ergopraxis 2017; 10(01): 30-33
DOI: 10.1055/s-0042-120848
Ergotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Hochsensible Menschen – Ich fühle was, was du nicht fühlst

Hedda Rühle
,
Sandra Maxeiner

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Publication Date:
07 January 2017 (online)

 

Wer stärker als der Durchschnitt auf Reize reagiert, diese viel eingehender wahrnimmt und verarbeitet, gilt als hochsensibel. Dies hat manche Vorteile, führt allerdings auch zu früherer Erschöpfung und scheinbar geringerer Belastbarkeit. Erfahren Sie, wie Sie Hochsensible erkennen, verstehen und begleiten können.


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Hedda Rühle

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Hedda Rühle, Dipl.-Psychologin, Krankenschwester (Psychiatrie, Onkologie, Chirurgie, Intensivstation), ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sozialpädagogischen Institut Berlin und als Dozentin für das Fach Psychologie und Gesprächsführung am Institut für angewandte Gerontologie tätig sowie für die Fächer Psychopathologie, Psychologie und Psychotherapie zuständig. Seit 1995 ist Hedda Rühle selbstständig mit freier psychotherapeutischer Praxis in Berlin.

Dr. Sandra Maxeiner

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Dr. Sandra Maxeiner, Studium der BWL, Promotion in Politik- und Sozialwissenschaften, ist Heilpraktikerin für Psychotherapie und Coach an der FU Berlin sowie Dozentin für Personalmanagement. Sie ist seit mehreren Jahren Geschäftsführerin eines mittelständischen Unternehmens und Verlagsleiterin. Zudem ist Sandra Maxeiner als Hospizhelferin tätig und hat die Aktion „Was wirklich zählt im Leben“ (http://was-wirklich-zaehlt-im-leben.de) für mehr Mitmenschlichkeit ins Leben gerufen.

15–20 % der Gesamtbevölkerung sind überdurchschnittlich sensibel.

Wer schon einmal eine Mimose berührt hat, weiß, wie empfindlich die Pflanze auf äußere Reize reagiert, zum Beispiel Erschütterung oder Berührung, aber auch Veränderung der Lichtintensität. Sie klappt ihre Laubblätter ein und zieht sich zusammen. Für einige Minuten sieht die Mimose dann aus als sei sie verwelkt. Hochsensible Menschen reagieren vergleichbar: Ist man nicht einfühlsam genug im Umgang mit ihnen oder überfordert man sie mit zu vielen Reizen, ziehen sie sich in sich zurück.

Der 30-jährige Alexander ist einer dieser besonders empfindsamen Menschen. Von Beruf ist er Werbefachmann und produziert Marketingvideos. Schon lange spürt er, dass er nicht so robust und belastbar ist wie seine Kollegen. Er teilt sich mit ihnen ein Großraumbüro und ist zermürbt von dem Lärm und der Hektik dort.

Alexander erinnert sich, schon als Kind anders gewesen zu sein als andere in seinem Alter. Er hörte, sah und fühlte mehr als sie. Vor allem bei Mitschülern stieß er dadurch auf Ablehnung und Unverständnis. Doch auch seine Familie wusste mit seiner Empfindsamkeit nichts anzufangen. „Sei doch nicht so sensibel“, hörte er seine Eltern immer wieder vorwurfsvoll sagen. Seine Schwester hatte Spaß daran, ihn so lange zu ärgern, bis er schließlich weinte.

Fährt Alexander heute U-Bahn, passiert es ihm oft, dass wahre Feuerwerke in seinem Kopf explodieren: Die vielen Menschen mit ihren unterschiedlichen Stimmungen, die Geräusche, Gerüche, das Licht, all die Eindrücke reichen aus, dass ihn in Bruchteilen von Sekunden eine Vielzahl verschiedener Empfindungen überflutet. Zusätzlich schießen ihm dann so viele Gedanken durch den Kopf, dass er völlig überfordert ist. Manchmal glaubt er, verrückt zu werden.

Das Leid der Hochsensiblen

Etwa 15–20 Prozent der Bevölkerung sind überdurchschnittlich sensibel. Zu diesem Schluss kommt die amerikanische Psychologin Elain Aron in ihren Studien. Doch was ist eigentlich Hochsensibilität? Was macht hochsensible Menschen wie Alexander aus? Woran erkennt man sie und wie kann man ihnen wirklich helfen?

