Einleitung
Sehnenabrisse am Becken sind eher seltene, aber schwerwiegende Verletzungen. Risikofaktoren
für Rupturen sind der Verlauf der Muskeln über 2 Gelenke, rezidivierende Mikrotraumata,
anaboles Doping, Einnahme/Injektion diverser Medikamente (z. B. Chinolone, Steroide)
und verschiedene Stoffwechselerkrankungen (z. B. Diabetes).
Am häufigsten betroffen ist dabei die ischiokrurale Muskulatur (auch als „Hamstrings“
bezeichnet), die aus den Mm. semitendinosus, biceps femoris und semimembranosus besteht.
Der Bizeps und Semitendinosus haben meistens eine gemeinsame Insertion am posterolateralen
Tuber ischiadicum, der Semimembranosus unterschneidet die Sehnen und inseriert anterolateral
[1]. Als typischer Unfallmechanismus wird die forcierte Hüftflexion bei extendiertem
Knie und gleichzeitiger Anspannung der Hamstring-Muskulatur angesehen wie z. B. beim
verunglückten Wasserstart beim Wasserskifahren [2] oder dem Hürdenlaufen. Während es bei Adoleszenten eher zu einem knöchernen Abriss
im Sinn einer Avulsionsfraktur kommt, sind bei Erwachsenen Rupturen im myotendinösen
Übergang oder reine Sehnenabrisse häufiger [3].
Ein weiterer 2 Gelenke überspannender Muskel ist der M. rectus femoris der Quadrizepsmuskulatur.
Der Muskel hat 2 Ursprünge. Die Pars recta inseriert an der Spina iliaca inferior,
die Pars reflecta am Oberrand des Azetabulums. Beckennahe Ausrisse kommen hier v. a.
beim Fußball in der Schussbewegung, z. B. bei einem Pressschlag, vor. Gefürchtet sind
diese Aussrisse v. a. wegen einer früh einsetzenden Verkalkung, die in Flexion so
störend ist, dass eine operative Entfernung der Verkalkungsspangen notwendig wird
([Abb. 1]).
Abb. 1 Konservativer Verlauf eines M.-rectus-femoris-Abrisses. Initial keine ossäre Läsion
sichtbar. Nach 4 Wochen Bildung einer feinen Ossifikationslinie (Mitte). Nach Sportkarenz
und erneutem Pressschlag „Frakturierung“ der Knochenspange mit deutlicher Schmerzzunahme.
Seltener ist der M. adductor longus mit seinem Ursprung am Ramus superior des Os pubis
betroffen. Auch hier sind meist Fußballer bei Schussbewegungen betroffen.
Praktisch nur Kinder und Adoleszente sind von knöchernen Ausrissen der Mm. sartorius
und tensor fasciae latae an der Spina iliaca anterior superior betroffen. Ab einer
Dislokation von mehr als 1 cm wird eine operative Insertion empfohlen ([Abb. 2]).
Abb. 2 Knöcherne Avulsion und Dislokation der Spina iliaca anterior superior links.
Diagnostik
Klinische Untersuchung
Anamnestisch berichten die Patienten meist über eine erhebliche Kraftanstrengung bzw.
eine Bewegung über das normale Bewegungsausmaß hinaus, z. B. im Rahmen eines Sturzes.
Plötzliche Schmerzen und Funktionseinschränkung mit Kraftverlust stehen unmittelbar
nach Trauma im Vordergrund. In Abhängigkeit vom umgebenden Weichteilmantel kann es
zu einem mehr oder weniger ausgeprägten Hämatom kommen. Häufig sinkt das Hämatom nach
distal, sodass die eigentliche Rupturlokalisation übersehen wird. Es besteht Druckschmerz
am Knochen und ggf. auch eine palpable Unterbrechung im Muskelgewebe.
Für Rupturen in der Hamstring-Gruppe ist eine Abschwächung der Flexion und der Außenrotation
(Biceps femoris) und Innenrotation (Semitendinosus, Semimembranosus) in Kniebeugung
pathognomonisch. Bei Rupturen des Rectus femoris ist häufig das Anheben des gestreckten
Beines nicht mehr möglich, Schmerzen im Bereich des Schambeins sind für Läsionen des
Adductor longus bei Anspreizung typisch.
Erweiterte Bildgebung
Zum Ausschluss einer knöchernen Beteiligung sollten Röntgenbilder in 2 Ebenen evtl.
ergänzt durch Spezialaufnahmen (inlet/outlet view) durchgeführt werden. Eine CT-Untersuchung
ist nahezu immer entbehrlich und sollte aufgrund der hohen Strahlenbelastung der häufig
jungen Patienten speziellen Fragestellungen (z. B. Ankerdislokation, Myositis ossificans)
vorbehalten bleiben. Die Sonografie ist zur groben Orientierung sinnvoll, eine Magnetresonanztomografie
ist aber die Standarduntersuchung zur Beurteilung von beckennahen Rupturen [4].
