Schlüsselwörter
Forschungsprozess - Gütekriterien - Mixed-Methods-Forschung - qualitative Methoden
- quantitative Methoden
Key words
research process - quality criteria - mixed-methods-research - qualitative research
methods - quantitative research methods
Einleitung
In den Rehabilitationswissenschaften kommt ein breites Spektrum empirischer Forschungsmethoden
zur Anwendung, die in Abhängigkeit von Forschungsgegenständen, und -zielen, dem Forschungsstand
und dem Vorverständnis der Forscher gut begründet ausgewählt und angewendet werden
müssen. Dieser Beitrag befasst sich mit der reflektierten Auswahl sowie der kombinierten
und integrierten Anwendung qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden, die
für die Rehabilitationswissenschaften zunehmend an Bedeutung gewinnen. Während das
qualitative und das quantitative Methodenparadigma lange Zeit unter dem Stichwort
‚Methodenstreit‘ [1]
[2] als weitgehend erkenntnistheoretisch polar und zum Teil unvereinbar aufgefasst wurden,
wurden erst in den vergangenen zwanzig Jahren unter dem methodologischen Konzept der
‚Mixed-Methods‘ [3]
[4] Bemühungen relevant, die paradigmatische Kontrastierung durch eine pragmatische
Kombination und Integration zu ersetzen. Dieser Beitrag fokussiert die Potenziale,
die durch die reflektierte Methodenauswahl und -kombination für die qualitätsorientierte
Gestaltung rehabilitationswissenschaftlicher Forschung entstehen können. Dabei werden
anwendungsorientiert Prinzipien und Entscheidungskriterien dargestellt, die in der
Forschungspraxis die optimale Methodenanwendung unterstützen und zu deren Weiterentwicklung
beitragen können. Diese Darstellung soll als Vorschlag aufgefasst werden, der sich
insbesondere vor dem Hintergrund der Forschungs- und Beratungspraxis in der Rehabilitationswissenschaft
[5] als nützlich erwiesen hat. Es können aufgrund der spezifischen Zielstellung und
den Möglichkeiten, die ein Beitrag in dieser Methodenreihe bietet, nur einige der
vielfältigen Notwendigkeiten und Herausforderungen der Mixed-Methods-Forschung aufgegriffen
werden.
Merkmale der forschungsmethodischen Gestaltung empirischer Studien
Merkmale der forschungsmethodischen Gestaltung empirischer Studien
In der empirischen Forschung werden Forschungsmethoden eingesetzt, die auf Basis wissenschafts-
und erkenntnistheoretischer Standards und akzeptierter Vereinbarungen in der scientific
community die Gewinnung validen, verlässlichen und nützlichen Wissens sicherstellen
sollen. Zudem dienen methodologische und methodische Standards als eine Art wissenschaftliches
Verständigungs- und Kommunikationssystem, die es einerseits dem Forscher erlauben,
Forschung transparent, effizient und aussagekräftig zu gestalten, und es andererseits
dem Rezipienten der Forschung ermöglichen, den Forschungsprozess und die Aussagekraft
der Befunde adäquat zu beurteilen. Empirische Methoden zielen darauf ab, Forschungsfragen auf Grundlage direkt beobachtbarer oder dokumentierbarer
Phänomene oder Daten aus der Erfahrungspraxis zu untersuchen und zu beantworten. Dabei
müssen die folgenden Aspekte berücksichtigt werden [6]
[7]: (1) Theorie- und empiriebasierte Begründung der Themenwahl, (2) Definition des
Untersuchungsgegenstands, (3) Identifikation des Stands der Forschung, (4), Formulierung
der Fragestellung(en), (5) Benennung der Vorannahmen des Forschungsvorhabens, (6)
Wahl des Untersuchungsplans (Stichprobenziehung und -größe, Design, Datenbeschaffenheit,
Erhebungsmethoden sowie Rahmen- und Kontrollbedingungen), (7) Studiendurchführung
(Probandenakquise, Datenerhebung, ggf. Intervention), (8) Datenauswertung und (9)
Interpretation, Integration und kritische Reflexion der Ergebnisse. Aber auch wenn
diese Anforderungen für jede empirische Untersuchung bedeutsam sind, so bestehen hinsichtlich
des gegenstandsbezogenen Ablaufes und des Ineinandergreifens verschiedener Aspekte
(sukzessive oder problemspezifisch adaptierte Abfolge) sowie hinsichtlich der adäquaten
Ausgestaltung von Forschungsprozessen zum Teil erhebliche Unterschiede. Diese Diskrepanz
wird insbesondere beim Vergleich qualitativer bzw. vorwiegend induktiv orientierter,
Theorie generierender Forschungsansätze einerseits und quantitativer bzw. vorwiegend
deduktiv orientierte, Theorie prüfende Forschungsansätze andererseits [8]
[9]) deutlich.