Hochsensibilität ist ein Persönlichkeitsmerkmal und keine Störung, sie kann schwächer oder stärker ausgeprägt sein. Für Elaine Aron, die selbst hochsensibel ist, sind Menschen wie Alexander nicht überreizt oder überspannt, auch wenn ihnen das die Umwelt oftmals suggeriert. Sie verfügen über die besondere Gabe, Sinneseindrücke intensiver und differenzierter wahrnehmen zu können. Ihr Gefühls- und Empfindungsspektrum ist breiter gefächert und facettenreicher als das der meisten. Sie nehmen mehr Sinneseindrücke und Informationen gleichzeitig auf, denn sie haben Schwierigkeiten, diese zu filtern. Und: Sie sind besonders empfänglich für die Stimmungen anderer Menschen und fühlen sie – ohne es zu wollen.

Alles, was Hochsensible wahrnehmen, nehmen sie also intensiv und ungefiltert wahr. Das kann schnell zu einer Reizüberflutung führen. Sie neigen auch dazu, intensiver und differenzierter über Dinge und Ideen nachzudenken. Es geht ihnen um mehr Tiefe im Leben, sie achten auf Details, blicken weiter voraus, sind überaus gewissenhaft und neigen zum Perfektionismus.

Wegen dieser Eigenschaften haben es Hochsensible im Alltag oft schwer. Mitarbeiter, Kollegen, aber auch Freunde sind von ihnen oft genervt und im Umgang mit ihnen überfordert. Für sie sind die Sensiblen schlichtweg zickig, kompliziert, anspruchsvoll, wenig belastbar und nicht selten Querulanten, weil sie immer alles kritisch hinterfragen. „Du bist aber empfindlich“, „Du hältst einfach nichts aus“, „Du machst dir viel zu sehr einen Kopf um alles“, solche Sätze hören Hochsensible häufig. Mitunter sind sie auch die gefühlsduseligen Idealisten, philosophisch Verirrten und esoterischen Spinner, weil sie dazu neigen, sich mit Sinnfragen und der spirituellen Dimension des Lebens auseinanderzusetzen.


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Hochsensibilität erkennen – ein langer Weg

Bis Hochsensibilität erkannt und dem Betroffenen selbst klar wird, welche besonderen Persönlichkeitseigenschaften er besitzt, vergehen oft viele leidvolle Jahre. So hat Alexander jahrelang im Großraumbüro unter Zeit- und Leistungsdruck gearbeitet. Die ständige Reizüberflutung durch Hektik, Lärm und die Stimmungen seiner Kollegen, aber auch sein Streben nach Perfektionismus haben ihn schließlich an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gebracht. Um mithalten zu können, entwickelte er eine Überlebensstrategie, bei der er mehr und mehr auf der Strecke blieb: Er nutzte seine ausgeprägten empathischen Fähigkeiten, um die Befindlichkeiten und Bedürfnisse anderer zu erspüren und darauf einzugehen. Dabei verlor er die Wahrnehmung für sich selbst und seine Bedürfnisse. Am Ende stand das Burnout.


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Warum es wichtig ist, Hochsensibilität zu erkennen

Wird Hochsensibilität nicht erkannt, kann sie wie bei Alexander in ein Burnout führen. Es können dadurch aber auch andere psychische Störungen wie Depressionen, Angststörungen und soziale Phobien entstehen. Nicht wenige Hochsensible reagieren auf die Überlastung auch mit körperlichen Symptomen oder Erkrankungen.

Wird die Hochsensibilität während einer Behandlung dieser Folgestörungen immer noch nicht festgestellt, kann die Therapie ausgesprochen schleppend verlaufen oder stagnieren. Häufig kommen die Betroffenen dann mit den mehr oder weniger gleichen Symptomen wieder und wieder in die Praxis, weil das Grundproblem nicht bearbeitet wurde. Zudem besteht die Gefahr, in der Therapie die Bedürfnisse Hochsensibler nicht ausreichend zu berücksichtigen. Viele sind sogenannte „gute Klienten“ mit hoher Compliance. Sie neigen dazu, zu erspüren, in welche Richtung ihr Therapeut sie lenken will und machen alle Maßnahmen mit, um ihn zufriedenzustellen. Während der Therapeut glaubt, dass für seinen Klienten alles bestens läuft und der Klient Fortschritte zu machen scheint, geht es diesem in Wahrheit immer schlechter. Deshalb sollte auch der Therapeut sensibel sein. Er sollte darin geschult sein, eigene Gegenübertragung (Empfindungen, Gefühle, Wünsche und Erwartungen, die der Klient im Therapeuten auslöst) feinfühlig wahrzunehmen. Bei der Behandlung eines Hochsensiblen würde er sich in der Rolle des „guten Therapeuten“ dann mit der Zeit nicht mehr wohlfühlen und wahrnehmen, dass etwas nicht passt.

