ergopraxis 2017; 10(01): 42-44
DOI: 10.1055/s-0042-118146
Perspektiven
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Ergotherapieprojekt mit jungen Flüchtlingen – Walzer auf Syrisch

Magdalena Samwald
,
Andrea Draxler
,
Georg Gappmayer

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Publication Date:
07 January 2017 (online)

 

Zwei Ergotherapiestudentinnen erschlossen sich im Wahlpraktikum ein neues Arbeitsfeld: Ergotherapie mit Flüchtlingen. Sie empowerten Jugendliche aus Syrien, Somalia und Afghanistan dafür, ihren Alltag selbstständig zu bewältigen und mit bedeutungsvollen Aktivitäten zu füllen. Beim Tanzen, im Museum und im Schwimmbad wurde den Studentinnen klar: Ergotherapeuten sind prädestiniert für dieses Arbeitsfeld!


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Magdalena Samwald

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Magdalena Samwald ist Kindergarten- und Hortpädagogin und absolviert derzeit das letzte Jahr des Bachelorstudiums Ergotherapie an der FH Wiener Neustadt. Kontakt: m.samwald@hotmail.de

Andrea Draxler

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Andrea Draxler entdeckte 2013 nach ihrem Studium „Vermessungswesen“ an der Technischen Universität Wien ihre Leidenschaft für die Ergotherapie und ist nun ebenfalls Ergotherapiestudentin an der FH Wiener Neustadt. Kontakt: andrea.draxler@gmx.at

Georg Gappmayer

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Georg Gappmayer, Ergotherapeut und Sozialanthropologe, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Studiengang Ergotherapie an der FH Wiener Neustadt, Österreich. Er betreute Magdalena Samwald und Andrea Draxler in ihrem Wahlpraktikum. Kontakt: georg.gappmayer@fhwn.ac.at

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Die beiden Ergotherapiestudentinnen Andrea Draxler und Magdalena Samwald hatten in Wien sichtlich Spaß bei der Projektarbeit mit Flüchtlingen.Abb.: A. Draxler

Eines Sonntagabends waren wir mit fünf jungen muslimischen Frauen zum Schwimmen verabredet. Sie waren zwischen 16 und 20 Jahre alt und aus ihren Heimatländern Syrien, Somalia und Afghanistan geflohen. Inzwischen lebten sie in Österreich – manche seit einem halben Jahr, andere seit über fünf Jahren. Sie waren privat oder in Flüchtlingsunterkünften in Wien untergebracht. Wir wählten einen Sonntagabend für unseren gemeinsamen Ausflug, weil das Wiener Schwimmbad nur an einem Sonntag im Monat die Möglichkeit zum Frauenschwimmen bietet. Während dieser Zeit ist kein Mann anwesend, auch die Bademeister sind dann ausschließlich weiblich.

Beim Umziehen stellten wir erstaunt fest, dass es für die Mädchen nicht selbstverständlich war, mit Badekleidung ins Wasser zu gehen. Zwei von ihnen dachten, dass T-Shirt sowie Jogginghose ein passendes Badeoutfit wären. Kreischend und tobend ging es dann ab ins überfüllte Becken. Da die meisten der jungen Frauen zum ersten Mal ein Schwimmbad besuchten, klammerten sie sich zunächst sehr an uns. Mit der Zeit nahm aber ihre Angst ab, und sie wollten auch nach einer Stunde noch nicht aus dem Wasser. Sie konnten die gemeinsame Aktivität genießen und trauten sich im weiteren Verlauf des Abends, das Schwimmbecken alleine zu erkunden. Der Ausflug war ein voller Erfolg, und die Mädchen schwärmten noch die ganze restliche Woche davon.