Begriffsklärung: Qualitative und quantitative Forschungsmethoden
Die Unterscheidung in qualitative und quantitative Forschungsmethoden ist in der Literatur
fest verankert. Diese Terminologie ist aber eigentlich nicht unproblematisch. Am terminologisch
eindeutigsten lassen sich qualitative und quantitative Daten- und Ergebnisformate
unterscheiden: Quantifizierung meint dabei die Überführung von Informationen in Zahlen
per Messvorschriften. Qualitative ‚Daten‘ werden nicht durch Zahlen repräsentiert:
In der Regel handelt es sich um Texte, Beobachtungsmaterial oder ordnende Begriffe.
Durch Beibehaltung eines z. B. sprachlich natürlichen Informationsformats wird der
Tatsache Rechnung getragen, dass individuell geprägte, sozial vereinbarte und interpretationsabhängige
Bedeutungszuschreibungen den Sinngehalt von Informationen mitprägen. Qualitative Forschung
fußt wesentlich auf einen sozialkonstruktivistischen Ansatz, der sich deutend und
sinnverstehend dem Individuum oder sozialen Systemen nähert [8]. Die quantitative Forschung fokussiert möglichst präzise feststellbare, interindividuell
gut vergleichbare und eindeutig definierte Merkmale oder Effekte. Die qualitative
Forschung fokussiert hingegen die subjektiven Bedeutungen, die die individuelle Realität
der einzelnen Menschen prägen [10]. Da diese auf Datenebene divergierenden Sichtweisen dessen, was menschliche und
soziale Realität kennzeichnet, so grundsätzlich verschieden sind und die Grundprinzipien
der damit in Zusammenhang stehenden Forschungsprozesse (z. B. quantitative Daten erfordern
eine statistische Datenanalyse, qualitative Daten erfordern einen interpretativ sinnverstehenden
Zugang) determinieren, werden die Begriffe ‚qualitativ‘ vs. ‚quantitativ‘ auch für
die übrigen Aspekte von Forschungsprozessen als definierend verwendet. So gilt bspw.
eine Randomisierte Kontrollierte Studie (RCT) als quantitatives Design, da dieser
Ansatz optimale Aussagekraft besitzt, wenn die Gütekriterien für quantitative Datenerfassung
(insbes. Objektivität, Reliabilität, Validität) auch für den gesamten Forschungsprozess
als essentiell betrachtet werden und quantifizierte Zusammenhangs- oder Wirkungsmaße
verwendet werden. Tatsächlich könnte eine RCT aber auch qualitative Interviewdaten
als abhängiges Maß untersuchen: Dies wäre aber kein zufriedenstellendes Ergebnisformat
im Sinne der üblichen Forschungsstandards, die z. B. eine statistische Signifikanzprüfung
und die Effektstärkenbestimmung erfordern. Wenn also Designs als qualitativ und quantitativ
bezeichnet werden, ist dies Ergebnis von etablierten Vereinbarungen und Standards
und dies steht nur indirekt mit der Bedeutung der Begriffe ‚qualitativ‘ vs. ‚quantitativ‘
in Zusammenhang.
