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DOI: 10.1055/s-0042-118151
Fall für Vier – Reha für den Nacken
Subject Editor:
Publication History
Publication Date:
07 January 2017 (online)
Wegen eines zervikalen Bandscheibenvorfalls droht Tarik Karani das berufliche Aus. Seine Beschwerden sind seit fast einem Jahr therapieresistent. Fortschritte macht der Garten- und Landschaftsbauer erst im Bonner Zentrum für Ambulante Rehabilitation. Stellvertretend für das multidisziplinäre Team beschreiben ein Orthopäde, eine Arbeitsmedizinerin, ein Physio- und ein Ergotherapeut ihr Vorgehen.
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Tarik Karani[*] klagt seit rund einem Jahr über rezidivierende, im Tagesverlauf zunehmende Schmerzen im zervikothorakalen Übergang. Links sind die Beschwerden stärker als rechts. Seit drei Monaten kommen Ausstrahlungen in den linken Arm hinzu mit Kribbelparästhesien bis in die linken Finger. Der Schmerz verstärkt sich massiv, wenn er über Kopf arbeitet, lange am Schreibtisch sitzt, hustet, niest oder presst. Auch nachts nehmen die Schmerzen häufig zu und er bekommt Taubheitsgefühle im linken Arm. In den letzten drei Wochen bemerkt Herr Karani eine zunehmende Schwäche im gesamten Arm.
Ansonsten ist der 52-Jährige gesund. Zwar ist er leicht untersetzt, hat aber eine athletische Konstitution. Tarik Karani arbeitet in einem großen Unternehmen als Kolonnenführer im Garten- und Landschaftsbau, wobei er sowohl administrative Aufgaben am Schreibtisch erledigt als auch körperlich schwere und einseitige Tätigkeiten wie Heben, Bücken, Tragen. Zudem fährt er viel Auto. Im Rahmen seiner ersten Besuche beim Hausarzt hat Herr Karani lediglich Massagen verordnet bekommen. Physiotherapie oder Manuelle Therapie hat ihm der Arzt nicht verschrieben.
Er bekam von seinem Hausarzt mehrfach Quaddeltherapien mit einem Lokalanästhetikum im paravertebralen Bereich. Entzündungshemmende Medikamente (NSAR) musste er wegen gastrointestinaler Beschwerden nach wenigen Tagen absetzen. Trotz dieser Maßnahmen nehmen die Beschwerden weiter zu. Daher sucht Tarik Karani die orthopädische Praxis von Dr. Michael Buhr und Kollegen auf. Zu dem Zeitpunkt ist er bereits seit drei Wochen arbeitsunfähig.


Orthopädie
Mir fällt bei Tarik Karani Folgendes auf: Beckengeradstand, mäßig verstärkte BWS-Kyphose mit kompensatorisch verstärkter Lordose der unteren HWS und paravertebralem Hartspann im gesamten HWS- und Schultergürtelbereich, der bis in die mittlere BWS reicht. Die Schultern stehen eleviert und protrahiert, der Kopf ist ebenfalls protrahiert und teilfixiert durch den Hartspann und die Verkürzungen vor allem im Bereich der Mm. pectorales und des M. trapezius.
Untersuchung
Bei der körperlichen Untersuchung erzeuge ich bei der Palpation beidseits einen Schmerz dorsal und ventral über den Facettengelenken HWK 5–BWK 3 ([ABB. 1]). Der Spurling-Test (der Untersucher legt dem sitzenden Patienten von hinten eine Hand auf den lateralflektierten Kopf und klopft auf diese mit seiner anderen Hand) ist links bei 40° Lateralflexion positiv (+++) und provoziert eine Schmerzausstrahlung bis in den linken Mittelfinger. Der Bizepssehnenreflex ist beidseits ++, der Radiusperiostreflex rechts ++ und links +, der Trizepssehnenreflex rechts ++ und links + auslösbar. Der Muskelfunktionstest am Trizeps ist links mit 3/5 auffällig. Zudem zeigt der Patient links eine distal betonte Hyposensibilität, die dem Dermatom C 7 entspricht. Er gibt die Schmerzstärke im zervikothorakalen Übergang und im Arm auf der VAS mit 5–7/10 an. Hinweise auf eine zervikale Myelopathie wie Gangunsicherheit bestehen nicht.




