„Hätt’ ich doch nur!” Manchmal kommt uns eine zündende Idee erst im Nachhinein. Zum
Beispiel, wenn wir nach einer Therapieeinheit das unangenehme Gefühl haben: Das lief
nicht optimal. Ein Gefühl, das regelrecht quälen kann. Aber auch dazu anregen, die
Therapieeinheit noch einmal Revue passieren zu lassen und nach besseren Lösungen zu
suchen. Dieser Reflexionsprozess erinnert daran, wie es ist, in einen Spiegel zu schauen:
Es entstehen Bilder und Vorstellungen von sich selbst in einer konkreten Situation.
Das „Spiegelbild” zeigt Möglichkeiten auf, wie man sich angemessen verhalten und das
eigene Vorgehen an wechselnde Anforderungen anpassen kann. Während dieser Selbsterkundung
bewegen sich Ergotherapeuten auf einer Metaebene und folgen meist einer konkreten
Vision davon, wie sie professionell arbeiten möchten [1]. Zum Beispiel klientenzentriert,
evidenz- und handlungsbasiert. Indem sie ihre tatsächliche Vorgehensweise mit ihrer
Idealvorstellung abgleichen, können sie Verbesserungsmöglichkeiten identifizieren
und nutzen. Mit dem Ziel, sich professionell weiterzuentwickeln und effektiver zu
handeln [1–3].
Jede Situation ist einzigartig und erfordert einzigartiges Handeln.
Direkt oder im Nachgang
Reflexion muss aber nicht erst nach der Handlung einsetzen. Ergotherapeuten können
auch bereits während der Handlung – also im Moment der Entscheidungsfindung – über
ihr eigenes Vorgehen nachdenken [3–5]. Zum Beispiel, wenn sie in einer Therapiesituation
überlegen, wie sie klientenzentriert auf das Verhalten eines Klienten reagieren können.
Oder wie sie ihre therapeutische Anleitung und Unterstützung am besten an seine veränderten
Bedürfnisse anpassen. Dabei verknüpfen sie ihre früheren und aktuellen Erfahrungen
mit ihrem theoretischen Wissen und greifen auf vielfältige Reasoning-Prozesse zurück,
wie das pragmatische, konditionale, ethische oder narrative Reasoning [3, 5]. Immer
mit dem Ziel, ihrem Klienten die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen. Denn
eines ist in der Ergotherapie unbestritten: Es gibt keine Patentlösungen. Jede Situation
ist einzigartig und erfordert damit eine einzigartige Herangehensweise. Das Reflektieren
in und nach der Handlung ist somit grundlegend für eine effektive Praxis [3, 5, 6].
Komplexer Prozess
Es gibt zahlreiche Versuche, die reflexive Praxis zu definieren. Einige Definitionen
konzentrieren sich auf das Zusammenspiel von Denken und Handeln, das eine bessere
Praxis ermöglichen soll. Andere betonen die Chance, aus Erfahrungen zu lernen und
eine höhere Selbsterkenntnis zu erlangen. Oder sie betrachten die reflexive Praxis
als Voraussetzung dafür, theoretische Kenntnisse systematisch in die Praxis umzusetzen
und positive Ergebnisse erzielen zu können [3, 4, 7–9]. Manche Autoren appellieren
zudem an Ergotherapeuten, grundlegende Annahmen ihrer Profession kritisch zu reflektieren.
Etwa die Frage, welchen Blick Ergotherapeuten auf Krankheit haben [10].
Um hier Licht ins Dunkel zu bringen und die Komplexität einer reflexiven Praxis zu
beleuchten, hat die Ergotherapeutin Dr. Elizabeth Anne Kinsella sechs grundlegende
Aspekte zusammengestellt [7]. Demnach versuchen reflektierte Ergotherapeuten …
-
→ aus ihren Erfahrungen zu lernen,
-
→ die Quellen, Arten und Grenzen ihres Wissens zu erkennen,
-
→ den Kontext der Klienten einzubeziehen,
-
→ eigene Sichtweisen und Annahmen zu hinterfragen,
-
→ Widersprüche zwischen ihrer „Philosophie der Praxis” und deren Umsetzung zu erkennen
und aufzulösen sowie
-
→ Reflexionen und Aktionen ausgewogen in der Praxis zu vereinen.
Achtung: Forschung!
Nachdenken alleine reicht natürlich nicht aus, wenn man dem Klienten eine zeitgemäße
ergotherapeutische Behandlung anbieten will. Hierzu ist es auch nötig, den aktuellen
Forschungsstand in die eigenen Reflexionsprozesse einzubeziehen. Sprich: evidenzbasiert
zu arbeiten. Dabei gilt es, nach der bestverfügbaren wissenschaftlichen Evidenz zu
suchen und diese mit der eigenen klinischen Expertise und den Werten des Klienten
zu verknüpfen [11, 12]. Dann kann die evidenzbasierte Praxis ihren praktischen Nutzen
voll entfalten: das gewählte Vorgehen wissenschaftlich zu untermauern und positive
Outcomes zu generieren [3]. Außerdem können sich Ergotherapeuten von Forschungsergebnissen
inspirieren lassen und so ihre Denk- und Herangehensweisen optimieren. Etwa, indem
sie tiefere Einblicke in das Erleben betroffener Klienten erhalten oder auf geeignetere
Assessments und Interventionen aufmerksam werden. Vorausgesetzt natürlich, sie bringen
die Bereitschaft und Offenheit mit, vertraute Pfade zu verlassen und neue Wege auszuprobieren
[3].
Gemeinsam geht's leichter
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Die Welt ist prinzipiell unsicher. So sieht es Donald Schön, der den Begriff des reflektierten
Praktikers maßgeblich geprägt hat. Daher sollten Ausbildungs- und Studienangebote
angehende Ergotherapeuten darauf vorbereiten, mit dieser Unsicherheit umzugehen [4,
13, 14]. Um den Anforderungen der Praxis gerecht zu werden, müssen sie vor allem lernen,
ihr theoretisches Wissen auf die Belange des einzelnen Klienten abzustimmen, Erkenntnisse
aus der Praxis heraus zu entwickeln und wieder an der Praxis zu überprüfen [13]. Ein
dynamischer Prozess, den Praxisanleiter, Kollegen, Mentoren und Supervisoren unterstützen
können [5, 10, 15–17].
Nicht nur angehende Ergotherapeuten profitieren von einem solchen Austausch, sondern
auch erfahrene Berufspraktiker. Insbesondere, wenn sie in einem konkreten Fall an
ihre Grenzen stoßen. Arbeiten sie in einem gut funktionierenden Team, können sie Probleme
bereits ansprechen, bevor sie eine Lösung gefunden haben [17, 18]. Etwa im Rahmen
einer kollegialen Beratung oder reflexiven Peer-Gruppe.
Solche systematischen Formen des Austauschs können nachweislich dazu beitragen, berufliche
Beanspruchung zu vermindern, Problemlösefertigkeiten und Zufriedenheit zu steigern
sowie das professionelle Vorgehen zu verbessern [15, 17, 19–22]. Erlebte Probleme
gelten dabei nicht als Zeichen der Unzulänglichkeit. Sondern als Möglichkeit, vorhandene
Schwellen zu überqueren, neue Wege zu entdecken und sich weiterzuentwickeln.