Was hat es mit dieser Wortgewalt, mit dieser Macht des Wortes, auf sich? Zunächst
könnte hier eine Differenzierung vorgenommen werden, zwischen der Macht des gesprochenen Wortes, welches sich mit dem Charisma einer Person und ihren Taten verbindet, und
der Macht des geschriebenen Wortes, welches das Gedachte dauerhafter einzufangen und eine weitere Verbreitung
zu erlangen vermag. Die Erfindung der Schrift ist damit die notwendigerweise den Worten
zugehörige Technologie, welche ihnen erst zum Durchbruch verhilft und ihnen Beständigkeit
verleiht. Dies gilt für religiöse Schriften genauso wie für Literatur, Philosophie
und wissenschaftliches Arbeiten. Und mindestens so wie Gutenberg als Erfinder des
Buchdrucks mit beweglichen Lettern wohl zu Recht von 4 prominenten amerikanischen
Journalisten zum „Mann des zweiten (nachchristlichen) Jahrtausends“ gewählt wurde,
hätte man auch diejenigen klugen Phönizier aus dem östlichen Mittelmeerraum ehren
müssen, welche im 11. vorchristlichen Jahrhundert als erste ihre Alphabetschrift entwickelten.
Aus ihr leiten sich weitestgehend alle anderen Alphabetschriften ab. Inzwischen haben
wiederum neuere Technologien Einzug gehalten, welche das gesprochene Wort in Wort
und Bild einzufangen vermögen und darüber hinaus auch so manches Unausgesprochene:
nicht nur in Bildern der Mimik, sondern auch in den vielfältigen digitalen Spuren
unserer Lebensvollzüge – von Kreditkartenabrechnungen bis zum „Internet der Dinge“
in einer Big Data-Welt [2]
[3].
Doch um bei Wort und Schrift zu bleiben: schriftliche Abhandlungen, oftmals nach festen
Schreibregeln, sind noch immer die gemeinsame Verständigung und feste Währung in der
Welt der Wissenschaft wie auch in vielen anderen Bereichen des Gesundheitswesens [4]. Gesetze, Leitlinien, Krankenakten – sie basieren noch immer auf dem geschriebenen
Wort bzw. geschriebenen Zahlen. Ist dieses Wort uneingeschränkt mächtig oder ist es
nicht auch gefährdet? Es ist zum einen die Freiheit des Wortes, gesprochen wie geschrieben,
welche den Kern akademischen Lebens und Schaffens ausmacht. Bedrohungen ergeben sich
insbesondere in Zeiten der Diktatur und ihrer zugehörigen Gedankenpolizei, wie in
stalinistischer oder nationalsozialistisch-fachistischer Gestalt. So hat die ursprünglich
zynische Bezeichnung der „political correctness“ (PC), verwendet in exiljüdischen
Kreisen für die mannigfach mäandernde Moskauer Parteilinie im Stalinismus, inzwischen
einen Bedeutungswandel erfahren. Sie wird nun auf die bisweilen angestrengte Nicht-Diskriminierung
und „affirmativ action“ in den post-68er akademischen Kreisen in den USA bezogen und
durchaus kontrovers diskutiert [5]. Das Ziel der Werturteilsfreiheit insbesondere in den ideologieanfälligeren Geistes-
und Sozialwissenschaften kann damit ebenso erreicht wie auch verfehlt werden: „Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten“, zitiert der Wissenschaftsjournalist Alexander Grau die Empfehlung Hanns Joachim
Friedrichs an Moderatoren in diesem Zusammenhang [6]. Der „linguistic turn“, das sprachkritische Bewußt-Werden der gegenseitigen Beeinflussung von Redeweise,
Denken und Handeln, hat uns im 20. Jahrhundert nachdenklich gemacht: Wir denken und
handeln innerhalb des „Framings“ durch Sprache und Kultur [7]
[8].
Und um hier die zugehörige akademische Gretchenfrage zu stellen: Wie verhält es sich
mit dem Gebrauch der Muttersprache in wissenschaftlichen Kontexten? Die lingua franca, der freie Austausch zwischen Gelehrten in einer gemeinsamen Sprache, hat Tradition:
die jeweilige Sprache war zeitweise Griechisch, Latein, Arabisch, dann wieder Latein,
kurzzeitig nationalsprachig und ist derzeit zweifelsohne das Englisch-Amerikanische.
