Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2016; 51(11/12): 670-675
DOI: 10.1055/s-0042-117975
Fachwissen
Notfallmedizin
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Kasuistik: Frühgeburt im Rettungsdienst - Versorgung eines extremen Frühgeborenen nach häuslicher Sturzgeburt

Preclinical birth of an extremely premature infant - a case report
Tobias Pöhlmann
1   Klinik für Anästhesie und Operative Intensivmedizin, Klinikum Bayreuth
,
Armin Schmidt
2   Bayerisches Rotes Kreuz, Kreisverband Bayreuth
,
Wolfgang Pohl
3   Klinik für Kinder und Jugendliche, Klinikum Bayreuth
› Author Affiliations
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Korrespondenz

Dr. med. Tobias Pöhlmann
Dr. med. Wolfgang Pohl

Publication History

Publication Date:
24 November 2016 (online)

 

Zusammenfassung

Geburtshilfliche Notfälle im Rettungsdienst sind selten. Eine extreme Frühgeburt im präklinischen Kontext stellt eine ausgesprochene Rarität dar. Im folgenden Fallbericht wurden die beteiligten Rettungskräfte unerwartet mit einer häuslichen Sturzgeburt in der 23. SSW konfrontiert. Die außerordentliche Unreife des Neugeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit stellte besondere Anforderungen an Versorgung, Ausstattung, Infrastruktur, Kompetenz und Ethik. Eine ähnliche Fallbeschreibung liegt unserer Kenntnis nach bisher nicht vor.


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Abstract

Obstetrical emergencies requiring emergency medical service are very rare. An extremely premature birth in a preclinical setting is certainly exceptional. In the following case report, the emergency medical team was unexpectedly faced with the home birth of a fetus at the 23rd week of gestation. Prematurity at the edge of viability poses a challenge to first care, equipment, infrastructure, expertise and clinical ethics. To the authors’ knowledge, there is no comparable case report published so far.


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Geburtshilfliche Notfälle im Rettungsdienst sind selten. Eine extreme Frühgeburt im präklinischen Kontext stellt eine ausgesprochene Rarität dar. Im folgenden Fallbericht wurden die beteiligten Rettungskräfte unerwartet mit einer häuslichen Sturzgeburt in der 22. Schwangerschaftswoche konfrontiert. Die außerordentliche Unreife des Neugeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit stellte besondere Anforderungen an Versorgung, Ausstattung, Infrastruktur, Kompetenz und Ethik. Eine ähnliche Fallbeschreibung liegt unserer Kenntnis nach bisher nicht vor.

Fallbericht

Alarmierung

Um 16:25 Uhr werden durch die integrierte Leitstelle Rettungswagen (RTW) und Notarzt mit dem Meldebild „Schwangere 22. Schwangerschaftswoche (SSW) mit links- und rechtsseitigen Bauchschmerzen, bekannte Plazenta prävia” alarmiert. Das Notarzteinsatzfahrzeug (NEF) ist zu diesem Zeitpunkt unabkömmlich im Einsatz, sodass der Verlegungsarzt (VEF) ersatzweise alarmiert wird.

Beim VEF handelt es sich um ein in Bayern etabliertes, arztbesetztes Rettungsmittel für den Interhospitaltransport, das im Bedarfsfall für Notarzteinsätze disponiert werden kann. Während der RTW unverzüglich zum Einsatzort fährt, muss das VEF den Notarzt zunächst mit Sonderzeichen abholen. Während der Fahrt kündigt die Leitstelle über Funk die drohende Geburt an. Bei Eintreffen des RTW um ca. 16:35 Uhr ist das Kind bereits durch die Schwiegermutter entbunden worden, es erfolgt umgehend die Nachalarmierung des Neugeborenen-Notarztes mit Intensivtransport-Inkubator. Der erfahrene Rettungsassistent beginnt mit Erstmaßnahmen zur Versorgung des Neugeborenen. Um 16:43 Uhr – 18 min nach Alarm – trifft der Notarzt am Einsatzort ein. Um 16:52 Uhr erreicht der Neugeborenen-Notarzt mit pädiatrischer Intensivpflegekraft den Einsatzort.