Im Folgenden wird der qualitative Forschungsansatz als besonders geeignet für induktiv
orientierte, informationsidentifizierende Forschung dargestellt, während quantitative
Forschung als optimaler Ansatz für deduktive, Theorie prüfende Forschung propagiert
wird. Diese Sichtweise wird in der Literatur von vielen Autoren geteilt, wenn die
Indikation und die Klärung von Gütekriterien von Forschungsprozessen zur Entwicklung
und Prüfung von Interventionsmaßnahmen im Mittelpunkt stehen (z. B. [3]
[7]
[10]). Grundsätzlich können zur Bearbeitung von Teilfragestellungen im Rahmen komplexerer
Forschungsprozesse aber auch statistische Methoden eingesetzt werden, um Datenmaterial
exploratorisch zu strukturieren (z. B. exploratorische Faktorenanalyse oder Datamining;
[7]), und qualitative Methoden angewendet werden, um Effekte von Maßnahmen differenzierter
oder umfassender zu charakterisieren [12]
Vorwiegend induktiv orientierte, Theorie generierende Forschungsansätze verfolgen das Ziel, für ein bisher unzureichend theoretisch konzeptualisiertes Inhaltsgebiet
neue Erkenntnisse (z. B. beteiligte Variablen, relevante Zusammenhänge, Gültigkeitsbereich)
zu identifizieren. Forschungsmethoden werden explorativ und hypothesengenerierend
eingesetzt, da das Verständnis des Gegenstandsbereichs und somit die Entwicklung theoretischer
Modellvorstellungen angestrebt werden. Qualitative Verfahren können zur Erreichung
der Forschungsziele besonders Gewinn bringend eingesetzt werden [8]. Die Offenheit gegenüber neuen Informationen (Aspekte, die aufgrund des Vorverständnisses nicht
erwartet wurden oder die das eigene Vorverständnis irritieren, sollen explizit wahrgenommen
werden) und die Kommunikativität (kommunikative/diskursive Aushandlung von Bedeutungen) unterstützen einen möglichst
unvoreingenommenen und direkten Zugang zum Gegenstandsbereich. Aufgrund der Prozesshaftigkeit (Methodische Anpassung an den gewonnenen Kenntnisstand) soll der Forschungsverlauf
der induktiv orientierten Forschung dynamisch und flexibel adaptiert werden (zirkulärer
bzw. spiralförmiger Forschungsprozess). Ausgehend von offenen Fragestellungen (unbekannte
Elemente oder «blinde Flecken» des Wissens zum Gegenstandsbereich) werden für die
Fragestellung optimale Feldzugänge (z. B. offene Interviews, teilnehmende Beobachtung)
identifiziert, die einen möglichst umfassenden Erkenntnisgewinn erwarten lassen. Auf
Basis der gewonnenen Erkenntnisse werden Forschungsfragen modifiziert, weiter spezifiziert
oder differenziert. Dieser Kreislauf von Forschungsfrage, Datenerhebung und -interpretation
wird z. B. im Rahmen der Grounded Theory [8] durchlaufen bis ein in sich konsistentes, widerspruchsfreies und gehaltvolles Theoriemodell
identifiziert wurde, das in Einklang mit allen verfügbaren empirischen Befunden steht
(Kriterium der theoretischen Sättigung [13] ). Die induktive qualitative Forschung orientiert sich vorwiegend an einem konstruktivistischen
Wissensverständnis, das weniger einen objektiven Wahrheitsbegriff, sondern vielmehr
die Kriterien der subjektiven Sinnhaftigkeit und der Gegenstandsangemessenheit als maßgebend ansieht [8]. Die Angemessenheit der Methoden bestimmt sich aufgrund des spezifischen Nutzens
für das Ziel der Wissenserweiterung. Die Begründung der Wahl der Methoden muss dabei
transparent, reflektiert und in Bezug auf Gütekriterien des qualitativen Forschungsprozesses
[14]
[15] erfolgen.