Therapie
Operativ
Beckennahe Komplettrupturen sollten heute in weitgehender Übereinstimmung mit der
Literatur operativ versorgt werden. Dabei spielt der Zeitpunkt der OP eine übergeordnete
Rolle. Die Rupturen sollten frühzeitig versorgt werden, eine Versorgung nach 3 Monaten
hat eher schlechtere klinische Ergebnisse erbracht ([Tab. 1]). Dies liegt nach eigener Erfahrung vor allem an den erheblichen Verwachsungen der
abgerissenen Sehnen mit dem umgebenden Gewebe, die eine Mobilisierung erheblich erschweren
oder unmöglich machen. Zudem ist das Risiko der Verletzung von neurovaskulären Strukturen
deutlich erhöht.
Tab. 1 Literaturübersicht über frühzeitige und verzögerte operative Versorgung.
Studie
|
Jahr
|
Design
|
n
|
Therapie
|
Ergebnis
|
RCS: randomisiert kontrollierte Studie
|
Wood D et al. [5]
|
2008
|
RCS
|
72
|
Operation innerhalb von 3 Monaten bei n = 32
|
Sportfähigkeit nach 6 Monaten bei 80 %. Signifikant schlechtere Ergebnisse bei verzögerter
OP.
|
Sarimo J et al. [6]
|
2008
|
RCS
|
41
|
Operation innerhalb 3 Monaten bei n = 22, nach 3–6 Monaten bei n = 12 und nach mehr
als 6 Monaten bei n = 7
|
Odds ratio: 29-faches Risiko für schlechtes Ergebnis bei Operation nach mehr als 3
Monaten.
|
Brucker P et al. [7]
|
2004
|
RCS
|
8
|
operativ (innerhalb 4 Wochen post Trauma bei n = 6, nach mehr als 4 Wochen post Trauma
bei n = 2)
|
Sehr gut in 6 von 8 Fällen mit Sportfähigkeit auf Vorniveau nach 15 Monaten.
|
Klingele K et al. [8]
|
2002
|
RCS
|
11
|
operativ (innerhalb 4 Wochen post Trauma bei n = 7, nach mehr als 4 Wochen post Trauma
bei n = 4)
|
Sehr gut in 10 von 11 Fällen. Sportfähigkeit nach 6 Monaten bei 7 von 9 Fällen.
|
Cross J et al. [9]
|
1998
|
RCS
|
9
|
operative Therapie nach durchschnittlich 36 (2–104) Monaten
|
Verbesserung in allen Fällen. Sportfähigkeit bei 7 von 9 Fällen, deutlicher Kraftverlust.
|
Sallay P et al. [2]
|
1996
|
RCS
|
12
|
primär konservativ, sekundär operativ bei n = 2
|
Rekonvaleszenz 3–18 Monate. Laufen nicht möglich bei n = 5.
|
Orava S et al. [10]
|
1995
|
RCS
|
8
|
operativ (innerhalb 7 Tagen post Trauma bei n = 4, innerhalb 3 Monaten bei n = 2,
innerhalb 18 Monaten bei n = 2)
|
Nach Früh-OP gut, nach Spät-OP mäßig.
|
Die Versorgung von Hamstring-Abrissen erfolgt in Bauchlage mit Unterpolsterung des
Beckens und des Thoraxes. Eine Jodfolie schützt das OP-Gebiet zusätzlich vor Verunreinigung.
Der Hautschnitt erfolgt bei mäßig- bis mittelgradiger Retraktion der Sehnen in der
Glutealfalte ([Abb. 3]). Nach Durchtrennung der Körperfaszie, die nicht sehr ausgeprägt in diesem Bereich
ist, erfolgt die stumpfe Präparation bis zum gut tastbaren Sitzbeinhöcker. Eine Präparation
am Unterrand des M. gluteus maximus reduziert die Gefahr der temporären oder dauerhaften
Schädigung der Äste des N. cutaneus femoris dorsalis, die auf der Faszie aufliegen.
Nach lateral ist in der tiefen Präparation vor allem auf den N. ischiadicus zu achten,
der im eigenen Vorgehen selten dargestellt wird, sondern im Weichteilverbund nach
lateral gehalten wird. In den meisten Fällen ist die Muskelfaszie der Hamstrings noch
erhalten und muss knochennah durchtrennt werden. Es entleert sich altes Hämatom, die
Sehnenstümpfe sind in diesem Bereich gut zu tasten und werden stumpf mobilisiert,
bis sie spannungsfrei an den Knochen zurückgeführt werden können. Es erfolgt die Anfrischung
des freiliegenden Knochens am Sitzbeinhöcker mit dem scharfen Löffel. Setzen von meist
2 Fadenankern CorkScrewFT 5,5 mm (Arthrex, Freiham) nach Vorbohren mit dem 3,5-mm-Bohrer.
Im eigenen Kollektiv werden Titananker zur besseren postoperativen Evaluation ([Abb. 4]) und höheren Ausrisskraft verwendet. Biomechanische Studien konnten zeigen, das
die Verwendung von 5 Ankern eine größere primäre Ausrisskraft bewirkt [11], in der eigenen Gruppe ist eine Versorgung mit weniger Ankern aber für die Einheilung
ausreichend. Die Sehnenplatte wird mit jeweils einem Fadenende mit überschlagenden
Nähten angeschlungen und über das 2. Fadenende an den Knochen gezogen und verknotet.
