Querschnittlähmung im Wandel
Querschnittlähmung im Wandel
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich der typische Querschnittpatient erheblich
gewandelt. Während der Anteil der Männer mit ⅔ am
Gesamtkollektiv in etwa gleich geblieben ist, so hat sich der Anteil der Patienten
mit Tetraplegie kontinuierlich erhöht. Aktuell sind
mit 55 % mehr als die Hälfte der 1800 jährlich neu in Deutschland hinzukommenden Querschnittgelähmten
nicht nur von Ausfällen der
unteren, sondern auch der oberen Extremitäten betroffen.
Weiterhin hat eine deutliche Verschiebung hin zu mehr inkompletten Lähmungen stattgefunden,
die inzwischen mit 70 % die Mehrheit am
Gesamtkollektiv ausmachen [16]. Dieser Trend ist u. a. auf erhöhte Sicherheitsmaßnahmen im Verkehr und
am Arbeitsplatz zurückzuführen, aber vor allem auch durch eine starke Zunahme von
nichttraumatischen Lähmungsursachen bedingt. Hierzu
zählen Entzündungen, Tumoren oder degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, die
bei frühzeitiger operativer bzw. medikamentöser
Intervention in der Regel nicht zu einer vollständigen Schädigung des Rückenmarks
führen. Mittlerweile hat jede zweite
Rückenmarkverletzung eine nichttraumatische Ursache, was generell zu einem Anstieg
des mittleren Patientenalters geführt hat [13].
Während sich das neurologische Niveau bei tetraplegischen Patienten überwiegend auf
Höhe des vierten oder fünften Halsmarksegments
befindet, stellt der thorakolumbale Übergang die häufigste Läsionshöhe (erhaltene
Rumpfstabilität, aber ausgefallene Beinfunktion) bei
paraplegischen Patienten dar [16].
Bei einem neurologischen Niveau von C5 sind Schulterfunktion und Ellenbogenbeugung
in der Regel erhalten, allerdings fehlen relevante
Hand- und Fingerbewegungen. Bei einer Läsion auf Höhe von C4 fehlt zusätzlich die
Ellenbogenbeugung. Vor allem die Wiederherstellung
einer ausgefallenen Greiffunktion besitzt höchste Priorität in der Rehabilitation
der Betroffenen, da diese mit dem größten Verlust an
Autonomie und Lebensqualität einhergeht [1], [23].
Greifen mittels Neuroprothesen
Greifen mittels Neuroprothesen
Stehen distal des Ellenbogens noch genügend Muskeln unter Willkürkontrolle zur Verfügung,
so kann mittels chirurgisch vorgenommenen
Muskel- und Sehnentransfers eine substanzielle Funktionsverbesserung erzielt werden
[8]. Sind diese aber
nicht vorhanden, so stellen beim heutigen Stand der Technik Greifneuroprothesen auf
Basis der funktionellen Elektrostimulation (FES)
die einzige Möglichkeit zur Funktionsverbesserung dar. Bei der FES werden mittels
kurzer, niederfrequenter Stromimpulse
Nervenaktionspotenziale generiert, die fortgeleitet zu einer tetanischen Muskelkontraktion
führen.
Der am wenigsten aufwendige Weg zur Wiederherstellung einer alltagstauglichen Greiffunktion
besteht in der Anwendung von mehrkanaligen
Elektrostimulatoren in Kombination mit Oberflächengelelektroden. Bereits mit sieben
Klebeelektroden ([Abb.
1a
]) für die Stimulation des M. extensor digitorum communis, des M. extensor pollicis
longus und einer
gemeinsamen Elektrode für die Mm. flexor digitorum superficialis und profundus und
des M. flexor pollicis longus kann ein einfacher,
aber brauchbarer Schlüsselgriff erzeugt werden. Beim Schlüsselgriff dienen die gebeugten
Finger als Widerlager für den Daumen, sodass
flache Gegenstände wie ein Stift oder eine Gabel gegriffen werden können ([Abb. 2d
]). Mit einer
weiteren Elektrode kann durch Stimulation des M. opponens über den N. medianus und
die damit erzielte Abduktionsstellung des Daumens
zusätzlich ein Zylindergriff erzeugt werden, mit dem größere Objekte bewegt werden
können ([Abb.