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Situation am Einsatzort

Nach Öffnen der Haustür befindet sich die Mutter am Boden des Flures, zwischen den gespreizten Beinen finden sich Blutkoagel. Ein extrem unreifes Neugeborenes ist an der intakten bereits mit einer Nabelklemme unterbundenen Nabelschnur am Boden gelagert. Ein Rettungassistent kniet daneben und führt eine Beatmung des Neugeborenen mit der kleinsten verfügbaren Maske (Größe 0) durch. Sie umgibt das Gesicht dabei vollständig ([Abb. 1]). Im engen Raum befinden sich außerdem eine weitere junge Rettungsassistentin sowie Partner und Schwiegereltern der Mutter.

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Abb. 1 Die eingesetzten Materialien (Maske 0, Tubus ID 2,0 mm ohne Cuff, Kinder-EKG-Elektroden) im Vergleich zu gängigem Erwachsenenequipment (Maske Gr. 6, Tubus ID 7,5 mm mit Cuff).
Bildnachweis: Tobias Pöhlmann

Die suffiziente Maskenbeatmung wird durch den Rettungsassistent fortgeführt, der Notarzt übernimmt die Thoraxkompression mit einem Finger, während gleichzeitig eine Übergabe durch den Rettungsdienst sowie eine Kurzevaluation der Mutter erfolgt.


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Übergabe und Kurzevaluation der Mutter

Bei Eintreffen des Rettungsdienstes zeigte sich das Neugeborene nach dessen Angaben zyanotisch ohne erkennbare Atmung oder sonstige Lebenszeichen. Ein Herzspitzenstoß sei nicht tastbar und die Nabelschnur pulslos gewesen, sodass retrospektiv wohl ein APGAR von 0 vorlag ([Tab. 1]). Eine oropharyngeale Absaugung wurde bereits durchgeführt. Unter Maskenbeatmung bei Eintreffen des Notarztes besteht noch eine periphere Zyanose. Dabei zeigt das Kind träge Armbewegungen und außerdem insuffiziente Atemversuche mit Einziehungen (retrospektiv: 7 min postnatal APGAR = 3–4).

Tab. 1 Zusammensetzung des APGAR-Scores. APGAR = Atmung, Puls, Grundtonus, Aussehen, Reflexe.

Zusammensetzung des APGAR-Scores

Kriterium

0 Punkte

1 Punkt

2 Punkte

Puls (Herzfrequenz)

kein Herzschlag

< 100/min

> 100/min

Atemanstrengung

keine

unregelmäßig, flach

regelmäßig, Kind schreit

Reflexe

keine

Grimassieren

kräftiges Schreien

Grundtonuns (Muskeltonus)

schlaff

leichte Beugung der Extremitäten

aktive Bewegung der Extremitäten

Aussehen (Hautfarbe)

blau, blass

Stamm rosig, Extremitäten blau

gesamter Körper rosig

Die 27-jährige Mutter ist ansprechbar und orientiert, eine akute Blutung nach außen wurde inspektorisch ausgeschlossen. Die SSW wird mit „22 + 1 oder 2” angegeben, der Verlauf bisher sei unproblematisch gewesen.


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Maßnahmen

Der winzige Körper des Frühgeborenen erschwert die standardmäßige Erhebung der Herzaktion mittels üblichem Stethoskop oder EKG-Klebeelektroden. Die Schätzung der Herzfrequenz wird als unzuverlässig erachtet, sodass die Herzdruckmassage auf Verdacht zur Therapie einer möglichen Bradykardie fortgeführt wird.

