ergopraxis 2017; 10(05): 22
DOI: 10.1055/s-0043-100273
Ergotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Kolumne – Berufsidentität bis aufs Blut

Michael Schiewack

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Publication Date:
05 May 2017 (online)

 

    Handlungsfähigkeit erreichen Klienten nicht durch Trockenübungen – da müssen Alltagsbedingungen her! Und weil Ergotherapeuten keinen Aufwand scheuen, um die Lebensqualität ihrer Klienten zu verbessern, wagt Michael Schiewack ein Abenteuer, an das er sich für den Rest seines Lebens erinnern wird.


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    Heute pflege ich meine Wunden. Denn diese dokumentieren meine berufliche Identität und mein Wissen um die Kernkompetenz der Ergotherapie: die Handlungsfähigkeit des Klienten in den bedeutenden Bereichen seines Lebens herstellen. Das mit den Wunden kam dann so:

    Ich hatte eine Neuaufnahme in meiner Praxis. Ein Riesenkerl. Ein Verkehrsunfall hatte seine Hand ziemlich schwer in Mitleidenschaft gezogen. Kein Problem, denke ich. Mit meinen unzähligen Fortbildungszertifikaten kann mir nichts passieren. Den Klienten bekomme ich schon wieder fit. Nach ausgiebiger Anamnese, Anwendung des COPM und Verwendung der visuellen Analogskala behandele ich drauflos. Schließlich ist der Riese selbstständig und muss seinen Beruf bald wieder ausüben. Dazu müssen sich seine Finger wieder bewegen können, schmerzfrei sein und wörtlich genommen viel Gefühl entwickeln. Er hat Riesenpranken, und ich kann mir gar nicht recht vorstellen, wie er eine solch feinfühlige Arbeit machen kann. Aber das geht mich ja nichts an, ich muss ihn nur wieder dazu befähigen und dafür sorgen, dass er zufrieden ist.

    Opfer müssen in der Ergotherapie eben erbracht werden.

    Nachdem ich ihn zur Narbenbehandlung beraten und ihn für Heimübungen angeleitet habe, werden seine Finger langsam wieder alltagsbeweglich. Nur das mit dem Gefühl, will nicht so recht. Der Klient hatte allerdings ziemlichen Zeitdruck. Denn irgendwann muss er ja wieder seine Brötchen verdienen. Ich schlage also eine Belastungserprobung vor. In seinem Betrieb. Vorher müssen wir jedoch sein Arbeitsgerät und die Belastung für die Hände erproben. Er bringt alles mit. Es summt im Behandlungsraum. Die feinen Vibrationen und Schwingungen der Maschine bereiten dem Klienten keine Schmerzen. Er scheint glücklich und meint, dass er es kaum noch erwarten kann, richtig Hand anzulegen. Ich gebe zu bedenken, dass ich das erst mal genau analysieren muss. Und zwar in der Betätigung selbst. Er schätzt meine Fachexpertise. Ich habe alles im Griff.

    Zur Belastungserprobung treffen wir uns in seinem Laden. Ich sehe mich anerkennend um und lobe ihn für den hygienisch einwandfreien Zustand. Nebenbei notiere ich mir, in meiner Praxis den Hygieneplan ebenfalls zu checken. Er holt seine Maschine heraus und sagt, er könne sofort loslegen. Ich sehe ihn an und meine: „Klar, ich bin bereit.“ Wahnsinn, wie gut seine Handlungsfähigkeit wiederhergestellt ist. Er hat sogar schon ein paar Skizzen angefertigt. Ich bin begeistert, dass er so einen Elan an den Tag legt, und beglückwünsche mich für die gute berufliche Performance meinerseits.

    Jetzt möchte ich es wissen und fordere ihn auf, loszulegen. Er bereitet alles vor, bringt seine Skizze auf meinem Oberarm auf und lässt die Maschine summen. Spitze Nadeln arbeiten sich in meine Haut: Sterne und mein Geburtsdatum. Mir kullern die Tränen. Ich behaupte, aus Freude vor dem Erreichten. Opfer müssen in der Ergotherapie eben erbracht werden.

    Und so pflege ich ein paar Tage später meine Wunden. Sie sind schon fast verheilt. Mein Einsatz für meine Klienten spricht sich herum. Heute hatte ich wieder eine Neuanmeldung: ein Klient nach operiertem Karpaltunnelsyndrom, der unbedingt wieder arbeiten möchte. Er ist Piercer …

    Michael Schiewack


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