2e
]). Zur Verbesserung von Handhabbarkeit und Reproduzierbarkeit der Griffe werden die
Elektroden in einem
individuell angepassten Elektrodenhandschuh befestigt ([Abb. 1b und c
]).
Abb. 1 Stimulationselektroden (a) für
1: Fingerextension
2: Daumenextension
3: Finger- und
Daumenflexion
4: Daumenopposition
Eingeklebte Elektroden (b) im individuell gefertigten Neoprenhandschuh
Angelegter Elektrodenhandschuh (c) (Abb.: Rüdiger Rupp)
Abb. 2 Greifneuroprothesennutzer bei der Bewältigung von speziellen Testaufgaben (a, f) und Alltagsaufgaben
(b, c, d, e) (Abb.: Rüdiger Rupp)
Nichtinvasive vs. implantierbare Systeme. Generell besitzen nichtinvasive Systeme den Vorteil, dass sie bereits in der Frühphase
angeboten und einfach an den sich ggf. verändernden neurologischen Status angepasst
werden können. Allerdings bestehen im Vergleich zu
implantierbaren Systemen Probleme in der Handhabung und der selektiven Stimulation
einzelner Muskeln. Obwohl der hohe Alltagsnutzen
[17] von implantierten Greifneuroprothesen nachgewiesen ist, konnten sich diese am Markt
nicht
durchsetzen. Die Gründe hierfür liegen in den im Vergleich zu den nichtinvasiven Systemen
um einen Faktor 10 höheren Kosten, der
unzureichenden Möglichkeit der Anpassung an die individuellen Bedürfnisse des Nutzers
und der Tatsache, dass nur wenige Einrichtungen
die für eine erfolgreiche Patientenselektion, Implantation und Nachbehandlung notwendige
Infrastruktur bereitstellen können.
Lähmung ist nicht gleich Lähmung
Lähmung ist nicht gleich Lähmung
Alle Neuroprothesen arbeiten üblicherweise mit Impulsen, mit denen ausschließlich
Nervenfasern aktiviert werden können. Infolge einer
Rückenmarkverletzung kommt es aber in mehr oder minder großem Ausmaß auch zu einer
Schädigung von Motoneuronen im direkten
Verletzungsgebiet. Die in der Folge auftretende Denervation stellt ein großes Problem
dar, da denervierte Muskeln bzw. Muskelanteile
nicht direkt mittels FES zu einer funktionell bedeutsamen Kontraktion angeregt werden
können. Aus dem gleichen Grund ist auch für
Plexusparesepatienten bisher keine Neuroprothese verfügbar. Da von potenziellen Neuroprothesennutzern
eine Menge weiterer
Voraussetzungen, wie geringe Spastik, ausreichender passiver Bewegungsumfang der Gelenke
oder das Nichtvorhandensein einer autonomen
Dysreflexie erfüllt werden müssen, wird nicht jeder Hochquerschnittgelähmte von der
Technologie profitieren können.
Individualisierte Technik zwingend notwendig
Individualisierte Technik zwingend notwendig
Die Technik muss an die Möglichkeiten des Nutzers anpassbar sein, und nicht der Nutzer
nach den Möglichkeiten der Technik
ausgewählt werden!
Neben der individuellen Festlegung der Elektrodenpositionen und der personalisierten
Anfertigung des Elektrodenhandschuhs ist auch die
Auswahl der Benutzerschnittstelle einer Neuroprothese von entscheidender Bedeutung
für die Nutzerakzeptanz. Im Regelfall steuert der
Nutzer seinen Griff selbstständig über Bewegungen der gegenüberliegenden Schulter,
die über einen auf die Schulter aufgeklebten
Positionssensor registriert werden. Hiermit wird je nach Benutzerpräferenz der Grad
der Handschließung/-öffnung über Pro-/Retraktion
oder Elevation/Depression der Schulter kontrolliert. Eine Umschaltung zwischen Schlüssel-
und Zylindergriff erfolgt durch Druck auf
das Endstück des Schultersensors. Diese unnatürliche Art der Steuerung muss von den
Nutzern erst erlernt werden, sodass bei Nutzern
mit erhaltener Dorsalextension im Handgelenk diese bevorzugt für eine Kontrolle herangezogen
wird. Hier kann eine Steuerung des
Daumen- und Fingerschlusses über die mittels Biegesensor gemessene Handhebung in intuitiver
Art und Weise erfolgen.