Hochsensibilität verstehen – Glaubenssätze Hochsensibler

„Ich muss die Bedürfnisse anderer erfüllen, nur dann geht es mir gut“ ist ein Glaubenssatz vieler Hochsensibler, der häufig Altruismus zur Folge hat und an Selbstaufgabe grenzt. Sie können nicht Nein sagen, wollen es allen recht machen und alle Wünsche erfüllen. Dabei übergehen und sabotieren sie sich mit ihrem aufopfernden Verhalten selbst:

  • „Ich darf nicht sein wie ich bin.“

  • „Ich muss mich verbiegen, um dazuzugehören.“

  • „Ich funktioniere nicht richtig und bin nicht belastbar, andere funktionieren besser.“

  • „Ich bin zu empfindlich und sollte mich nicht so anstellen.“

Hochsensibilität verbirgt sich oft auch hinter negativen Glaubenssätzen wie diesen:

  • „Darf ich überhaupt leben?“

  • „Gibt es einen Platz für mich auf dieser Welt?“


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Hochsensibilität erkennen – hilft ein Test?

Elaine Aron, Georg Parlow, Sylvia Harke und Matthias Wiese haben Tests zur Selbsteinschätzung für Hochsensible entworfen. Ihre Fragebögen können eine erste Annährung sein (z. B. Elaine Aron: http://hsperson.com/test/highly-sensitive-test). Allerdings können solche Selbsttests auch zu Fehlurteilen führen: Manche Menschen schätzen sich dann als hochsensibel ein, obwohl sie es nicht sind. Sie verwechseln Hochsensibilität mit Nervosität und Überempfindlichkeit. Reizbarkeit und Empfindlichkeit sind jedoch keine Kriterien für Hochsensibilität. Die ausgiebige Anamnese ist daher wichtig. Es muss sehr genau hinterfragt werden, wie die einzelnen Sinneseindrücke erlebt werden.

Die intensive Beschäftigung mit existenziellen Fragen kann auf Hochsensibilität hinweisen.

Hochsensibilität muss sich auch bereits in der Kindheit gezeigt haben: Viele erwachsene Hochsensible galten wie Alexander als Kind als Schüchterne, Träumer oder Spätentwickler. Zurückzuführen ist das darauf, dass hochsensible Kinder nicht leicht auf unbekannte Menschen zugehen können und neue Situationen scheuen. Sind sie jedoch mit Themen konfrontiert, die sie interessieren, sind sie überaus wissbegierig, stellen auch Unbekannten komplexe Fragen und können sich gut konzentrieren.


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Die Arbeit mit Hochsensiblen

Mit hochsensiblen Menschen zu arbeiten, bedeutet: Arbeit an der Selbstwahrnehmung und am Selbstwert. Man sollte sie als hochempfindsame, sehr gefühlsbetonte Persönlichkeiten wertschätzen und ihnen helfen, ihre selbstabwertenden Glaubenssätze zu erkennen und ihre Wahrnehmung auszubalancieren. Wichtig ist, sie dabei zu unterstützen, sich der eigenen Grenzen bewusst zu werden und zu verinnerlichen, nicht allem und jedem gerecht werden müssen. Stattdessen dürfen sie lernen, zu ihren Belastungsgrenzen zu stehen. Lernen Hochsensible, sich abzugrenzen, auch mal unbequem zu sein und Nein zu sagen, fühlen sie sich nicht mehr länger einer Welt ausgeliefert, in der die Menschen anders funktionieren als sie und die gegen sie eingestellt ist. Sie können dann proaktiv ihre Welt gestalten.

Für Hochsensible ist es wichtig zu lernen, der eigenen Wahrnehmung und Intuition zu vertrauen und sie für sich nutzbar zu machen. Es ist für sie daher zunächst wichtig, mit sich selbst in Kontakt zu kommen und die speziellen Begabungen zu erkennen. Das hilft Hochsensiblen, mit ihren vielen positiven Eigenschaften besser umzugehen und ihr riesiges, meist ungenutztes Potenzial auszuschöpfen.