Im Röntgen zeigt sich bei HWK 5/6 und HWK 6/7 eine fortgeschrittene Osteochondrose sowie eine knöcherne Einengung der Foramina intervertebralia mit Uncovertebralarthrosen. Zudem ist eine erhöhte Strahlentransparenz auffällig. Im MRT stellt sich der kraniozervikale Übergang unauffällig dar. Ich erkenne jedoch eine Osteochondrose bei HWK 4–7. Der Hauptbefund ist der mediolinkslaterale, vorwiegend rezessuale und intraforaminale, osteokartilaginäre abgestützte Prolaps HWK 6/7 mit signifikant raumfordernder Komponente. Eine Myelopathie kann ich ausschließen.
Aufgrund der Ergebnisse stelle ich als Diagnosen ein therapieresistentes zervikales Wurzelreizsyndrom C 7 links fest bei diskoossärer Rezessusenge HWK 6/7 links, eine beginnende zervikale Radikulopathie C 7 mit progredienter Teilparese des M. triceps brachii sowie ein zervikothorakales Facettensyndrom HWK 5–BWK 3.
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Ausgewählte Therapiemaßnahmen
Durch die zunehmende Radikulopathie mit progredienter Trizepsparese und therapieresistentem Schmerzverlauf ist das Krankheitsbild sehr brisant. Beschwerdebild und Krankheitsverlauf sind eine relative OP-Indikation. Das Hauptziel ist es, die fortschreitende Radikulopathie infolge der Nervenwurzelkompression C 7 therapeutisch abzufangen und operative Maßnahmen möglichst zu vermeiden. Daher verordne ich eine dreimalige periradikuläre Therapie. Dabei bekommt der Patient unter CT-Kontrolle ein Kontrastmittel (Isovist), ein Lokalanästhetikum (Lidocain) und ein kristallines Kortikoid (Lipotalon) direkt an die komprimierte Nervenwurzel injiziert. Vier Tage nach der dritten Sitzung hat sich der Armschmerz nahezu völlig zurückgebildet (VAS 1–2/10) und auch die Parästhesien im linken Arm sind rückläufig. Da Herr Karani aber weiter über starke Schmerzen im unteren HWS- und oberen BWS-Bereich (Schmerzstärke VAS 4–6/10) klagt, attestiere ich ihm fortbestehende Arbeitsunfähigkeit.
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Erwartungen
Der Patient ist nun seit sechs Wochen arbeitsunfähig. Daher leite ich in Absprache mit der beratenden Betriebsärztin eine medizinische ambulante Rehabilitation ein, um eine frühzeitige Berentung von Herrn Karani zu vermeiden.
Michael Buhr
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Physiotherapie
Tarik Karani bekommt einen ambulanten Rehaaufenthalt von 17 Werktagen à sechs Stunden genehmigt. Jeden Tag findet eine 30-minütige physiotherapeutische Einzelbehandlung statt. Vor dem Hintergrund des biopsychosozialen Ansatzes erhält er zudem einen Therapiemix aus bewegungstherapeutischen Ansätzen, Workshops (zu Psychologie, Ernährungs- und Sozialberatung) sowie edukativen Maßnahmen mit verhaltenspräventiven Ansätzen. In der Physiotherapie konzentrieren wir uns auf die Haltungsinsuffizienz im Sinne der sternosymphysalen Belastungshaltung und die entsprechenden muskulären Dysbalancen. Außer einem Sichtbefund, um die Statik des Patienten zu beurteilen, stütze ich mich auf die Vorbefunde von Dr. Buhr. Mit dem Patienten formuliere ich folgende Therapieziele:
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Aufrichtung des Oberkörpers, um die thorakale Hyperkyphose zu kompensieren
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Öffnung des Thorax durch Dehnungen der Pektoralismuskulatur
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Kräftigung der Schultergürtelretraktoren
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Verbesserung der Extension in der BWS
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Mobilisation des zervikothorakalen und thorakolumbalen Übergangs sowie der Rippen-Wirbel-Gelenke
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Dekontraktion faszialer Strukturen, insbesondere der Fascia thorakolumbalis und des Diaphragma abdominale
Ausgewählte Therapiemaßnahmen
Bei den faszialen Techniken bediene ich mich überwiegend aus dem Fasziendistorsionsmodell (FDM). Der Patient weist Auffälligkeiten im Bereich des anterioren und posterioren Triggerbandes am linken Arm auf. Nachdem ich diese Triggerbänder ausgestrichen habe, gibt Herr Karani eine spontane Schmerzerleichterung an. Ich finde hernierte Triggerpunkte am M. subscapularis und an den Mm. scaleni, die ich erfolgreich behandle. Im FDM-Denkmodell ist das Ziel der Behandlung eines hernierten Triggerpunktes, das vorgewölbte Muskelgewebe vollständig zu reponieren und die Stellen, an denen Weichteilgewebe herniert ist (Bruchpforten), zu schließen. Indem ich die fasziale Spannung reduziere, entlaste ich neurovaskuläre Strukturen und verbessere die Trophik. So erlangt Herr Karani mehr Mobilität und die Schmerzen nehmen ab. Zudem setze ich segmentale Traktionen an den betroffenen Facettengelenken ein, um ihn zu entlasten. Hierfür lege ich Herrn Karani meist in Rückenlage, da ihm die leichte Ventralflektion angenehm ist.