Doch sollten wir, sowie Kepler und Galilei sich auf Latein austauschten, dabei ansonsten
auch in ihren Landessprachen arbeiteten, nicht auch darauf achten, dass Sprache sich
nicht in etwas „Geliehenes“ verwandelt? Gerade im Bereich der Versorgungsforschung
sind gesellschaftsspezifische Eigenheiten zu beachten: in Gestalt der Sozialgesetzgebung
und der grundsätzlichen Organisation des Gesundheitswesens, wie der mitteleuropäischen
Variante eines Bismarckschen Sozialsystems in Abgrenzung zu staatlichen oder stärker
privatwirtschaftlichen Gesundheitssystemen, hinsichtlich der kulturellen Erwartungshaltungen
in der Interaktion der Patienten und Leistungserbringer, nicht zuletzt auch in den
oft schwer bestimmbaren Assoziationen der sprachlichen Verständigung im allgemeinen
wie im speziellen und fachspezifischen Wortgebrauch. Hofmann und Ricciardi argumentieren
in einem beachtlichen kleinen Aufsatz, dass dem „Outsourcen der Sprache“ in letzter
Konsequenz auch ein „Outsourcen des Denkens“ folgen könnte und dass bei Übersetzungen
durchaus auch Unübersetzbares auf der Strecke bleiben kann – Faust sei’s geklagt [9].
Das vorliegende Sonderheft von „Das Gesundheitswesen“ ist ein crossmediales Experiment:
es ist gesetzt und gelayoutet wie die bekannten Druckversionen. Es ist dabei gleichzeitig
„nur“ elektronisch verfügbar – allerdings als open access Publikation mit potentiell weltweiter Zugänglichkeit und vielleicht punktuell auch
weiter Ausstrahlung. Die Beiträge sind dabei in deutscher Sprache verfasst – begleitet
von englischsprachigen Abstracts. Vorgestellt werden Forschungsergebnisse zu organisatorischen
und interpersonellen Aspekten der haus- und fachärztlichen Versorgung im Vergleich,
eine Untersuchung zu pflegerischen Versorgungsdefiziten in deutschen Krankenhäusern,
die Nutzenbewertung von Handlungsempfehlungen zur Patientensicherheit, Ergebnisse
einer systematischen Reviews zum Einsatz von Qualitätsindikatoren, eine Kostenanalyse
von multimodalen Rückenschmerztherapien, eine Untersuchung zur Überforderung pflegender
Angehöriger bei der Versorgung am Lebensende, die Eignung von GKV-Routinedaten zur
Überprüfung von Versorgungsleitlinien und der überarbeitete STROSA-Berichtsstandard
für Sekundärdatenanalysen.
Mephistopheles‘ Spott über die Faustische Gelehrsamkeit gipfelt am Ende der Studierstuben-Szene
in der Feststellung: „Dir wird gewiss einmal bei deiner Gottähnlichkeit bange!“. Auch aus heutiger Sicht ist die darin versteckte Warnung vor uraltem menschlichem
Hochmut ernst zu nehmen, insbesondere dann, wenn Worte nicht der Wahrheitsfindung
und, im Gesundheitswesen, nicht der Gesundheit des (kranken) Menschen dienen. Doch
in einem Ernst-nehmen auch solcher Gefahren, einem kritisch-reflektivem Umgang mit
geschriebenem wie gesprochenem eigenem wie auch fremdem Wort, einem Bedenken seiner
direkten wie auch indirekten Auswirkungen, liegt gleichzeitig doch auch die große
Chance des Logos: Einer Sprachen, Nationen und Kulturen verbindenden Vernunft wissenschaftlicher Rede.
Innerhalb dieses framings wissenschaftlicher Vernunft und Logik ist herkömmliche Grenzen überwindender Austausch
in Form wissenschaftlicher Artikel, Vorträge und Präsentationen, Studierenden- und
Dozentenaustauschs möglich. So könnte sich auch im Gesundheitswesen und in den Gesundheitswissenschaften
das immer wieder auch gegenwärtige, das Gemeinwohl durch Partikularinteressen mephistophelisch
Verneinende, durch seine wissenschaftlich vernünftige Aufarbeitung letztlich im Sinn
der faustischen Studierzimmererzählung auswirken „als Teil von jener Kraft,/die stets das Böse will und stets das Gute schafft“ [1].