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DOI: 10.1055/s-0042-110995
„Ich wollte mehr über Mamas Krankheit erfahren” – Film „Multiple Schicksale”
Subject Editor:
Publication History
Publication Date:
11 July 2016 (online)
Als Jann Kessler 2014 seine Maturaarbeit abgab, ahnte er nicht, wie viele Menschen er einmal damit berühren würde. Der damals 18-jährige Schweizer hatte einen Dokumentarfilm über Menschen mit Multipler Sklerose gedreht. ergopraxis hat den beeindruckenden jungen Filmemacher zum Interview getroffen.
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Abb.: www.ms-derfilm.de
Jann, du hast mit 18 Jahren im Rahmen deiner Maturaarbeit
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einen Film über Menschen mit Multipler Sklerose (MS) gedreht. Wie kam es dazu, dass
du dich so intensiv mit dieser chronischen Erkrankung auseinandergesetzt hast?
Als ich gerade fünf Jahre alt war, hat meine Mama die Diagnose Multiple Sklerose erhalten.
In der Zeit danach gab es in unserer Familie eine riesige Unwissenheit über und auch
Angst vor dieser Diagnose. Ich habe Mama, aber vor allem die Krankheit nicht an mich
herankommen lassen. Das hat viele Jahre ganz gut funktioniert. Aber es kam ein Punkt,
an dem ich mehr über die Krankheit MS wissen wollte. Vor allem, was sie mit Mama gemacht
hat. Da war ich circa 16 Jahre alt. Mama konnte zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr
sprechen und wohnte bereits in einem Pflegeheim. So entschied ich mich, auch andere
Menschen mit dieser Krankheit kennenlernen zu wollen. Zu dieser Zeit durfte ich in
der Schule auch ein Thema für meine Maturaarbeit wählen. Da ich schon lange in meiner
Freizeit gefilmt und auch Theater gespielt hatte, bat ich meine Lehrperson, die für
den bildnerisch-gestalterischen Unterricht zuständig war, mich bei dem Filmprojekt
zu unterstützen.
Du liest deiner Mutter während des Films aus Hesses Siddhartha vor. Welche Bedeutung
hat dieses Buch für euch?
Da meine Mutter nicht mehr sprechen konnte, fielen mir die Besuche bei ihr im Pflegeheim
recht schwer. Du bist halt da, erzählst ihr etwas von dir und erhältst aber keine
Antwort. Dann hat mich jemand auf die Idee gebracht, Mama vorzulesen. Dadurch wurde
die Situation natürlicher. Ich habe dann damit begonnen, ihr die Lektüre vorzulesen,
die ich auch für die Schule lesen musste. Siddharthas Geschichte hat mich dann aber
auch sehr berührt. Diese Suche nach sich selbst, aber auch nach einem Lebenssinn ist
auch im Film ständig präsent. Wenn man mit einer so existenziellen Erkrankung wie
MS konfrontiert wird, rücken solche Fragen in den Fokus. Während der Dreharbeiten
bemerkte ich auch, dass mir sehr oft die Worte fehlten. Hesse bzw. Siddhartha hatte
für mich dann oft die Worte schon gewählt. So entstand auch die Idee, die Zitate als
Bindeglied zwischen der Gedankenund Fragewelt auf der einen und Mama auf der anderen
Seite zu verwenden. Bei der späteren Überarbeitung des Films sagten viele, ich solle
die Zitate aus Siddhartha kicken, da sie zu viel Raum einnehmen und die Leute damit
nicht klarkommen würden. Aber ich habe dafür gekämpft, dass sie drinbleiben.
Jeder soll sich dazu äußern dürfen, ob und wie er leben möchte.
Du hast in deinem Film viele schöne und positive Momente eingefangen. Es gab aber
auch einen Augenblick, der mich sehr bewegt hat. Das war der Moment, als sich Reiner,
ein Familienvater mit MS, Beihilfe zum Suizid holte und im Kreise seiner Familie durchführte.
Wie kam es dazu, dass du diesen äußerst intimen Moment mit der Kamera begleiten konntest?
Ich habe Reiner eher zufällig über seine Tochter kennengelernt und ihn dann öfter
zu Hause besucht. In den Gesprächen mit ihm erklärte er mir, dass für ihn ein Leben
mit MS auch wertvoll und lebenswert ist. Jedoch nur bis zu einer bestimmten Grenze.
Diese Grenze begann für Reiner an dem Punkt, an dem er nicht mehr selbstständig vom
Rollstuhl auf die Toilette kommen konnte. Er war Marathonläufer, und die Autonomie
seiner Bewegungen war für ihn enorm wichtig. Ich habe es als besondere Stärke empfunden,
dass Reiner da sehr klar war. Auch seiner Familie ging es mit dieser Einstellung gut,
da sie nicht die Sorge hatte, dass Reiner sich irgendwann einfach das Leben nimmt,
sondern dies eine gemeinsame Entscheidung sein wird. Das ist in der Schweiz durch
eine Sterbehilfsorganisation wie Exit geregelt. Ich war jedoch überrascht, als Reiner
mich anrief, um mir zu sagen, dass er meinen nächsten Besuch erwarte. Als er mir dann
erzählte, dass er in zwei Tagen den Termin mit Exit habe, war ich sehr perplex. Mit
einer so schnellen Entscheidung hatte ich nicht gerechnet. Beim gemeinsamen Abendbrot
sagte Reiner dann zu mir, dass die gesamte Familie sich beraten und entschieden habe,
dass ich dabei sein soll.