Beispiel für eine induktiv orientierte, qualitative Studienanlage
Für ein im stationären Setting erfolgreiches Bewegungsprogramm wurde eine geringe
Nachhaltigkeit nach Beendigung der Rehabilitationsmaßnahme festgestellt. Um Ursachen
für die unzureichende Veränderung der Bewegungspraxis im Alltag zu identifizieren,
werden Rehabilitanden mittels eines täglich zu führenden Bewegungstagebuchs und qualitativer
Interviews (3 Monate nach Reha-Ende) untersucht (Methodentriangulation: simultaner Einsatz alternativer methodischer Zugänge). In einem ersten Schritt werden
8 Rehabilitanden in die Studie eingeschlossen: Da das Bewegungsniveau vor der Reha,
das Geschlecht und das Alter als wichtige Einflussfaktoren auf die Nachhaltigkeit
angenommen werden, wird ein Proband jeder Merkmalskombination (männlich vs. weiblich;
jung vs. alt; geringes vs. hohes Bewegungsniveau vor der Reha; deduktives bzw. kontrastierendes Sampling; [16]) in die Stichprobe eingeschlossen. Die Interviews sind offen gestaltet: Es werden
in einem Leitfaden festgehaltene Themen in Frageform als Denkanstöße ohne vorgegebene
Antwortalternativen vorgegeben, die es dem Rehabilitanden ermöglichen, seine subjektive
Sichtweise seiner individuellen Lebenssituation sowie typische Erfahrungsbeispiele
zu schildern. Die Interviews werden mittels der qualitativen Inhaltsanalyse [17] ausgewertet, deren Ziel darin besteht, die elementaren Informationseinheiten der
Interviewtexte – ggf. unterstützt durch interpretative Techniken – zu sog. Inhaltskategorien
zusammen zu fassen. Alle Äußerungen lassen sich folgenden aus den Interviewtexten
und den Bewegungstagebüchern identifizierten Kategorien zuordnen: (1) Zeitressourcen,
(2) soziale Unterstützung, (3) Motivation, (4) Selbstwirksamkeitserwartung und (5)
Schmerzen. Hinsichtlich der inhaltlichen Facetten der Kategorien ‚Soziale Unterstützung‘
und ‚Motivation‘ konnte keine erschöpfende Datengrundlage ermittelt werden. Deswegen
wird der Interviewleitfaden bzgl. dieser Aspekte angepasst und differenziert (Kriterium der Prozesshaftigkeit). Zudem konnte bei den Untersuchten eine unerwartet hohe Nachhaltigkeit der Intervention
festgestellt werden, sodass in der nächsten Datenerhebungsphase die Untersuchungsstichprobe
insbesondere hinsichtlich Merkmalen der sozialen Unterstützung und Motivation kontrastiert
und zusätzliche Fälle interviewt werden sollen, für die der Übertrag veränderten Bewegungsverhaltens
in den Alltag problematisch verlief. Dieser Prozess der adaptiven Stichprobenziehung
(induktives Sampling; [16]) und der Anpassung der Erhebungs- und ggf. Auswertungsmethoden wird fortgesetzt,
bis ein in sich geschlossenes, widerspruchsfreies und alle Phänomene berücksichtigendes
Theoriemodell der Ursachen oder Barrieren der nachhaltigen Transferierbarkeit der
Interventionseffekte in den Alltag ermittelt werden konnte. Zudem muss begründet davon
ausgegangen werden können, dass durch die Untersuchung anderer Daten oder Probanden
keine Veränderung des Modells resultieren sollte (Prinzip der theoretischen Sättigung).
Vor diesem Hintergrund kann ein induktiver Forschungsansatz bspw. bei folgenden Themen
als besonders indiziert gelten [18]:
-
Was kennzeichnet das subjektive Erleben und das individuelle Verhalten einzelner Rehabilitanden?
-
Was motiviert Rehabilitanden, sich in spezifischen Situationen in bestimmter Weise
zu verhalten?
-
Welche individuellen Kontextbedingungen bestimmen die Lebensrealität einzelner Rehabilitanden?
-
Welche spezifischen Phänomene müssen zum adäquaten Verständnis der individuellen (Er-)Lebensrealität
berücksichtigt werden?
-
Wie können Theorien und Erkenntnisse für Teilpopulationen oder andere Populationen
(z. B. Indikations- oder Altersgruppen) adaptiert oder erweitert/spezifiziert werden?
-
Wie können Fälle oder Ereignisse, die allgemeineren Theorien widersprechen, verstanden
oder erklärt werden?