Nach Information durch die Leitstelle, dass der Neugeborenen-Notarzt inzwischen unterwegs sei, wird entschieden, in der Wohnung zu bleiben, um einen Inkubatortransport zu ermöglichen ([Abb. 2]).

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Abb. 2 Intensivtransport-Inkubator.
Bildnachweis: Tobias Pöhlmann

Im Anschluss wird das Kind abgenabelt und sofort vom Boden in Handtücher gehüllt auf die Arbeitsplatte der Küche verbracht, wo die Reanimation fortgeführt wird. Zum Wärmeerhalt werden ein Kirschkernkissen sowie im weiteren Verlauf wiederholt Handtücher in der Mikrowelle der Küche erhitzt und um das Kind gelegt. Eines der Handtücher gerät dabei fast in Brand und wird von den Angehörigen rauchend auf den Balkon verbracht.


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Eintreffen des Neugeborenen-Notarztes

Um 16:52 Uhr trifft der erfahrene Neugeborenen-Notarzt ein und übernimmt die Versorgung. Nach Auskultation wird die Herzfrequenz auf ca. 80/min geschätzt und die Herzdruckmassage beendet. Die Maskenbeatmung wird fortgeführt.

Die Mutter wird auf die das Kind betreffende hohe Morbidität und Komplikationsrate hingewiesen und kurz befragt, ob alle intensivmedizinischen Maßnahmen gewünscht werden. Nach kurzem Zögern bejaht die Mutter.

Der kleinste verfügbare Tubus (2,0 mm ID, nicht blockbar) lässt sich nasal nicht platzieren. Der vorhandene Tubus lässt sich außerdem nicht auf die dünnste Magensonde auffädeln, sodass ein atraumatisches geschientes Einführen des Tubus nasal nicht möglich ist. Die orale Intubation verläuft ebenfalls trotz großer Erfahrung aufgrund der schwierigen Bedingungen und kleinen Anatomie frustran. Daher fällt der Entschluss zum raschen Inkubatortransport in die Klinik unter suffizienter assistierter CPAP-Beatmung mittels oral in den Rachen platzierten Tubus (CPAP = Continuous Positive Airway Pressure).


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Behandlung und weiterer Verlauf der Mutter

Während der Versorgung des Neugeborenen kümmert sich das Rettungspersonal um die Mutter im Flur. Eine Blutung wird erneut inspektorisch ausgeschlossen. Die Patientin ist weiterhin klinisch kreislaufstabil mit folgenden Vitalwerten:

  • Herzfrequenz (HF) 89/min

  • Blutdruck (Riva-Rocci, RR) 140/80 mm/Hg

  • periphere O2-Sättigung (SpO2) 97 %

Ein peripher venöser Zugang wird angelegt und 500 ml einer kristalloiden Infusion mit 2,5 g Metamizol (bei persistierenden Bauchschmerzen) werden zugeführt. Dann bringt der Rettungsdienst die Frau ohne Arztbegleitung in die Gynäkologie des gleichen Hauses.

Es zeigt sich, dass die Patientin bereits früher wegen vaginaler Blutungen in stationärer Behandlung war. Hierbei fand sich laut Vorbefunden eine tiefsitzende Plazenta mit 1,6 cm Abstand zum Geburtskanal. Bei anhaltender diskreter vaginaler Blutung und Plazentaretention stellen die Ärzte eine Indikation zur Curretage, die noch am Abend durchgeführt wird. Die Hämoglobin-Konzentration bei Aufnahme beträgt 10,4 mg/dl. Die Patientin kann am Folgetag bereits beschwerdefrei entlassen werden.


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Aufnahme und weitere Behandlung des Neugeborenen

In der Klinik wird das Neugeborene an ein Monitoring angeschlossen und mittels Pulsoxymetrie und EKG überwacht. Unter geordneten Bedingungen gelingt letztlich die schwierige Intubation des Kindes mithilfe einer Magill-Zange und protektiver Schienung des Tubus zur Vermeidung einer akzidentellen Perforation der Rachenwand. Es erfolgt weiterhin die endotracheale Gabe von Surfactant und die Anlage eines Nabelvenenkatheters.