Wiederherstellung der Armfunktion
Wiederherstellung der Armfunktion
Bei einer Reihe von Hochquerschnittgelähmten liegen ausgedehnte Lähmungen nicht nur
der Hand, sondern auch des Ellenbogens vor. Bei
diesen Menschen ist oftmals der M. biceps zumindest teildenerviert, sodass durch die
FES alleine keine ausreichende Ellenbogenflexion
erreicht werden kann. Hier kann die kombinierte Applikation von FES und einer aktiven
Orthese dennoch eine Funktionswiederherstellung
der Arm- und Greiffunktion ermöglichen. Erste Ansätze zeigen, dass mit solchen FES-Hybridorthesen
Höchstgelähmte mit Einschränkungen
der gesamten Armfunktion Gegenstände des täglichen Lebens ergreifen und z. B. essen
([Abb. 3]) oder
trinken können [19].
Abb. 3 Machbarkeitsnachweis einer mittels Gehirn-Computer Schnittstelle gesteuerten FES-Hybridorthese
bei einem
Hochquerschnittgelähmten ohne willkürliche Ellenbogen- und Handfunktion (Abb.: Rüdiger
Rupp)
Steuerung über Ohrmuskelaktivierung. Damit Betroffene mit wenigen erhaltenen Restfunktionen die Funktionalität dieser
Hybridorthese vollständig und vor allem in einer natürlichen Art und Weise nutzen
können, müssen alternative Formen von
Benutzerschnittstellen bereitgestellt werden. Einen vielversprechenden Ansatz stellt
die Kontrolle über die Registrierung von
Ohrmuskelaktivitäten dar. Diese Muskeln sind direkt über Hirnnerven innerviert und
können damit auch von Hochquerschnittgelähmten
prinzipiell angesteuert werden. Sie sind zudem nicht mit anderweitigen Funktionen
wie bei Augenbewegungen vorbelegt. Kürzlich konnte
nachgewiesen werden, dass auch Nichtohrwackler innerhalb einer Woche lernen können,
die Ohrmuskeln auf beiden Seiten getrennt so
anzusteuern, dass damit ein Elektrorollstuhl kontrolliert werden kann [21].
Ungelöste Probleme. Bei allem Erreichten bleibt dennoch eine Reihe von nicht gelösten Problemen. Allen
voran bereitet das
alltägliche Anziehen des Elektrodenhandschuhs Schwierigkeiten. Bei Rotationsbewegungen
des Handgelenks verschieben sich Elektroden,
und es kann zu unerwünschten Fingerstellungen bzw. Kraftverlust kommen. Durch den
Sensibilitätsverlust in der Hand spüren Betroffene
oft nicht, wie stark sie zugreifen. Darüber hinaus sollte die Bedienung wesentlich
intuitiver erfolgen und vom Nutzer nicht ständig
eine hohe Aufmerksamkeit abverlangen.
Das MoreGrasp-Projekt
Mit dem seit März 2015 begonnenen MoreGrasp-Projekt (www.moregrasp.eu) versucht ein
europäisches Konsortium, diese Probleme in den Griff zu bekommen ([Abb. 4]).
Abb. 4 Übersicht über die geplante semiautonome, motorische und sensible MoreGrasp-Neuroprothese
mit Steuerung durch ein
Hybrid Brain-Computer Interface (Abb.: Adrian Cornford)
Elektrodenarray. In MoreGrasp wird ein Elektrodenarray entwickelt, bei dem eine Vielzahl von Elektroden
in den Handschuh
integriert wird, die situationsangepasst elektronisch zu größeren Elektrodenverbünden
zusammengeschaltet werden können [18]. Damit sollen Fehlplatzierungen der Elektroden beim Anlegen und Verschiebungen während
der Anwendung
dynamisch kompensiert werden können. Mittels auf Alltagsgegenstände aufklebbaren Folienkraftsensoren,
deren Daten von einem Funkmodul
übertragen werden, können Greifkräfte registriert und für eine semiautonome Griffsteuerung
verwendet werden. Durch zusätzliche
Elektroden in Körperregionen mit erhaltener Sensibilität, wie dem Hals, können dann
einem Nutzer Rückmeldungen über die aufgebrachten
Greifkräfte gegeben werden.
