „genauestes Abbild“ der Glatze bezeichnet, die wiederum ein Attribut „sokratischer“ Weisheit und Klugheit ist, kann nur gefolgert werden, dass bei der Darstellung des Erechtheus neben militärischer Stärke eben auch diese „hellen“, geistigen Eigenschaften zum Ausdruck gebracht werden. Der Helm leuchtete im Gegensatz zur stumpfen Tierfellmütze weithin, wobei man annehmen darf, dass die Sensibilität der Menschen auf Lichtabstufungen in der Antike mangels künstlicher Dauerbeleuchtung und bei dunklen Nächten sehr viel größer war und, wie von Synesios zitiert, das „homerische“ Leuchten einer Glatze angeblich bereits genügte, um einen Raum zu erhellen. Das Leuchten von Speer und Helm (hier allerdings mit Helmbusch) der Athena Promachos auf der Athener Akropolis soll so stark empfunden worden sein, dass man es noch auf dem 65 km entfernten Kap Sounion gesehen haben will.

Für die historische Person des Perikles, der nicht nur ein großer Feldherr, sondern auch ein kluger und bedeutender Staatsmann war, ist der hell leuchtende Glatzenhelm ja auch durch Skulpturen in verschiedenen Museen historisch bezeugt (dass er vielleicht auch eine Kopfdeformität verbergen sollte, ist hier nicht entscheidend), für die mythologische Person der Athene als Schutzpatronin und als Göttin auch der Klugheit ohne weiteres ein verständliches Symbol, und für den mythologischen König Erechtheus, Enkel des „Urheros“ Attikas, gleichsam ein Programm und Ausdruck eines hegemonialen Anspruchs Athens in militärischer, politischer und kultureller Sicht.


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Zusammenfassender Vergleich der Figuren des Erechtheus und des Eumolpos

Die Kopfbedeckung des Eumolpos mit der Alopekis steht im Gegensatz zur helmartigen „sokratischen“ Kahlheit des Erechtheus. Dichte Behaarung und/oder Gebrauch von Tierfellen, wie bei Eumolpos, weisen in der griechischen Mythologie immer auch auf den „dunklen“ Kult des Dionysos hin, wie es bei Vasenbildern, auf denen Dionysos immer mit guter Kopfbehaarung und häufig mit Tierfellen bekleidet im Gegensatz zu seinem immer glatzköpfigen Zuchtmeister Silenos dargestellt wird, sehr gut zu erkennen ist. Man könnte also beim Vergleich beider Figuren von einem trichologisch ausgedrückten Hell-Dunkel oder dionysisch-sokratischen Gegensatz sprechen. Nähere Ausführungen dazu habe ich in meiner schon genannten Arbeit gemacht ([4], S. 469).

Wem das im wahrsten Sinne des Wortes vielleicht ein wenig an den Haaren herbeigezogen ist, dem werden vielleicht andere, nicht trichologische Gegensätze beider Figuren, die aber in verblüffender Weise in dieselbe Richtung weisen, plausibler erscheinen. Da ist zunächst die Namensgebung. Nach Benseler ([2], S. 307) bedeutet Erechtheus, oder Erichthonios, der Erderschütterer (Chthon = die Erde). Eine Beziehung zum Gewaltigen, Mächtigen kann vermutet werden. Nach Pape ([5], S. 972) heißt Eumolpos der Schönsänger, sprachverwandt Melpomene, eine der neun Musen. Wie bei seinem berühmten thrakischen Landsmann, dem Sänger Orpheus, wird also eine musische Begabung deutlich. Musik wirkt von außen nach innen in tiefere, „dunkle“ seelische Schichten hinein. Der Name der späteren Schutzpatronin der Musik, der heiligen Cäcilie, weist auf Blindheit und Dunkelheit hin (caecus = lat. blind, dunkel). Eumolpos gründete auch die eleusinischen Mysterien, oder war zumindest einer ihrer wichtigsten Protagonisten, was noch mehr auf eine in tieferen, dunklen seelischen Schichten lokalisierte mystisch-religiöse Veranlagung und eine stark introvertierte Persönlichkeit hindeutet, die Meerestiefen seines im „Dunklen“ wohnenden Vaters Poseidon runden dieses Bild ab.