[Tab. 2] zeigt wesentliche Befunde bei Aufnahme. Das Kind wird auf 37 °C wiedererwärmt. Klinisch zeigen sich wenig Spontanmotorik, hin und wieder Bewegungen beider Arme und Hände.

Tab. 2 Wesentliche Aufnahmebefunde des Frühgeborenen auf der Intensivstation.

Wesentliche Aufnahmebefunde des Frühgeborenen auf der Intensivstation

Geburtsgewicht

430 g

Vitalwerte

Herzfrequenz

110

Blutdruck (RR)

34/16

SO2

88 %

Blutgasanalyse

pH

7,097

pCO2

52,2 mmHg

pO2

45,6 mmHg

Base Excess (BE)

-12,6 mmol/l

Bikarbonat

74,9 mmol/l

Temperatur (rektal)

32,7 °C

Blutbild

Hämoglobin

17,5 g/dl

Leukozyten

52,2/nl

Im Laufe des Abends kommt es zu einer plötzlichen Verschlechterung. In der Schädelsonografie zeigt sich eine intrazerebrale Hämorraghie III. Grades links mit Ventrikeldilatation und -tamponade sowie kleiner hämorrhagischer Infarzierung links frontal. Im ausführlichen Gespräch mit den Eltern entscheiden sich diese angesichts der extremen Unreife des Kindes, den zu erwartenden weiteren schweren Komplikationen und bleibenden schweren Einschränkungen gegen eine Fortführung der intensivmedizinischen Maßnahmen und Einleitung einer palliativen Behandlung.

Das Extrem-Frühgeborene verstirbt im Alter von 22 h im Arm des Vaters.


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Diskussion

Extrem seltener Fall

Der beschriebene Einsatz ist eine außergewöhnliche Rarität im Notarzt- und Rettungsdienst und war für alle Beteiligten einzigartig. Im beschriebenen Fall kommt zu dieser Ausnahmesituation noch die extreme Unreife des Neugeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit hinzu, die besondere Anforderungen an Versorgung, Ausstattung, Infrastruktur, Kompetenz und Ethik stellt.

Entscheidungen müssen abseits der Routinen unter Zeitdruck und Stress getroffen werden. Es bleibt deshalb nicht aus, dass Abläufe retrospektiv hinterfragt werden sollten, um in künftigen Situationen besser handeln zu können. Im Folgenden soll auf einige wichtige, den Einsatz betreffende Aspekte eingegangen werden.


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Häufigkeiten

Der Anteil von Frühgeburten unterhalb der 28. vollendeten SSW betrug im Jahr 2014 bezogen auf alle Geburten in Deutschland 0,6 % [1]. Neben einer mit 32 % beträchtlichen peri-natalen Letalität tragen diese weiterhin ein hohes Risiko für schwerwiegende Langzeitschäden.

0,11% der lebendig geborenen Kinder im Jahr 2014 wiesen ein Geburtsgewicht von < 500 g wie im beschriebenen Fall auf [1]. Bezogen auf ein solch geringes Gewicht betrug die perinatale Letalität 2014 sogar 50 %.

Jones et al. verglichen außerklinische Frühgeburten zwischen der 24. und 35. SSW mit entsprechenden innerklinischen Geburten im Raum Paris. Hier fand sich eine mehr als doppelt so hohe Letalität für prähospitale Geburten (18 % vs. 8 %) [2].

In einer Erhebung von Bernhard et al. aus dem Jahr 2009 entfielen von 19 237 analysierten primären Notarzteinsätze innerhalb von 5 Jahren nur 40 auf geburtshilfliche Notfälle (0,2 %), wovon es in nur 18 Fällen zur präklinischen Geburt kam (33.–41. SSW) [3].