Hybrid Brain-Computer Interfaces. Um einem Benutzer eine intuitivere Steuerung der Hand zu ermöglichen, sollen Gehirnsignale
zur
Erkennung der Benutzerintention in das Steuerungskonzept mit einbezogen werden [15], [19]. Dies geschieht mittels sogenannter Hybrid Brain-Computer Interfaces
(Gehirn-Computer-Schnittstellen), bei denen ein auf Bewegungsvorstellungen basierendes
Brain-Computer Interface (BCI) mit
traditionellen Benutzerschnittstellen kombiniert wird. Damit soll auf Basis der Modulation
des Elektroenzephalogramms (EEG) über den
motorischen Gehirnarealen erkannt werden, ob ein Benutzer z. B. die Signale eines
Schulterjoysticks zur Steuerung des Grades der
Handschließung oder der Handgelenkrotation verwenden will. Um eine hohe Alltagstauglichkeit
zu erreichen, werden an die
Benutzeranatomie angepasste EEG-Kappen entwickelt, die auf einfach zu handhabenden
Trockenelektroden basieren und ihre Daten drahtlos
an eine Kontrolleinheit übermitteln. In MoreGrasp sollen erste Hinweise gewonnen werden,
inwieweit eine Dekodierung von
unterschiedlichen Greif- bzw. Armbewegungen mittels BCIs in Echtzeit möglich ist.
Im Erfolgsfall könnte damit erstmalig die bilaterale
Wiederherstellung der Greiffunktion umgesetzt und damit ein weiterer Schritt in Richtung
Normalität für die Betroffenen vollzogen
werden.
Wiederherstellung der Gehfunktion
Wiederherstellung der Gehfunktion
Bei der Hälfte der frisch Querschnittgelähmten liegt eine motorisch inkomplette Lähmungssituation
vor. Bei diesen liegt der Fokus der
Rehabilitation auf der Verbesserung der Gehfunktion, da diese eine Voraussetzung für
eine uneingeschränkte Partizipation im
beruflichen wie privaten Leben darstellt [5]. Dass überhaupt eine Funktionsverbesserung erreicht werden
kann, basiert auf der Eigenschaft des gesamten zentralen Nervensystems (ZNS) zur neuronalen
Plastizität, also der Fähigkeit zur
strukturellen und funktionellen Reorganisation von Neuronenverbindungen. Neben dem
Gehirn besitzt auch das Rückenmark durch seine hohe
Zahl an Interneuronen – im Rückenmark befinden sich zehnmal mehr Interneurone als
Motoneurone – die Fähigkeit zur neuronalen
Plastizität.
Das Rückenmark ist nicht nur ein Kabelbaum zwischen Gehirn und Muskeln, sondern besitzt
gewisse Verarbeitungsmöglichkeiten im Sinne
einer spinalen Intelligenz.
Auch wenn bereits vor 250 Jahren angenommen wurde, dass die der Fortbewegung zugrunde
liegenden Aktivierungsmuster aus segmentalen
Schaltkreisen im lumbalen Rückenmark entspringen, wurde der Nachweis erst zu Beginn
des 20. Jahrhunderts an spinalisierten Katzen
erbracht. Diese zeigten ein dem Gehen ähnliches Aktivierungsmuster, wenn ihnen geeignete
sensorische Reize aus der Peripherie
zugeführt wurden. Was damals noch als „intrinsischer Faktor“ bezeichnet wurde, ist
uns heute als zentraler Mustergenerator (engl.:
Central Pattern Generator, CPG) bekannt. Mittels eines dualen spinalen Verletzungsmodells
konnte kürzlich gezeigt werden, dass selbst
nach einer inkompletten Querschnittlähmung zwar erhaltene absteigende Rückenmarkbahnen
zur willkürlichen zielorientierten Lokomotion
beitragen, die Erholung und Wiederherstellung eines Lokomotionsmusters größtenteils
aber von plastischen Veränderungen des CPGs
herrührt [12].
Gehen lernt man nur durch Gehen
Gehen lernt man nur durch Gehen
Erkenntnisse über die Reorganisationsfähigkeit des zentralen Nervensystems haben zu
einem Umdenken der traditionellen Therapiemaßnahmen
in der Rehabilitation von Patienten mit neurogenen Bewegungsstörungen geführt. Mittlerweile
sind funktionsorientierte Therapien auf
der Basis des motorischen Lernens etabliert, allen voran das Laufbandtraining unter
partieller Gewichtsentlastung (Body Weight
Supported Treadmill Training – BWSTT). Neben der Normalisierung der Aktivierungsmuster,
einem physiologischeren Gangbild und der
verbesserten Fähigkeit zur Gewichtsübernahme hat die Laufbandtherapie auch positiven
Einfluss auf die Spastik und die kardiopulmonale
Fitness [9].