Bei der Bewaffnung deutet der hell leuchtende Glatzenhelm des extrovertierten Erechtheus, wie schon oben angeführt, auf Besonnenheit, leuchtende Klarheit, Klugheit und Logik des Geistes hin, ganz wie bei der ebenfalls helmtragenden Lichtgestalt der Athene. Der Speer des Erechtheus ist zwar eine gefährliche Waffe, er besitzt aber einen gewissen paramilitärischen (der Speerwurf ist auch Disziplin des olympischen klassischen Fünfkampfes) und militärischen „ Adel“. Man denkt unwillkürlich an einen gerechten, ritterlichen Kampf, wie er auch ohne Krieg z. B. auf mittelalterlichen Turnieren ausgetragen wurde. Auf die sich später entwickelnde Symbolik des Speeres (heilige Lanze der Christenheit, Bedeutung des Speeres in der germanischen Mythologie u. v. a.) sei hingewiesen. Nach Primavesi ([6], S. 101) träumt Erechtheus davon, ihn in einem späteren Ruhestand gar nicht mehr benutzen zu müssen, sondern ihn mit Spinnenweben umflort an der Wand stehen zu sehen. Er zeichnet ihn jedenfalls als zwar mächtigen, aber maßvollen, gerechten und ritterlichen Kämpfer aus. Demgegenüber ist die vulgäre Streitaxt in der Hand des Eumolpos nur ein barbarisches, nicht kodifiziertes und symbolistisch kaum hinterfragbares Mordinstrument, und man wird ihm ein tief im „Dunklen“ seiner Persönlichkeit schlummerndes grausames Wesen unterstellen müssen. Primavesi ([6], S. 101) spricht ihm ebenfalls barbarische Qualitäten zu, ein scheinbar unüberbrückbarer Kontrast zu seiner religiösen Veranlagung (nicht alle bedeutenden Persönlichkeiten der Religionsgeschichte waren friedlich!) und seiner Musikalität. Es gibt viele historische Persönlichkeiten, die gerade in dieser Hinsicht ein ähnlich gegensätzliches Muster zeigen. Der Bekannteste ist vielleicht der wegen seiner außergewöhnlichen (neuerdings allerdings etwas angezweifelten) Grausamkeit bekannte Kaiser Nero, der sich immer wieder auch musischer Auftritte befleißigte. Auch der blutige König Heinrich VIII. von England und der kriegerische Friedrich der Große waren Musikliebhaber und haben sogar komponiert.

Endlich noch der Schild: Bei Erechtheus ist es der hell leuchtende Rundschild aus Bronze, bei Eumolpos dagegen ein leichter, geflochtener, eingekerbter und nicht leuchtender Schild, die sog. Peltra. Alle drei getragenen Waffen im Vergleich zeigen einen Hell-Dunkel-Kontrast ihrer Träger. Diese ordnen sich damit in die später in der Kunstgeschichte so wichtigen Tag-Nacht-Allegorien ein (z. B. Medici-Gräber Michelangelos in Florenz).


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Rasterartiges Charakterprofil des Erechtheus und des Eumolpos

Gegenüberstellend haben wir ein recht gutes rasterartiges Charakterprofil beider mythologischer Figuren, zu dem, wie wir hoffen, die trichologische Betrachtung einen erheblichen Beitrag leisten konnte ([Tab. 1]).

Tabelle 1

Charakterprofil beider Krieger.

Erechtheus

Eumolpos

trichologisch

leuchtender Glatzenhelm symbolisiert Humanismus, Weisheit und Klugheit

Alopekis symbolisiert niedere animalische Wildheit

Name

Deutet Macht und Stärke an

weist auf musikalische Begabung hin

Religion

Anhänger der klugen Helmträgerin Athene

Sohn des Poseidon, ihres kultischen Konkurrenten in Attika, Vertreter der dunklen eleusinischen Mysterien

Bewaffnung

Speer, Helm und Bronzeschild leuchten reflektierend und deuten auf Helligkeit hin

Streitaxt und geflochtener Schild leuchten nicht, die Alopekis nur beschränkt und nicht reflektierend, dunkles Erscheinungsbild

Wesen

maßvoller, ritterlicher Kämpfer
extrovertiert, großer Geist
sachlich, intellektuell

barbarische Grausamkeit, Unbeherrschtheit
dunkel introvertiert , große Seele
spontan-emotional


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Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Danksagung

Anna und Rainer Schanty, Frankfurt, danke ich für die englische Übersetzung des Titels und des Abstracts.
Herrn Prof. Dr. Brinkmann und Frau Müller vom Frankfurter Liebieghaus danke ich für die freundliche Publikationsgenehmigung zu [Abb. 1] und [Abb. 2], ebenso Frau Dustmann von Artothek im Auftrag des Liebieghauses Frankfurt zu [Abb. 3].