Ein Notarzt wird in seiner Laufbahn nur äußerst selten zu einem vergleichbaren Einsatz gerufen. Die Prognose von Kindern, die extrem früh und außerdem außerklinisch geboren werden, ist sehr schlecht.


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Neugeborenenreanimation

ERC-Leitlinienempfehlung

Im beschriebenen Einsatz wurde durch den ersthelfenden Rettungsassistenten eine Reanimation begonnen. Bei Ankunft des Notarztes zeigte das Kind eindeutige Lebenszeichen, sodass entsprechend den ERC-Guidelines zur Neugeborenenreanimation und -versorgung vorgegangen wurde (ERC = European Resuscitation Council) [4]. Hierzu gehört als wesentliche Maßnahme die initiale Belüftung der Lungen und die Durchführung von 5 Beatmungen, die alleine meist zu ausreichender Oxygenierung, Einsetzen der Spontanatmung und Zunahme der Herzfrequenz führt.

Im aktuellen Fall kommt erschwerend die fehlende Lungenreife des Neugeborenen hinzu, die normalerweise mit Bildung von Surfactant ab der 28. SSW erreicht wird.

Im Rahmen der Neugeborenen-Versorgung hat die suffiziente Ventilation den höchsten Stellenwert.


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Algorithmus

Der Algorithmus zur Neugeborenenreanimation sieht zudem vor, nach initialer Beatmung die Herzfrequenz zu überprüfen. Wenn diese < 60/min liegt, soll – nach Sicherung einer adäquaten Ventilation (ggf. nach Freimachen / Absaugen der Atemwege) – mit einer Herzdruckmassage im Verhältnis 3:1 begonnen werden. Bei einer empfohlenen Frequenz von 120 Kompressionen/min lassen sich somit etwa 90 Kompressionen und 30 Atemhübe pro Minute erreichen.


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Herzdruckmassage indiziert?

Im aktuellen Fall konnte der Notarzt die Herzfrequenz (HF) vor Fortführen der Reanimation nicht sicher bestimmen. Stattdessen schätzte der später hinzugkommene Neugeborenen-Notarzt die HF auskultatorisch auf 80/min. Vermutlich wäre die Herzdruckmassage bereits bei Eintreffen des Notarztes nicht mehr zwingend nötig gewesen. Die Leitlinien sehen vor, die HF alle 30 s regelmäßig zu überprüfen und bei fehlender Aktion oder persistierender Bradykardie einen Gefäßzugang und Medikamentengabe zu erwägen.

Primär empfohlener Gefäßzugang bei Neugeborenen ist der Nabelvenenkatheter.


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Adrenalin

Steigt die Herzfrequenz unter suffizienter Beatmung und Herzdruckmassage nicht < 60/min, wird die i. v. Gabe von Adrenalin mit 10 µg/kg KG empfohlen. Eine Flüssigkeitsgabe mit kristalloiden Lösungen kann zur Erhöhung des intravasalen Volumens nach Blutverlust erwogen werden und soll dann mit einer Bolusgabe von 10 ml/kg KG durchgeführt werden. Dies ist jedoch sehr selten notwendig und größere Flüssigkeitsmengen sind zudem wohl mit intraventrikulären und intrapulmonalen Blutungen assoziiert [4].


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Zeitfrage

Im aktuellen Fall ereigneten sich Entscheidung zur Reanimation, Abnabelung, Anamnese und Übergabe, Kontrolle der Ventilation, Kommunikation zwischen Notarzt / Rettungsdienst / Leitstelle, Wärmeerhalt und Verbringen des Kindes in die Küche innerhalb von < 8 min. Dadurch stellte sich die Frage eines Gefäßzugangs bis zum Eintreffen des Pädiaters (noch) nicht.