Gegen Ende der Behandlungszeit biete ich Herrn Karani eine Entspannung an, die gleichzeitig die BWS in Extension hält. Hierfür kommt der Yellow-Head Back zum Einsatz, ein Lagerungskissen aus speziellem Schaumstoff ([ABB. 2]). Es wirkt als Unterstützung unter der BWS und bewegt die gesamte Wirbelsäule in Extension. Zudem ermöglicht es eine segmentale Mobilisation und eine Retraktion des Schultergürtels. Während der ersten Anwendungen ist dem Patienten die Lagerung unangenehm. Doch es stellt sich zunehmend ein tendenzielles Wohlgefühl ein. Anfänglich liegt Herr Karani etwa eine Minute auf dem Kissen. Nach und nach steigert er es auf bis zu fünf Minuten, und wir können den Yellow-Head Back auch bei Atem- und Dehnübungen für die Thorax- und Abdominalmuskulatur nutzen.




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Erwartungen
Nachdem Tarik Karani seit Jahren eine Fehlhaltung hatte, ist die physiotherapeutische Korrektur für ihn zunächst eher unangenehm. Die Schmerzen kehren teils zurück, was für ihn beängstigend ist. Doch nach ein paar Tagen bemerkt er, dass er von der Haltungskorrektur profitiert, sich seine Beweglichkeit im Schultergürtel- und Oberkörperbereich bessert und sich seine Einatmung intensiviert. Somit stellt sich ein positives Gesamtgefühl ein.
Andreas Stommel
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Ergotherapie
Ich führe mit Herrn Karani zunächst ein ausführliches Gespräch über seinen Arbeitsplatz und frage ihn, welche Situationen seinen Bewegungsapparat typischerweise belasten. Der Patient hat vor allem beim Heben von schweren, unhandlichen Lasten wie Torfsäcken vermehrt Schmerzen. Außerdem klagt er beim Harken und Arbeiten mit der Schaufel schon nach rund zwei bis drei Minuten über zunehmende Schmerzen, die teils unerträglich werden. Lediglich leichte Tätigkeiten in aufgerichteter Körperhaltung kann er ausdauernd schmerzfrei bewerkstelligen. Ich schließe daraus, dass sämtliche Belastungen unter größerer Muskelanstrengung, die mit einer Vorneige oder Rotation einhergehen, bei Herrn Karani Schmerzen auslösen. Mit diesem Wissen überlege ich, wie wir die Ergotherapie im Sinne von verhaltens- und verhältnispräventiven Maßnahmen gestalten können.
Ausgewählte Therapiemaßnahmen
Vor der Ergotherapie ist Herr Karani meist bei der Physiotherapie, sodass er mit verringerten Schmerzen, verbesserter Beweglichkeit und gesteigertem Wohlbefinden in das ADL-Training starten kann. Ich möchte ihm ein individuelles Arbeitsplatztraining zeigen und somit rückenschonende Aspekte im Sinne einer Verhaltensschulung vermitteln. Das Work Hardening kann beispielsweise die motorische Leistungsfähigkeit bezogen auf den individuellen Arbeitsalltag verbessern. Hier trainiere ich wiederkehrende Arbeitsabläufe mit Tarik Karani, indem wir spezifische Arbeitssituationen des Garten- und Landschaftsbaus simulieren, die er zuvor im Anamnesegespräch eindrucksvoll beschrieben hat. Eine wichtige Rolle bei seiner Tätigkeit spielt das Heben und Tragen schwerer Lasten, das Ausführen von Tätigkeiten in gebückter Haltung sowie vielzählige feinmotorische Tätigkeiten in immer gleicher Körperhaltung ([ABB. 3]). Im Arbeitsplatztraining üben wir die benötigten Bewegungs- und Arbeitsabläufe so lange und so intensiv, bis ich bei Herrn Karani Automatismen erkenne. Für zu Hause gebe ich ihm diese Hebe- und Bückübungen mit. Ich empfehle ihm, sich daheim in einem Übungsraum oder in der Garage kleine Gerätschaften wie Pappkartons, Plastik- oder Wäschekörbe zurechtzulegen und diese ein- bis zweimal pro Tag über jeweils drei Minuten von A nach B zu transportieren. Dabei ist es wichtig, dass er die Gegenstände auf unterschiedlichen Höhenniveaus an- und abhebt. Ich erkläre Herrn Karani, dass motorisches Lernen lediglich über Repetition möglich ist. Darüber hinaus empfehle ich ihm, in seinem heimischen Garten ein kleines Beet als Übungsterrain zu reservieren. Dort kann er täglich mit einer Harke oder Schaufel Material bewegen – ohne Zeitdruck, sodass er das im Rahmen der Ergotherapie erlernte Bewegungsmuster in aller Ruhe einstudieren kann.