Abb.: www.ms-derfilm.de
Wie hast du reagiert?
Ich habe mich nicht sofort entschieden, darüber musste ich erst einmal nachdenken.
Als es dann so weit war, ging es nicht mehr um den Film. Dieser Moment des Abschieds
war so viel wichtiger. Hätte es für irgendwen in der Situation nicht mehr gestimmt,
hätte ich sofort den Raum verlassen. Es war ein großer Vertrauens-beweis. Für Reiner
war es, glaube ich, auch wichtig, anderen Menschen diese Möglichkeit aufzuzeigen.
Und ich wollte deutlich machen, dass Exit in der Schweiz ein legaler, jedoch nicht
der einzige Weg ist, den man mit MS beschreiten kann. Es gibt Menschen mit dieser
Diagnose, die so viel stärker eingeschränkt sind und dennoch ihr Leben lebenswert
finden. Mir war die Aufklärung wichtig und einen möglichen Umgang mit dieser Thematik
zu finden. Schlussendlich ist der Film so geschnitten, dass das tatsächliche Ableben
von Reiner nicht zu sehen ist. Das war für die Aufklärung auch nicht nötig. Letztendlich
geht es darum, einen guten Umgang mit Nähe und Distanz zu finden. Dies betraf mich
als Filmemacher und es betrifft Menschen, die mit dieser Krankheit leben.