„Projekt Schule für Alle“

Zur Arbeit mit Flüchtlingen kamen wir in unserem Wahlpraktikum, das wir im Rahmen des Bachelorstudiums Ergotherapie an der Fachhochschule Wiener Neustadt im Januar 2016 absolvierten. Durch einen Fernsehbeitrag stießen wir auf das „Projekt Schule für Alle“ (PROSA) in Wien und nahmen Kontakt mit der dortigen Schulleiterin auf. Weil die Ergotherapie in der Arbeit mit Flüchtlingen noch nicht etabliert ist und in dieser Einrichtung noch keine Ergotherapeutin tätig war, lief das Praktikum als „Role Emerging Placement“, einer bewussten Erweiterung des Aufgabenspektrums von Ergotherapeuten.

PROSA bietet Asylbewerbern die Möglichkeit, ihren Pflichtschulabschluss nachzumachen. Nachdem die Flüchtlinge den Aufnahmetest geschafft haben, können sie die PROSA-Schule besuchen und diese innerhalb von drei Jahren abschließen. Der Schulabschluss ermöglicht ihnen den Besuch einer weiterführenden Schule mit Hochschulreife oder den Beginn einer Lehre. Die Flüchtlinge, welche diese Schule besuchen, müssen mindestens 16 Jahre alt sein. Das Projekt finanziert sich durch Spendengelder und lebt durch die Unterstützung vieler ehrenamtlicher Mitarbeiter. Für den Schulunterricht und für Beratungen nutzt PROSA die Räumlichkeiten eines Wiener Gymnasiums. Weil am Vormittag dort der reguläre Unterricht stattfindet, startet die PROSA-Schule erst am frühen Nachmittag und endet um 19 Uhr.


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Jugendliche empowern

Ausgangspunkt unserer ergotherapeutischen Interventionen war die PROSA-Pause, welche am Nachmittag zwischen den Unterrichtseinheiten stattfindet. Als Pausen- und Aufenthaltsraum dient ein ehemaliger kleiner Klassenraum. Vor unserer Intervention war die Pause sehr unstrukturiert und chaotisch, und der Raum lud trotz des großen Tisches nicht zum Verweilen ein. Daraus entstand die Idee, einen Raum der Begegnung zu schaffen, gemeinsame Aktivitäten zu planen sowie einen informellen Rahmen für das Kennenlernen und den Informationsaustausch zu finden. Deshalb begannen wir damit, Tee zu kochen, Teller und Gebäck auf den Tisch zu stellen und die Jugendlichen zum Sitzen, Essen und Genießen einzuladen. Im weiteren Verlauf stellten wir jedoch fest, dass wir aus der Pause mehr machen und die Jugendlichen dafür empowern können, ihre Pause selbst zu gestalten. Empowerment bedeutet hier für uns, Menschen zu befähigen, selbst aktiv zu werden und Aktivitäten selbstbestimmt und ohne externer Unterstützung nachzugehen. Um das zu erreichen, forderten wir die Jugendlichen in der Pause auf, sich einzubringen, mitzuhelfen und selbst den Tisch und den Raum herzurichten. So wurde aus der Pause eine semistrukturierte Intervention, die einen angenehmen Ort der Begegnung mit entspannter Atmosphäre schuf.


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Der erste Schritt zur Freizeitgestaltung

Um weitere Interventionen planen zu können, wollten wir wissen, welchen Betätigungen die Jugendlichen neben der Schule nachgehen. Dafür boten die neu gestalteten Pausen Raum und eine zwanglose Atmosphäre. Der Austausch fand auf Deutsch, Englisch sowie mit Händen und Füßen statt. Zusätzlich übernahmen andere Flüchtlinge, welche schon besser Deutsch sprachen, die Rolle eines Dolmetschers und übersetzten in ihre Muttersprache. Entgegen unseren Erwartungen stellten wir fest, dass es nicht unbedingt die Aktivitäten von früher waren, also aus der Zeit vor der Flucht, die sie gerne wiederaufnehmen wollten. Im Gegenteil, die Jugendlichen waren sehr daran interessiert, die österreichische Kultur und Aktivitäten wie traditionelle Tänze kennenzulernen, die auch von den Jugendlichen in Österreich ausgeführt werden.

Wir haben die Jugendlichen dazu befähigt, selbst aktiv zu werden.