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Erwartungen
Durch die Ergotherapie ist dem Patienten bewusst geworden, welche Belastungen und Bewegungsmanöver über Jahre seine Beschwerden ausgelöst haben. Er weiß nun, was schädlich für seinen Bewegungsapparat ist und wie er künftig sein Bewegungsverhalten ändern und anpassen muss. Eine dreiwöchige Reha reicht aber nicht aus, um die Folgen degenerativer Prozesse und jahrelang gewohnte Bewegungsabläufe grundlegend zu ändern. Daher ist das Heimübungsprogramm, das ich für Tarik Karani zusammengestellt habe, für die Nachhaltigkeit sehr wichtig. Ich verbleibe mit ihm, dass er sich beim Arbeiten im heimischen Übungsbeet einmal pro Woche von seiner Frau filmen lässt und mir eine Videosequenz zur Kontrolle schickt. Die Übungsauswahl und die Dosierung des Heimübungsprogramms bespreche ich auch mit der Fachärztin für Arbeitsmedizin, die Herrn Karani kennt und dessen Unternehmen seit Jahren berät.
Stephan Gatzke
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Arbeitsmedizin
Einen Tag nach Tarik Karanis Entlassung aus der ambulanten Rehabilitation liegt mir der Entlassungsbericht vor, und ich setze mich mit Herrn Dr. Buhr, Herrn Stommel und Herrn Gatzke telefonisch in Verbindung. Von Vorteil ist, dass das Therapeutenteam des ambulanten Rehazentrums das Landschafts- und Gartenbauunternehmen von Herrn Karani seit Jahren in Sachen „Ergonomie-Workshops am Arbeitsplatz“ berät. Daher kennen wir uns bereits alle sehr gut.




Ausgewählte Therapiemaßnahmen
Die wichtigste Empfehlung im Entlassungsbericht lautet, die beim Arbeitsplatztraining erlernten Bewegungsprozesse interdisziplinär mit Tarik Karani, seinem Meister und mir als Arbeitsmedizinerin zu erörtern. So versuchen wir, das Bewegungsverhalten des Patienten nachhaltig und generell zu verändern. Ich erwarte, dass er durch die Umstellung seines Bewegungsverhaltens vorübergehend in der Arbeitsdurchführung langsamer sein wird, worüber der Arbeitgeber informiert werden muss. Hierfür organisiere ich ein Gespräch mit allen Beteiligten, in welchem wir folgende Änderungen festlegen:
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Tarik Karani darf alle zwei Stunden für fünf Minuten Entlastungs- und Entspannungsübungen machen.
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Nach Bedarf soll er jeweils ein- bis zweiminütige Lagerungspausen auf dem Yellow-Head Back durchführen, um die erweiterte Thoraxöffnung und die verbesserte segmentale Mobilisierung der BWS langfristig zu erhalten.
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Erwartungen
Die Unternehmensleitung kooperiert sehr gut mit den Ergo- und Physiotherapeuten aus der ambulanten Reha und mir, was auf die langjährige Zusammenarbeit zurückzuführen ist. Die Geschäftsführung hat erkannt, dass die Mitarbeiter von einem professionell durchgeführten betrieblichen Gesundheitsmanagement profitieren und es ihrer Gesunderhaltung dient. Besonders erfreulich aus arbeitsmedizinischer Sicht ist, dass die Geschäftsleitung sich entschließt, die Empfehlungen und Änderungen des Arbeitsalltags, die Tarik Karani erhalten hat, flächendeckend für die gesamte Belegschaft auszusprechen.
Ich erwarte, dass wir durch das integrative interdisziplinäre Therapiekonzept den Patienten so erfolgreich therapiert haben, dass eine Operation auch langfristig abgewendet ist. Tarik Karani ist wieder leistungsfähig in seinen Beruf zurückgekehrt und hat ein physio- und ergotherapeutisches Eigenprogramm an die Hand bekommen, das ihn langfristig in seinem Berufsalltag unterstützt.
Annegret Schrinner
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*Name von der Redaktion geändert

