Trainingsroboter sind gut, aber sind sie besser?
Trainingsroboter sind gut, aber sind sie besser?
Mit der Einführung von Lokomotionsrobotern vor etwa 10 Jahren konnten Therapeuten
effektiv von der körperlich anstrengenden manuellen
Assistenz der Gehbewegungen entlastet werden. Aufgrund der hinlänglich bekannten Vorteile
von Industrierobotern neigen Therapeuten und
Patienten gefühlsmäßig dazu, einem robotisch assistierten Training eine höhere Wirksamkeit
zuzusprechen. Allerdings scheint ein
robotisches Training einem manuell assistierten Laufbandtraining nicht überlegen zu
sein [14]. Die
Gründe hierfür liegen höchstwahrscheinlich in der nur teilweisen Implementierung von
Prinzipien des motorischen Lernens in robotischen
Unterstützungssystemen, bei denen oftmals die Wiederholung der Bewegung und nicht
der Bewegungsaufgabe im Vordergrund steht.
Bisherige Studienergebnisse zeigen, dass mit Lokomotionsrobotern keine wesentlich
besseren Ergebnisse als mit manuellen Therapien
gleicher Intensität erzielt werden können.
Allerdings können robotische Lokomotionstrainingsmaschinen die Therapie von inkomplett
Querschnittgelähmten wesentlich erweitern.
Lokomotionstrainingsroboter für zu Hause
Lokomotionstrainingsroboter für zu Hause
Die Dauer der Primärrehabilitation von frisch Querschnittgelähmten wird über die letzten
Jahre immer kürzer. Mithilfe der teuren und
aufwendigen Lokomotionsroboter kann im klinischen Umfeld noch eine ausreichende Intensität
des funktionsorientierten Trainings
aufrechterhalten werden, allerdings nimmt die Quantität und Qualität der Therapie
nach Entlassung in das häusliche Umfeld drastisch
ab. Damit bleibt das Potenzial vieler Patienten für motorische Verbesserungen oft
ungenutzt.
Ein Versuch, die Lokomotionstherapie zum Patienten zu bringen, stellt das MoreGait(Motorized Orthosis for Home
Rehabilitation of Gait)-Gerät dar, das aus einer speziellen Sitzvorrichtung in Kombination mit einer geneigten
Rückenlehne, zwei aktiv angetriebenen Exoskeletten zur Unterstützung der Beinbewegungen
und einer speziellen
Mechanostimulationseinheit (stimulativer Schuh) zur Generierung eines physiologischen,
schrittphasenbezogenen Fußbelastungsmusters
besteht, die eine prinzipiell unsichere Vertikalisierung des Nutzers unnötig macht
([Abb. 5]).
Abb. 5 Das MoreGait(Motorized Orthosis for Home Rehabilitation of Gait)-Gerät zum sicheren,
effektiven robotischen Training
im häuslichen Umfeld (Abb.: Rüdiger Rupp)
Aus neurobiologischer Sicht versucht MoreGait, neuroplastische Veränderungen auf verschiedenen
Ebenen des ZNS in Gang zu setzen: Zum
einen werden die sensiblen Schlüsselreize zur Aktivierung des CPG auf spinaler Ebene
generiert [6] und
zum anderen wird eine externe Rückmeldung über die Abweichung der Bewegungen von der
physiologischen Bewegungstrajektorie
bereitgestellt, um die Einschränkungen in der Oberflächen- und Tiefensensibilität
der querschnittgelähmten Nutzer zu kompensieren.
MoreGait-Studie. Zum Nachweis der prinzipiellen Machbarkeit und Sicherheit einer heimbasierten, robotergestützten
Lokomotionstherapie mit MoreGait und zur Dokumentation möglicher therapeutischer Wirkungen
wurde eine Baseline-Studie mit 25
chronischen, motorisch inkomplett Querschnittgelähmten, die bereits bei Studienbeginn
gehfähig waren (Walking Index for Spinal Cord
Injury [WISCI] II [7] ≥ 5), durchgeführt. Nach 8 Wochen täglichen, bis zu 45 Minuten unsupervidiert
ausgeführten Therapieeinheiten konnte eine mittlere Verbesserung der Gehfähigkeit
im Hinblick auf Geschwindigkeit und Ausdauer von
50 % gegenüber Baseline nachgewiesen werden. Zusätzlich nahm bei einigen Studienteilnehmern
die Hilfsmittelabhängigkeit ab.