Die genannten Betätigungen wie Sport-machen oder Tanzen legten wir als klientenzentrierte Gruppenziele fest und boten dazu passende Gruppen wie eine Männersportgruppe oder eine Frauentanzgruppe an. Dabei stützten wir unser Vorgehen auf Anne Fisher, die im Occupational Therapy Intervention Process Model (OTIPM) neben Individuen auch Klientengruppen definierte, welche ähnliche Schwierigkeiten in der Betätigungsperformanz haben [1]. Daraufhin erarbeiteten wir gemeinsam mit den Jugendlichen einen Zeitplan für die vierwöchige Dauer unseres Praktikums. Darin hielten wir grob fest, in welcher Woche welche Aktivität stattfinden sollte. Die Betätigungen vereinbarten wir mit den Jugendlichen jeweils eine Woche im Voraus und vermerkten sie anschließend im Wochenplan, der im Pausenraum hing. Einen Tag vor der Betätigung forderten wir eine konkrete Zu- oder Absage. Durch die Anmeldung wurde die Teilnahme verbindlicher. Hilfreich war dabei, den Jugendlichen einen Info-Zettel mit den Eckdaten mitzugeben: Treffpunkt, Uhrzeit, Dauer. So konnten sie sich die Termine leichter merken und den Überblick über ihren Tag behalten.

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Die Studentinnen unternahmen mit den Flüchtlingen einen Ausflug ins Technische Museum. Das war für die Jugendlichen durch den Kultur- pass ohne Kosten möglich.Abb.: A. Draxler
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Die Therapeutinnen planten und veranstalteten auch eine Kochgruppe. Mit dabei: Zaker aus Afghanistan. Er möchte in Österreich ein Restaurant eröffnen – sofern er nicht abgeschoben wird.Abb.: A. Draxler

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Was es zu beachten galt

Da die Flüchtlinge mit einem geringen Budget auskommen müssen, ist es wichtig, dass die Aktivitäten gratis oder sehr günstig sind. Die eingangs beschriebene Schwimmgruppe fand daher in einem Wiener Schwimmbad statt, in dem die Mädchen im Rahmen eines geförderten Projekts nur einen kleinen Beitrag zahlen mussten. Besonders achteten wir bei der Planung der Aktivitäten auch darauf, dass die Betätigungen in den Tagesablauf der Jugendlichen integrierbar waren. Aus diesem Grund versuchten wir, die Aktivitäten zum Beispiel am Vormittag anzubieten, da am Nachmittag die PROSA-Schule stattfindet. Dabei mussten wir mitunter flexibel sein und unsere Arbeitszeiten nach den Zeiten der Aktivitäten richten.

Von der Fachhochschule waren 30 Wochenstunden vorgegeben, wir investierten allerdings deutlich mehr in das Projekt. Bereits drei Monate im Voraus entwickelten wir gemeinsam mit unserem Praktikumsbetreuer Ideen zur Umsetzung des Praktikums. Diese Vorabplanung erwies sich als sehr hilfreich, weil wir noch nicht so routiniert im Planen von ergotherapeutischen Interventionen waren. Während des Praktikums waren wir dann meist 35 Stunden vor Ort bzw. hatten mit der Organisation zu tun.

Man muss sich von Vorurteilen lÖsen und sich auf Neues einlassen.