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Relating-Games helfen, der Wahrnehmung zu vertrauen

Sogenannte Relating-Games können Hochsensiblen helfen, ihr Wahrnehmungsspektrum zu erforschen und mit sich selbst und anderen Menschen entspannt und tiefgreifend in Kontakt zu kommen. Vor allem die Beziehungen zwischen zwei und mehr Personen oder innerhalb einer Gruppe können sie hier spielerisch erforschen. Sie üben dabei, sich ehrlich und authentisch zu zeigen und offen auszudrücken. Die Mitspieler müssen sich nicht bemühen, ihre Gefühle zu verbergen. Sie dürfen zeigen, wie sie sich tatsächlich fühlen. Ein Beispiel: Person 1 beschreibt etwas, das sie selbst wahrnimmt. Das kann ein Licht sein, oder die Tatsache, dass ihre Nase verstopft ist. Person 2 greift dies auf und erwidert zum Beispiel: „Ich höre das und ich bemerke, dass ich mich gerade sehr freue, dieses Spiel zu spielen. Ich bin mit dir und ich bemerke, dass da ein feinfühliger Mensch ist …“ In kurzer Zeit entsteht eine große Tiefe und innere Verbundenheit. Hochsensible Menschen lernen so, ihren eigenen Wahrnehmungen zu vertrauen. Zudem hilft es ihnen, Antworten auf Fragen wie „Wer bin ich?“ oder „Wie bin ich?“ zu finden.


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Die Extreme ausbalancieren

Hochsensible Menschen wandeln ständig zwischen den Polen: Sie sind komplett offen und riskieren es, sich verletzen zu lassen. Oder sie machen komplett dicht und lassen nichts mehr an sich heran. Es ist schwer für sie, eine gesunde Balance zwischen diesen beiden Extremen zu finden. Auf der einen Seite steht die übermäßige Empfindsamkeit, die sie häufig unfreiwillig überfällt. Auf der anderen Seite der Versuch sich dagegen abzuschotten. Doch gerade diese Balance benötigen sie dringend, um im Leben zurechtzukommen. Das gute Gespür, das Hochsensible für ihre Mitmenschen und ihre Umwelt haben, muss so dosiert werden, dass sie es in einem ausgewogenen Maß für sich nutzen können.


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Reizüberflutung dosieren

Haben Hochsensible nicht gelernt, mit der auf sie einströmenden Reizflut umzugehen, sind sie schnell überfordert. Sie müssen lernen, die Grenzen ihrer eigenen Belastbarkeit richtig einzuschätzen und Reizen, die sie überfordern, konsequent aus dem Weg zu gehen. Wenn es also Alexander partout nicht in einem Großraumbüro mit dem hohen Geräuschpegel aushält, wäre für ihn ein eigenes Büro oder auch ein Arbeitsplatz zuhause das Richtige. Fühlt er sich in einer überfüllten U-Bahn überfordert, entlastet es ihn möglicherweise, wenn er für den kurzen Weg zum Büro das Fahrrad nimmt oder für längere Strecken auf das eigene Auto umsteigt. Wesentlich ist, dass Hochsensible sich selbst erlauben, ihre Lebensumstände so zu gestalten, dass ihrer erhöhten Empfindsamkeit Rechnung getragen ist.

Kurz gefasst
  1. Hochsensibilität bleibt oft unerkannt. Hochsensible Menschen lernen daher nur selten, sich abzugrenzen, für sich selbst zu sorgen und ihre besonderen Fähigkeiten für sich zu nutzen.

  2. Überlastungssyndrome, Depressionen, Angststörungen und soziale Phobien können in der Folge entstehen. Wird die Hochsensibilität im Rahmen einer Psychotherapie weiterhin nicht erkannt, bleiben Langzeiterfolge in der Behandlung aus.

  3. Die Arbeit an der Selbstwahrnehmung und am Selbstwert, Wertschätzung, sich abgrenzen lernen und von verinnerlichten negativen Glaubenssätzen zu befreien sind neben dem Nein sagen lernen Kernpunkte in der Begleitung Hochsensibler.


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Hochsensibilität ist keine Krankheit

Hochsensibilität ist ein natürliches Persönlichkeitsmerkmal. Man kann hochsensible Menschen nicht desensibilisieren. Sie müssen vielmehr lernen, zu ihrer starken Empfindsamkeit zu stehen, ihre Bedürfnisse und Belastbarkeitsgrenzen zu akzeptieren, ihre Stärken und Potenziale zu definieren und diese offensiv nach außen zu vertreten.

Hochsensible benötigen Hilfe, um auf die Welt zuzugehen und ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, anstatt sich vor ihr zu schützen. Sie sollten darin bestärkt werden, sich als hochsensibel zu outen und zu definieren. Denn das ist es, was vielen von ihnen große Schwierigkeiten bereitet. Hochsensible benötigen Unterstützung, ihren Lebensstil und ihre Berufswahl ihren Bedürfnissen entsprechend zu gestalten – anstatt sich den Anforderungen der Umwelt anzupassen.

Hedda Rühle, Sandra Maxeiner

Dieser Artikel erschien erstmalig in der Deutschen Heilpraktiker Zeitschrift 2015; 7: 66–69


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