Damit liegen die erreichten Verbesserungen in der gleichen Größenordnung wie die mit
Großgeräten erzielbaren Erfolge [20]. Interessanterweise zeigte sich ein nahezu linearer Zuwachs der Gehgeschwindigkeit
und -ausdauer
innerhalb der 8 Wochen, sodass wahrscheinlich eine längere Trainingsdauer zu weiteren
Verbesserungen geführt hätte.
Die Studienergebnisse zeigen, dass bei einer sorgfältigen Geräteauslegung ein nicht
beaufsichtigtes Heimtraining mit einer
komplexen, aber mobilen Lokomotionstrainingsmaschine sicher möglich ist.
Während über 1100 Trainingseinheiten kam es nur zu einer geräteassoziierten Nebenwirkung
in Form eines Druckschadens an der Großzehe
[20].
Der Mensch als sensibles Wesen
Der Mensch als sensibles Wesen
Im Vergleich zu Therapeuten sind Roboter mit ihren Sensoren in der Lage, die Kinematik
und Kinetik von einer Vielzahl von Gelenken
reproduzierbar zu erfassen. Die Fähigkeit zur Auswertung der erfassten Sensordaten
in Echtzeit und der unmittelbaren Rückmeldung an
den Benutzer eröffnet neue therapeutische Möglichkeiten [2]. Viele inkomplett Querschnittgelähmte
besitzen eine relativ gute Motorik, entwickeln aber vor allem wegen Störungen der
Tiefen- bzw. Oberflächensensibilität ein
unphysiologisches Gangmuster mit den damit verbundenen Überlastungsphänomenen. Hier
setzt das Prinzip eines kontinuierlichen
extrinsischen oder augmented Feedback an, bei dem die noch erhaltene sensible Wahrnehmung
um die Darbietung zusätzlicher externer
Informationen erweitert wird.
Als Feedbackgrößen können beispielsweise folgende Messgrößen verwendet werden:
-
Gelenkwinkel
-
Bodenreaktionskräfte
-
Gelenkmomente
-
Raum-Zeit-Parameter
-
Muskelaktivitätsmuster
Die Rückführung kann visuell in Form von Abweichungen von der Norm, akustisch oder
taktil erfolgen [11].
Vor Kurzem konnte gezeigt werden, dass inkomplett Querschnittgelähmte mit einem „Stiff-Knee
Gait“-ähnlichen Gangmuster durch visuelles,
schrittphasenbezogenes Echtzeitfeedback der Abweichungen des Kniewinkels von der Norm ihr Gangmuster normalisieren konnten.
Auch ohne Darbietung des Feedbacks kam es darüber hinaus über sechs Trainingseinheiten
zu einer stetigen Normalisierung des
Gangmusters [20].
In neuester Zeit kommen zunehmend auch Methoden der virtuellen Realität (VR) zum Einsatz, die neben Elementen zum motorischen
und kognitiven Training einen erheblichen Motivationsaspekt besitzen [22].
Grundsätzlich kann durch Feedback eine eher langweilige Lernaufgabe aufgelockert und
angenehmer gestaltet werden, was in einer
gesteigerten Trainingsintensität und -bereitschaft resultieren kann.
Trotz positiver Resultate von einigen Einzeluntersuchungen ist die Evidenz für die
Wirksamkeit eines zusätzlichen Feedbacktrainings
gering [10], [24]. Derzeit sind nur kurzfristige Effekte gezeigt worden,
sodass für zukünftige Studien insbesondere Nachuntersuchungen einige Monate nach der
Therapie (sog. Retentionstests) zum Nachweis
eines nachhaltigen motorischen Lernens empfohlen werden. Weiterhin muss der Informationsgehalt
des Feedbacks sorgfältig an die
kognitiven Fähigkeiten des Patienten angepasst werden, da mentaler Stress zu einer
Abnahme der motorischen Performance führt.