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Das Tanzbein schwingen

Durch die Arbeit mit den Jugendlichen lernten wir unsere eigenen stereotypen Vorstellungen kennen. Zu Praktikumsbeginn boten wir zum Beispiel eine Frauentanzgruppe sowie eine Männersportgruppe an – in der Annahme, dass die Frauen nicht am Sport teilnehmen würden, wenn die Männer dabei waren. Nach wenigen Tagen wollten einige der Frauen jedoch auch zum Sport mitkommen, und die Männer waren interessiert daran, „Ball tanzen“ zu lernen (= Walzer tanzen). Dies veranlasste uns, unsere Vorstellungen, genderspezifische Gruppen anbieten zu müssen, zu hinterfragen und zu modifizieren. Also boten wir eine Walzertanzgruppe an, an der Männer und Frauen gemeinsam teilnehmen konnten. Dabei war die Herausforderung, den Jugendlichen eine Aktivität näherzubringen, die üblicherweise eindeutig definierte genderspezifische Rollen vorgibt und einen direkten Kontakt von Männern sowie Frauen erforderte. Wir waren sehr gespannt, wie die Frauen reagieren würden, wenn sie den Männern beim Tanzen die Hand geben mussten und umgekehrt. Entgegen unseren Erwartungen war die Gruppe allerdings ein voller Erfolg, und die Anwesenheit von Männern hinderte die Frauen nicht daran, mit Freude und Spaß in die Gruppe zu kommen. Da die Männer zu Beginn Hemmungen hatten, ihre Klassenkolleginnen zum Tanz aufzufordern, tanzten die Frauen miteinander und wir beide jeweils mit den Männern. Behutsam, aber bestimmt forderten wir die Männer nach einer Übungsphase auf, auch mit den anderen Frauen zu tanzen. Auch wenn einige Frauen nicht mit den Männern tanzen wollten, war es für andere nach kurzer Eingewöhnungszeit ganz selbstverständlich, ihre Runden auf dem Tanzparkett zu drehen.

Am Ende des Praktikums zeigte uns ein Mädchen aus Syrien Fotos von einem Ball in Wien, den sie mit ihrem Bruder und ihrem Onkel besuchte und auf dem sie den neu gelernten Walzer ausprobiert hatte.


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Sich von Vorurteilen lösen

Wie man am „Walzer tanzen“ und „Schwimmen gehen“ sieht, ist der Genderaspekt für jede Gruppe individuell. Erst in Absprache mit den Jugendlichen konnten wir herausfinden, welche Aktivitäten sich für die gemeinsame Teilnahme von Männern und Frauen eigneten und welche nicht.

Im Sinne der Nachhaltigkeit war unser Ziel, dass die Jugendlichen nicht nur mit uns den gewählten Aktivitäten nachgehen, sondern eigene Aktivitäten finden und durchführen. Dafür erarbeiteten wir Strategien mit ihnen zum Beispiel im Internet nach Aktivitäten und Ansprechpartnern zu recherchieren und diese auch anzurufen. Oft war von uns nur ein Denkanstoß oder ein kleiner Hinweis notwendig.

Zusammenfassend können wir sagen, dass es gerade bei einem „Role Emerging Placement“, also beim Erschließen eines neuen Arbeitsfeldes für Ergotherapeuten, von großer Bedeutung ist, sich von eigenen Vorurteilen zu lösen und sich auf das Neue einzulassen. In unserem Praktikum war es daher sehr wichtig, die Flüchtlinge als Experten ihres Alltags wahrzunehmen. Es ist notwendig, die Jugendlichen zu empowern, dass sie ihren Alltag wieder selbstständig und mit für sie bedeutungsvollen Aktivitäten gestalten können. Gerade die Ergotherapie hat das Potenzial, diese Herausforderung zu meistern und durch den Fokus auf klientenzentrierte Ziele und die Orientierung am Alltag einen wichtigen Beitrag zu leisten.

Magdalena Samwald, Andrea Draxler, Georg Gappmayer


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Die beiden Ergotherapiestudentinnen Andrea Draxler und Magdalena Samwald hatten in Wien sichtlich Spaß bei der Projektarbeit mit Flüchtlingen.Abb.: A. Draxler
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Die Studentinnen unternahmen mit den Flüchtlingen einen Ausflug ins Technische Museum. Das war für die Jugendlichen durch den Kultur- pass ohne Kosten möglich.Abb.: A. Draxler
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Die Therapeutinnen planten und veranstalteten auch eine Kochgruppe. Mit dabei: Zaker aus Afghanistan. Er möchte in Österreich ein Restaurant eröffnen – sofern er nicht abgeschoben wird.Abb.: A. Draxler