  • Literatur

  • 1 Brinkmann V, Koch-Brinkmann U. Das Rätsel der Riace-Krieger Erechtheus und Eumolpos. In: Ausstellungskatalog von „Athen-Triumph der Bilder“ im Frankfurter Liebieghaus. Petersberg: Michael Imhof Verlag; 2016
  • 2 Benseler GE. Griechisch-deutsches Schulwörterbuch. Leizig: Verlag B.G. Teubner; 1882
  • 3 Golder W. Synesios von Kyrene – Lob der Kahlheit. 2.. Auflage Würzburg: Königshausen und Neumann; 2007
  • 4 Möhn R. Über das „Lob der Kahlheit“ des Synesios von Kyrene mit trichologischem Rückblick in die Antike sowie Ausblick in Gegenwart und Zukunft. Akt Dermatol 2011; 37: 468
  • 5 Pape W. Griechisch-deutsches Handwörterbuch, Band 1. 2.. Auflage Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn; 1849
  • 6 Primavesi O. König zwischen zwei Göttern. Die Erechtheus-Tragödie des Euripides. In: Ausstellungskatalog von „Athen-Triumph der Bilder“ im Frankfurter Liebieghaus. Petersberg: Michael Imhof Verlag; 2016

Korrespondenzadresse

Dr. med. Rudolf Möhn
Arzt für Hautkrankheiten und Allergologie
Philippsruher Allee 35
63454 Hanau

  • Literatur

  • 1 Brinkmann V, Koch-Brinkmann U. Das Rätsel der Riace-Krieger Erechtheus und Eumolpos. In: Ausstellungskatalog von „Athen-Triumph der Bilder“ im Frankfurter Liebieghaus. Petersberg: Michael Imhof Verlag; 2016
  • 2 Benseler GE. Griechisch-deutsches Schulwörterbuch. Leizig: Verlag B.G. Teubner; 1882
  • 3 Golder W. Synesios von Kyrene – Lob der Kahlheit. 2.. Auflage Würzburg: Königshausen und Neumann; 2007
  • 4 Möhn R. Über das „Lob der Kahlheit“ des Synesios von Kyrene mit trichologischem Rückblick in die Antike sowie Ausblick in Gegenwart und Zukunft. Akt Dermatol 2011; 37: 468
  • 5 Pape W. Griechisch-deutsches Handwörterbuch, Band 1. 2.. Auflage Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn; 1849
  • 6 Primavesi O. König zwischen zwei Göttern. Die Erechtheus-Tragödie des Euripides. In: Ausstellungskatalog von „Athen-Triumph der Bilder“ im Frankfurter Liebieghaus. Petersberg: Michael Imhof Verlag; 2016

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Abb. 1 Krieger Riace A, restauriert, soll den mythologischen Athener König Erechtheus darstellen, Bronze, Höhe 198 cm, Museo Reggio di Calabria, Original um 440 v. Chr. Er ist nicht kleiner als Statue Riace B, der Größenunterschied ist fotografisch bedingt (Bild: © Liebieghaus Skulpturensammlung – ARTOTHEK).
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Abb. 2 Krieger Riace B, restauriert, soll den mythologischen Thrakerkönig Eumolpos darstellen, Bronze, Höhe 197 cm, Museo Reggio di Calabria, Original um 440 v. Chr. (Bild: © Liebieghaus Skulpturensammlung – ARTOTHEK).
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Abb. 3 Dieselbe Art des Helmes wie in [Abb. 1] bei der athenischen Schutzpatronin, der Göttin Athene, sog. Athena des Myron, Liebieghaus Frankfurt. Kopie aus den Gärten des Lukullus, Rom, augusteische Zeit. Auch hier der Eindruck von Weisheit und Klugheit (bei mädchenhafter, gänzlich unmilitärischer Schönheit. Schönste Darstellung der Athena nach Ansicht des Frankfurter Liebieghauses) (Bild: © Liebieghaus Skulpturensammlung – ARTOTHEK).