Es ist bekannt, dass in den Industriestaaten die Zahl der Patienten mit chronischem
Nierenversagen seit einigen Jahren deutlich steigt und dieses Problem in Zukunft wohl
noch drängender werden wird – zum einen liegt dies am demografischen Wandel (chronische
Nierenkrankheiten treten zunehmend mit steigendem Alter auf), zum anderen sind die
Zivilisationskrankheiten Diabetes und Bluthochdruck die wichtigsten Risikofaktoren
für chronisches Nierenversagen in Europa und Nordamerika.
Kaum wahrgenommen wird hierzulande jedoch, dass chronisches Nierenversagen auch für
die arme Landbevölkerung der Tropen zunehmend ein existenzielles Problem darstellt.
Betroffen sind lokal scharf begrenzte Regionen (nie ganze Länder) auf verschiedenen
Kontinenten: In Amerika sind es vor allem Nicaragua und El Salvador, aber auch Costa
Rica und Mexiko, in Asien Sri Lanka und – in geringerem Maße – auch Indien und Pakistan.
Und auch aus Ägypten gibt es einzelne Meldungen über eine Zunahme ungeklärter Nierenerkrankungen.
Gleiche Ursachen in verschiedenen Ländern möglich
Da hier die klassischen Risikofaktoren wie Diabetes, Bluthochdruck oder Glomerulonephritis
keine wesentliche Rolle spielen, wurde das Phänomen unter der Bezeichnung „chronische
Nierenerkrankung unbekannter Ursache“ („chronic kidney disease of unknown etiology“,
CKDu) zusammengefasst.
Noch ist nicht sicher, dass die Erkrankungen in all diesen Ländern tatsächlich auf
dieselben Ursachen zurückzuführen sind. Es gibt jedoch zahlreiche Gemeinsamkeiten,
die dies nahe legen: So sind es überall (möglicherweise mit Ausnahme Indiens) Männer,
die am stärksten betroffen sind. Hauptsächlich handelt es sich um arme, eher junge
und ungebildete Feldarbeiter, die in heißem Klima tagtäglich schwere körperliche Arbeit
verrichten. Die Krankheit trat überall erst nach Beginn der 1990er Jahre auf und in
allen betroffenen Gebieten wird Grundwasser zum Trinken genutzt und intensiver Gebrauch
von Pestiziden gemacht. Die medizinische Versorgung ist meist rudimentär.
Hohe Mortalität durch ungenügende medizinische Versorgung
Die langsam voranschreitende Nierenerkrankung wird meist erst im Endstadium entdeckt,
wenn bereits eine Dialyse oder Nierentransplantation nötig ist – Behandlungen, die
für die Betroffenen oft unerschwinglich sind.
Es wird geschätzt, dass allein in Sri Lanka in den vergangenen Jahren mehr als 20
000 Menschen, hauptsächlich Reisbauern, an den Folgen der Krankheit starben. In Nicaragua
und El Salvador gab es im letzten Jahrzehnt vermutlich mehr als 24 000 Todesopfer,
hier hauptsächlich Arbeiter der Zuckerrohrfelder. In einigen Regionen ist die Mortalität
so hoch, dass die Landstriche „Land der Witwen“ genannt werden. In der nicaraguanischen
Gemeinde Chichigalpa etwa wurden in den letzten 10 Jahren 46 % der Todesfälle unter
Männern durch CKDu verursacht.
Vermutlich verursachen mehrere Faktoren die Nierenschäden
Die betroffene Bevölkerung ist sich meist sicher, dass die Ursache für die Erkrankung
in ihrer Arbeit liegt, oft werden Pestizide verdächtigt. Die Wissenschaftler streiten
jedoch noch um die tatsächlichen Ursachen. Als wichtigster Verdächtiger wird vor allem
in Mittelamerika die tägliche Dehydratation während der schweren Arbeit in heißem
Klima genannt. Verstärkt möglicherweise noch durch Rauchen, nicht steroidale Entzündungshemmer
(NSAID, unter den Betroffenen weit verbreitet aufgrund der extremen Arbeitsbelastung),
die übermäßige Einnahme von Fruktose durch in der Region beliebte, gezuckerte Softdrinks
oder das Kauen von Zuckerrohr könnte diese Dehydratation langfristig zu Nierenschäden
führen.
Dass die Krankheit erst seit den 1990er Jahren beobachtet wird, wird teilweise mit
dem Klimawandel erklärt. Es bleibt jedoch offen, warum in einigen, noch heißeren,
benachbarten Regionen keine Fälle auftreten und warum – wenn auch in geringerem Ausmaß
– Menschen erkranken, die nicht auf den Feldern arbeiten; selbst bei Kindern und Jugendlichen
konnte in den betroffenen Regionen eine erhöhte Prävalenz von Nierenerkrankungen nachgewiesen
werden.
Zum Teil könnte dies durch genetische Prädisposition erklärt werden. Es könnte aber
auch für eine allgemeine Vergiftung der Bevölkerung sprechen, etwa durch Metalle aus
dem Trinkwasser oder Agrochemie. Bisher konnten bei den Betroffenen jedoch noch keine
Toxine in Mengen nachgewiesen werden, die über den zulässigen Werten liegen. Allerdings
wurde in Sri Lanka ein Zusammenhang zwischen der Kadmiumexkretion im Urin und der
Krankheitshäufigkeit und -schwere bei CKDu-Patienten nachgewiesen.
Darauf stützt sich eine Theorie aus Sri Lanka, derzufolge hartes Wasser (geprägt durch
einen hohen Anteil an Kadmium und anderen nephrotoxischen Metallen) in Verbindung
mit der Agrochemikalie Glyphosat zur Bildung von Komplexen führt, die die Nieren zerstören.
Diese Theorie würde das Auftreten der Erkrankung in den 1990er Jahren erklären (etwa
15 Jahre – also einer Zeit, in der sich genügend Gift akkumulieren konnte – nachdem
begonnen wurde, Glyphosat großflächig in Sri Lanka einzusetzen). Außerdem entspricht
das Endemiegebiet der Krankheit in Sri Lanka genau den Regionen, in denen hartes Trinkwasser
genutzt wird. Einzig im äußersten Norden des Landes ist das Wasser hart, ohne das
hier CKDu-Fälle bekannt wären – genau in diesem Gebiet wurde jedoch auch während des
jahrzehntelangen Bürgerkriegs kaum Glyphosat eingesetzt.
Der Haken an der Theorie: Warum sterben dann fast nur die Männer an CKDu? Möglicherweise
ist es, wie ein Forschungsteam der Boston Universität vermutet: Die Menschen werden
durch Gifte – welcher Art auch immer – angreifbar gemacht, für einen wirklichen Ausbruch
der Krankheit ist aber ein „zweiter Schlag“ nötig, wie etwa die harte Arbeit der Männer
mit täglichem hohen Flüssigkeitsverlust.
Dipl. Biol. Unn Klare
Quelle: promed