Der oberflächliche Wundverschluss erfolgt nach Einlage einer nach lateral ausgeleiteten
Redon-Drainage. Die Nachbehandlung erfolgt bei spannungsreicher Re-Insertion für 6
Wochen mithilfe einer Newport-Orthese, die die Beugung in der Hüfte limitiert. Bei
starker Spannung kann mit einem Fußeinschluss auch die Streckung im Knie limitiert
werden. Bei frühzeitiger Versorgung lässt sich aber unter Teilbelastung 20 kg und
Schulung des Patienten (Beugung der Hüfte nur gleichzeitig mit Beugung des Knies)
eine sehr störende Schienenversorgung vermeiden. Die klinischen Ergebnisse sind durchweg
gut mit nur leichtem Kraftverlust und Rückkehr zum alten Sportaktivitätsniveau nach
2 Jahren [7]. Auch Partialrupturen sollten nach einem unbefriedigenden konservativen Therapieversuch
operiert werden und können mit guten Ergebnissen zum Sport zurückkehren [12].
Abb. 3 Bauchlagerung mit Zugang zum Sitzbeinhöcker.
Abb. 4 Postoperative Kontrolle der Ankerlage.
Abrisse des M. rectus femoris werden in Rückenlage über einen geraden Zugang von der
Spina iliaca anterior superior nach distal operiert ([Abb. 5]). In der weiteren Präparation wird der N. cutaneus femoris lateralis identifiziert,
der über der Faszie des M. sartorius liegt ([Abb. 6]). Die Faszie wird zwischen dem M. sartorius und M. tensor fasciae latae inzidiert
und die Muskeln stumpf auseinander gedrängt. Darunter kommt der M. rectus femoris
zu liegen, der mit seiner relativ kurzen Sehnenplatte bis zum Ansatz verfolgt wird.
Meistens ist der Ansatz an der Spina iliaca anterior inferior betroffen. Mithilfe
des Bildwandlers wird ein Fadenanker gesetzt ([Abb. 7]) und der Sehnenstumpf angeschlungen und fixiert. Die Nachbehandlung erfolgt unter
Teilbelastung 20 kg und Limitierung der Hüftbeugung (Flex/Ex frei-20-0) für 6 Wochen
meist ohne Newport-Orthese. Eine Ossifikationsprophylaxe sollte unbedingt eingenommen
werden, da die Sehne zu Verkalkungen neigt ([Abb. 8]).
Abb. 5 Geplanter Hautschnitt für Refixation des M. rectus femoris ca. 7 cm von der Spina
iliaca anterior superior nach distal.
Abb. 6 Identifikation des N. cutaneus femoris lateralis (Pinzette) und Inzision der Faszie
zwischen M. tensor fasciae latae und M. sartorius.
Abb. 7 Setzen eines Fadenankers unter Bildwandlerkontrolle in die Spina iliaca anterior
inferior.
Abb. 8 Röntgenkontrolle 2 Tage (links) und 6 Wochen (rechts) post OP. Entwicklung einer
Ossifikation (Pfeile) nach Rekonstruktion des M. rectus femoris mit Fadenanker.
Der Adductor longus wird in Rückenlage unter Abspreizung des betroffenen Beines operiert.
Der Hautschnitt erfolgt dabei in der Inguinalfalte ([Abb. 9]). Besonderes Augenmerk muss in der Präparation auf die Schonung des Funiculus spermaticus,
der bei Männern lateral des Hautschnitts verläuft, gelegt werden. Die Fadenanker werden
unter Durchleuchtung vorgebohrt und eingebracht. Die Symphyse darf dabei nicht affektiert
werden ([Abb. 10]). Eine Orthesenbehandlung ist normalerweise nicht notwendig. Abduktion und Flexion
über 60° sollen für 6 Wochen vermieden werden.
Abb. 9 Lagerung für M.-adductor-longus-Refixation.
Abb. 10 Postoperative Kontrolle nach Adduktor longus-Refixation.
Die Refixierung der Spina iliaca anterior superior mit den Ansätzen der Mm. tensor
fasciae latae und sartorius sowie dem Inguinalband erfolgt über einen Zugang direkt
über der Spina. Der medial davon gelegene N. cutaneus femoris lateralis muss dabei
geschont werden. Die Spina wird in einer Cerclage-Technik gefasst und re-inseriert.
Dabei werden 2 mit FiberWire armierte BioComposit-SwiveLock-4,75-mm-Anker am inferioren
Rand der Insertion eingedreht. Die Sehnen werden mit den Fäden durchstochen und über
das Spinafragment geführt. Die Spannung und Fixation der Fäden erfolgt durch 2 PushLock-Anker
an der Crista iliaca ([Abb. 11]). Unter Ossifikationsprophylaxe mit NSARs erfolgt die Teilbelastung für 6 Wochen.
Abb. 11 Setzen des 1. PushLock-Ankers und Verspannen der FiberWire-Fäden in Cerclage-Technik.
Die Fäden der SwiveLock-Anker wurden bereits durch die Sehnen distal des Fragments
durchgestochen.