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Hypothermie

Große Bedeutung bei Neugeborenen

In der Literatur ist unstrittig, dass der Wärmeerhalt für das Outcome von Reif- und in besonderem Maß auch Frühgeborenen eine große Bedeutung hat. Dies findet sich auch in den Leitlinien zur Neugeborenenversorgung wieder. Demzufolge soll eine Temperatur zwischen 36,5 und 37,5 °C angestrebt werden [4].


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Hypothermie und Letalität

Es wurde gezeigt, dass mit jedem Grad reduzierter Körpertemperatur bei Aufnahme in eine pädiatrische Einrichtung die Letalität um 28 % (!) zunimmt [5]. Es gibt diverse Studien, die sich auch explizit mit Hypothermie bei extremen Frühgeborenen (very-low-weight-newborns) befassen. Hier zeigen sich klare Assoziationen von Hypothermie mit Letalität, Late-onset-Sepsis und Respiratory Distress Syndrome [5] [7]. Auch intraventrikuläre Hämorrhagien scheinen mit Hypothermie in Verbindung zu stehen [7], auch wenn der Zusammenhang in einer großen Studie mit > 5000 Frühgeborenen nicht belegt werden konnte [5].


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Leitlinienempfehlungen

Die Leitlinien schlagen die Kombination mehrerer Maßnahmen vor, um insbesondere Frühgeborene vor Wärmeverlust zu schützen. Dazu zählen

  • Abtrocknen des Kindes,

  • erhöhte Raumtemperatur,

  • Verwendung von Heizstrahlern, einer Wärmematratze, einer zusätzlichen Kopfbedeckung sowie

  • erwärmte und befeuchtete Atemgase.

Für Neugeborene, die außerhalb von Gesundheitseinrichtungen geboren werden, kann es hilfreich sein, die Kinder nach dem Abtrocknen in Plastikfolie zu hüllen und dann mit warmen Stoffwindeln zu umhüllen [9], [10].


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Kreative Bemühungen

Im beschriebenen Fall wurde zutreffend die hohe Bedeutung des Wärmeerhalts erkannt und das Kind rasch abgetrocknet und in Handtücher gehüllt. Auf die (normale) Raumtemperatur konnte kein Einfluss genommen werden, ebensowenig waren angewärmte Atemgase oder Heizstrahler verfügbar. Mit Verwendung des Kirschkernkissens sowie der erwärmten Handtücher wurden aber der Situation entsprechend recht kreative Maßnahmen ergriffen. Trotz aller Bemühungen und des Inkubatortransports, konnte aber ein Absinken der Temperatur auf 32,7 °C nicht verhindert werden.

Wärmeverlust muss dringend vermieden werden und bestimmt das Outcome wesentlich mit. Kreative Maßnahmen wie angewärmte Handtücher oder Kissen können dabei bei fehlenden Alternativen einen wertvollen Beitrag leisten.


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Ethische Aspekte

Behandlung ja oder nein?

Es existiert eine Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) für „Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit”, die verständlicherweise den wenigsten im Rettungsdienst tätigen Kollegen bekannt sein dürfte [11].

Die Leitlinie versucht aufgrund der in der Literatur beschriebenen hohen Letalitäts- und Komplikationsraten sowie Langzeitbeeinträchtigungen Empfehlungen zu medizinisch sinnvollen Therapieentscheidungen zu bieten. Eine hohe Bedeutung hat hierbei ein individuelles, mit den Eltern im Konsens getroffenes Vorgehen.

Generell werden medizinische Bemühungen bei Kindern unter der 22. vollendeten SSW als aussichtslos eingeschätzt. Ab der 24. vollendeten SSW steigt die Überlebenswahrscheinlichkeit so deutlich, dass i. d. R. eine lebenserhaltende Therapie anzustreben ist.


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Unterste Grenze

Im beschriebenen Fall fällt das Neugeborene an die allerunterste Grenze, an der eine intensivmedizinische, neonatologische Therapie auf Wunsch der Eltern im vollen Bewusstsein der Risiken nach Beratung erfolgen kann.