Abb.: www.ms-derfilm.de
Durch die Sterbehilfsorganisation hatte die Familie nicht die Sorge, dass sich Reiner einfach das Leben nimmt.
Hast du eine persönliche Meinung zu der Möglichkeit, selbstbestimmt zu sterben?
Ich lebe damit, dass Mama sich nie äußern konnte, wie lange sie ihr Leben als lebenswert
empfindet. Ich finde diese Ohnmacht schon sehr schwierig zu ertragen. Es ist sehr
wichtig und ehrlich, wenn jeder Mensch sich dazu äußern kann, ob und wie er leben
möchte. Wir verlängern ja auch das Leben künstlich. Da ist es für mich nur fair, dass
Menschen auch für sich entscheiden dürfen, ihr Leben zu begrenzen, wenn sie es nicht
mehr als lebenswert empfinden. Man muss diese Möglichkeit jedoch immer hinterfragen
und nicht als schnelle Entscheidung akzeptieren. Ein sensibler, gut reflektierter
Umgang ist für mich Voraussetzung.
Deine Mama war Ergotherapeutin. Kannst du dich an ihre Arbeit erinnern?
Ich war damals noch sehr jung. Aber es hat mir immer viel Spaß gemacht, in die Ergotherapie
mitzukommen. Wir haben häufig etwas aus Holz gebaut. Ich fand das sehr spannend. Es
war für mich jedoch schwierig, den Beruf einzugrenzen. Ich konnte meinen Freunden
nie wirklich sagen, was meine Mama da so tut (lacht). Das Wichtigste für mich aber
ist, dass sich meine Eltern nur kennengelernt haben, weil Papa einen Unfall hatte
und zu Mama in
die Behandlung kam.
Dein Film lief in der Schweiz in etwa 60 Kinos. Wird „Multiple Schicksale” auch nach
Deutschland kommen?
Ja, der Film startet am 15. September 2016 bundesweit in deutschen Kinos. Infos finden
Interessierte im Kinowecker unter www.ms-derfilm.de. Es wird auch eine Kinotour geben, bei der ich gemeinsam mit Protagonisten aus dem
Film durch Deutschland reisen werde.
Wie ist der Film bei Publikum und Filmkritikern bislang angekommen?
Zunächst wurde er 2014 im Rahmen der Maturaarbeit in einem kleinen Kino vorgeführt.
Dort habe ich erlebt, wie stark diese Thematik die Menschen berührt. Daraufhin wurde
er überarbeitet und lief letztendlich in der gesamten Schweiz. Natürlich hatten einige
Menschen wirklich Mühe mit dem Film, da er den Zuschauer auch fordert. Ich habe neben
den wirklich schweren Schicksalen im Film zwar auch Betroffene gewählt, die beispielsweise
nicht auf den Rollstuhl angewiesen sind. Dennoch bleiben dem Zuschauer die eher schweren
Schicksale in Erinnerung. Darum habe ich das Feedback erhalten, dass der Film zu negativ
und wenig hoffnungsvoll sei. Ich konnte die Kritik verstehen. Natürlich sind die heutigen
medizinischen Möglichkeiten so, dass man nicht zwangsläufig im Rollstuhl landen muss.
Jedoch ist MS eine Erkrankung, die äußerst individuell verläuft. Es ist nicht möglich,
bei so unterschiedlichen Verläufen eine allgemeingültige Aussage filmisch darzustellen.
Diesen Anspruch hatte ich auch nie. Ich wollte individuelle Schicksale und Personen
zeigen. Personen, die unterschiedlich mit dieser Krankheit leben. Ein weiterer Kritikpunkt
war, dass wir, also Papa, Mama, Oma und ich, auch Teil des Films waren. Ich muss zugeben,
dass ich selbst zu Beginn etwas skeptisch war. Manche haben sich sehr über Papas Aussage
aufgeregt. Papa sagt ja im Film, dass er sich von Mama, also der Person, in die er
sich verliebt hat, bereits verabschiedet hat. Ich fand diese Aussage sehr ehrlich
und stark. Aber es gab Menschen, die das sehr kritisiert haben. Sie schrieben beispielsweise,
warum Papa, obwohl Mama noch lebt, nicht voll und ganz zu ihr steht. Das hat auch
ein Filmkritiker so in einer großen Tageszeitung veröffentlicht. Das war schon etwas
Besonderes, da die Kritik sich nicht direkt auf den Film, sondern auf Papas Umgang
mit dieser Krankheit bezog. Ich hätte mir natürlich lieber eine filmische Kritik gewünscht.
Du hast dich schon in jungen Jahren mit Themen wie Krankheit und Tod auseinandergesetzt.
Wie haben dich diese Themen geprägt? Bist du ein ernster Mensch?
Nachdem ich die Szene bei Reiner zu Hause gefilmt hatte, bin ich wieder in die Schule
gegangen und habe die Probleme in unseren Leben als so belanglos, ja geradezu lächerlich
empfunden. Wir investieren so oft Energie in Dinge, die im Grunde doch so unwichtig
sind. Ich glaube schon, dass meine Geschichte mich mit Dingen konfrontiert hat, mit
denen sich Menschen in meinem Alter nicht so oft beschäftigen müssen. Das war nicht
immer leicht. Wenn ich wählen dürfte, hätte ich mir natürlich eine Mama gewünscht,
der dieses Schicksal erspart geblieben wäre. Aber ich hatte eine sehr wertvolle und
für mich bereichernde Kindheit. Ich durfte mich mit Dingen auseinandersetzen, die
mich, glaube ich, auch weitergebracht haben. Ich möchte diese Erfahrungen nicht missen.
Ich glaube, dass ich dadurch eine gewisse Gelassenheit habe und Dinge auch mit Humor
betrachten kann und mich vielleicht auch nicht so schnell über Belangloses ärgere.
Das macht es manchmal auch leichter (lacht).
Wir investieren so oft Energie in Dinge, die im Grunde doch so unwichtig sind.
Du bist 20 Jahre alt. Was steht bei dir als Nächstes an? Werden wir zukünftig noch
einiges von Jann Kessler hören?
Ich interessiere mich für diverse Studiengänge wie Elektrotechnik, aber auch internationale
Beziehungen oder Germanistik. Jedoch habe ich beschlossen, mich auch an den Filmschulen
zu bewerben. Ich möchte einfach schauen, ob ich das Zeug dazu habe. Es ist wirklich
schwierig, da ich so viele Dinge spannend finde. Ich denke, dass ich einfach mit etwas
starten muss.
Das Gespräch führte Gregorio Engel-Mandurino.
Erratum
Im Artikel „Ich wollte mehr über Mamas Krankheit erfahren” – Film „Multiple Schicksale“ hat sich ein Fehler auf der html-Seite (und somit auch im Index online) eingeschlichen. Der Autor des Textes ist Gregorio Engel-Mandurino, nicht Mona Herz.
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* Die Matura in der Schweiz ist vergleichbar mit dem Abitur in Deutschland.


Abb.: www.ms-derfilm.de


Abb.: www.ms-derfilm.de


Abb.: www.ms-derfilm.de