Nichtsdestotrotz entwickeln sich Feedbacksysteme speziell durch die breite Verfügbarkeit
von Intertialsensoren, wie sie in jedem
Smartphone verbaut sind, rasant und können eine wertvolle Ergänzung des therapeutischen
Spektrums bei Patienten mit vornehmlich
sensiblen Einschränkungen darstellen.
Exoskelette als Rollstuhlersatz?
Exoskelette als Rollstuhlersatz?
Auch unter Einsatz intensivster Trainingsmethoden lässt sich bei Betroffenen mit nur
wenig erhaltenen Restfunktionen keine Restitution
der Gehfunktion erreichen. Für diese Menschen sind in den letzten Jahren Lokomotionsroboter
([Abb. 6])
für das freie Gehen bis zur Marktreife entwickelt worden [4].
Abb. 6 Probelauf einer Probandin mit dem Ekso-Exoskelett (Ekso Bionics, USA) (Abb.: Rüdiger
Rupp)
Vor deren breiten Einführung sind grundsätzlich einige technische Herausforderungen
– vorrangig die Minimierung des Sturz- und
Verletzungsrisikos speziell bei Auftreten einer Spastik – zu lösen. Auch besteht Verbesserungsbedarf
hinsichtlich der einfachen
Handhabung, der ganztägigen Akkulaufzeit und der intuitiven Steuerung. Erste neutrale
Studien zeigen, dass es bei der Nutzung zu
Nebenwirkungen allen voran Druckstellen und Hautabschürfungen kommen kann [3]. Die Langzeitfolgen auf
den Verschleiß der Gelenke der unteren Extremitäten müssen in Zukunft genau untersucht
werden. Entscheidend für die Akzeptanz werden
die Handhabbarkeit und der funktionelle Zugewinn im Alltag sein. Letztlich wird auch
der Preis (~ 80.000 €) eine große Rolle
spielen.
Potenzielle Nutzer müssen generell über ausreichend Rumpfstabilität und Armkontrolle
verfügen. Auch darf die passive
Gelenkbeweglichkeit nicht allzu sehr eingeschränkt werden und es sollte keine autonome
Dysreflexie vorliegen. Die lange Liste der
Kontraindikationen schränkt die Zahl der von einem Exoskelett möglicherweise profitierenden
Nutzer deutlich ein, sodass der Rollstuhl
auch in Zukunft für die meisten Betroffenen ein preiswertes, effizientes und gesellschaftlich
akzeptiertes Fortbewegungsmittel bleiben
wird.
Fazit
Technische Hilfen können in allen Bereichen der Rehabilitation Querschnittgelähmter
einen wertvollen Beitrag zur Verbesserung der
Unabhängigkeit im Alltag leisten. Greif- und Armneuroprothesen können Hochquerschnittgelähmten
zu mehr Selbstständigkeit und
Lebensqualität verhelfen. Neue Benutzerschnittstellen auch unter Einbindung von Gehirn-Computer-Schnittstellen
werden zukünftig eine
intuitivere Steuerung der komplexen Systeme gestatten und idealerweise eine simultane
Kontrolle der Greiffunktion beider Hände
ermöglichen. Die Rückmeldung von sensorischen Informationen stellt einen weiteren
Schritt in Richtung vollständige Substitution der
Handfunktion dar.
Die breite Verfügbarkeit von Robotern zur Lokomotionstherapie bei inkomplett Querschnittgelähmten
macht Therapeuten nicht überflüssig,
sondern eröffnet neue therapeutische Möglichkeiten. Zu diesen zählen die Fortführung
eines intensiven Lokomotionstrainings auch im
häuslichen Umfeld und eine Effektivitäts- und Motivationssteigerung durch Echtzeitfeedback
von Bewegungsgrößen bis hin zur virtuellen
Realität. Ob sich Exoskelette für das freie Gehen als Rollstuhlersatz bewähren werden,
müssen zukünftige Studien zeigen.
Alle wissenschaftlichen Errungenschaften dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass
eine Querschnittlähmung bisher nicht heilbar ist. Es
bleibt zu hoffen, dass an Tieren erzielte Erfolge hinsichtlich Neuroprotektion und
-regeneration auf den Menschen übertragen werden
können und zu einem substanziellen Funktionsgewinn führen werden. Allerdings ist auch
dann nicht von einer Restitutio ad Integrum
auszugehen, sodass in Zukunft patientenkooperative technische Hilfen benötigt werden,
die sich in die vorhandenen Restfunktionen der
Betroffenen integrieren lassen.