In der Sondersituation des Notfalleinsatzes wurde bei limitierter Informationslage die Entscheidung zur Erstversorgung getroffen. Nach Eintreffen des Neugeborenen-Arztes wurden die Eltern auch nach Ihrem Wunsch befragt, allerdings ohne dass eine weitergehende Beratung erfolgen konnte. Die Entscheidung zu Therapieabbruch und Palliation konnte von den Eltern erst im Laufe des folgenden Tages nach ausführlicher Beratung und schließlich in Kenntnis der eingetretenen schweren Hirnblutung getroffen werden.

Im nachfolgenden Gespräch erklärten die Eltern nachvollziehbar, dass die initiale Behandlung und der dadurch gewonnene Zeitgewinn, ein Verständnis der Situation ermöglichten und die schwere Entscheidung erträglicher machten.

Fazit Neben der Erstversorgung von Neugeborenen kann – im Ausnahmefall – auch die Versorgung von Früh- und Extrem-Frühgeborenen zum Spektrum der präklinischen Notfallmedizin gehören. Prinzipiell kommen die Leitlinien des European Resuscitation Council (ERC) zur Anwendung. Erschwerend wirken hierbei Stress sowie die kleine Anatomie und funktionelle Unreife der Kinder. Weiterhin hat die Behandlung von Frühgeborenen – auch präklinisch – eine medizinisch-ethische Dimension.

Kernaussagen

  • Wärmeerhalt hat hohe Priorität, kann bei Neugeborenen präklinisch aber mitunter schwer möglich sein.

  • Nach einer Frühgeburt gibt es 2 Patienten: Auch die Mutter muss untersucht und betreut werden. Es können lebensbedrohliche postpartale Blutungen auftreten.

  • Bei Frühgeborenen kann die fehlende Lungenreife problematisch sein (< 28. Schwangerschaftswoche).

  • Bei extremen Frühgeborenen kommt das notfallmedizinisch mitgeführte Equipment an seine Grenzen.

  • Einsatzplanung und Kommunikation zwischen Rettungsdienstpersonal, Leitstelle, Krankenhaus und Betroffenen spielen eine große Rolle.

  • Die Intubation von Frühgeborenen kann selbst mit großer Erfahrung äußerst schwierig sein und sollte aufgrund der hohen Verletzungsgefahr nicht erzwungen werden, wenn eine suffiziente Ventilation anderweitig sichergestellt werden kann.

  • Die Prognose von außerklinisch geborenen Frühgeborenen ist sehr schlecht.

  • Die Entscheidung für oder gegen eine weitere Therapie kann bei limitierter Informationslage am Einsatzort nur eingeschränkt getroffen werden.


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Dr. med. Tobias Pöhlmann ist Assistenzarzt in Weiterbildung an der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Klinikum Bayreuth.
E-Mail: tobias.poehlmann@klinikum-bayreuth.de

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Armin Schmidt ist Rettungsassistent beim Bayerischen Roten Kreuz, Kreisverband Bayreuth.

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Dr. med. Wolfgang Pohl ist Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin sowie Neonatologie und Leitender Oberarzt der Klinik für Kinder und Jugendliche am Klinikum Bayreuth.
E-Mail: wolfgang.pohl@klinikum-bayreuth.de

Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.


Korrespondenz

Dr. med. Tobias Pöhlmann
Dr. med. Wolfgang Pohl


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Abb. 1 Die eingesetzten Materialien (Maske 0, Tubus ID 2,0 mm ohne Cuff, Kinder-EKG-Elektroden) im Vergleich zu gängigem Erwachsenenequipment (Maske Gr. 6, Tubus ID 7,5 mm mit Cuff).
Bildnachweis: Tobias Pöhlmann
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Abb. 2 Intensivtransport-Inkubator.
Bildnachweis: Tobias Pöhlmann