-
Wie finden Entscheidungsfindungsprozesse statt (z. B. im Rahmen der Behandler-Rehabilitanden-Interaktion)?
Vorwiegend deduktiv orientierte, Theorie prüfende Forschungsansätze stehen im Mittelpunkt, wenn die Gültigkeit einer hinreichend weit entwickelten Theorie
auf Basis kritischer Hypothesen geprüft werden sollen. Typischerweise werden in einer
Theorie formulierte kausale Wirkbeziehungen untersucht: Definierte Bedingungen (z. B.
motivationale Aspekte, Einstellungen oder Verhalten) haben einen kausalen Einfluss
auf die Ausprägung bzw. die Veränderung von Zielkriterien (z. B. berufliche Wiedereingliederung,
Lebensqualität, Ernährungs- oder Bewegungsverhalten). Einzelne Einflussmerkmale aber
auch komplexe Maßnahmenbündel, die die Kernannahmen des Theoriemodells in Form von
Interventionsprogrammen realisieren, werden z. B. in Kontrast zu einer Kontrollmaßnahme
untersucht [19]. Dieses hypothesenbasierte Vorgehen kann als linearer Forschungsprozess charakterisiert
werden, in dem sich theoriekritische Annahmen bewähren müssen: Stützen die Ergebnisse
die Theorie, so kann daraus die Nützlichkeit und vorläufige Bewährung der Theorie
abgeleitet werden – diese sollte aber stets weiterhin Gegenstand kritischer Prüfung
sein [20]. Werden Hypothesen widerlegt, so bedarf es einer Modifikation der Theorie und entsprechender
induktiver, theoriebildender Forschungsschritte. Bezogen auf den allgemeinen Ablauf
empirischen Forschens bedeutet dies, dass Forschung auf der Basis eines vorliegenden
Theoriemodells auf die Überprüfung von Zusammenhangs- und Wirkbeziehungen abzielt.
Eine kausale Interpretation von Studienergebnissen muss sich an der Evidenzleiter
[21] orientieren: Randomisiert kontrollierte Studien und deren metaanalytische Integration
gewährleisten eine hohe interne Validität bzw. Wirksamkeitsevidenz [19]. Einzelfallstudien oder rein korrelative Designs (Analyse des gemeinsamen Auftretens
verschiedener Merkmale ohne experimentelle Kontrolle) können nicht als hinreichend
für den Nachweis kausaler Wirkungen akzeptiert werden. Wenn prinzipiell (z. B. in
der Epidemiologie) keine Kontrolle der vermuteten Einflussvariablen möglich ist, kann
z. B. auf Designs wie prospektive Kohortenstudien oder retrospektive Fall-Kontrollstudien
zurück gegriffen werden: Diese kontrollierten Designs identifizieren in natürlichen
Settings Merkmale, die mit dem Eintritt kritischer Merkmale (z. B. Erkrankung) in
Zusammenhang stehen. Zusätzliche Kontrollmaßnahmen (z. B. Parallelisierung, Matching,
statistische Adjustierung) können die Evidenz für kausale Wirkbeziehungen erhöhen
[22]
[23]. Darüber hinaus ist stets die externe Validität von Studien zu berücksichtigen,
um den Geltungsbereich von Aussagen angemessen einschätzen zu können. Generell sieht
deduktive Forschung klassische naturwissenschaftliche Erkenntniswege und Gütekriterien
(insbes. Objektivität, Repräsentativität, Verallgemeinerbarkeit und Kausalität [24]) als Kernkriterien wissenschaftlich gehaltvoller und nützlicher Aussagen an.
Beispiel für eine deduktiv orientierte, experimentelle Studienanlage
Auf Basis theoretischer Grundlagen des Gesundheitsverhaltens (z. B. Health-Action
Process Approach [25]) und der Befunde qualitativer Vorstudien wurde ein modularisiertes Interventionsprogramm
entwickelt, das die Nachhaltigkeit eines stationär applizierten Bewegungsprogramms
erhöhen soll. Durch Förderung intentionaler und motivationaler Prozesse sowie des
gezielten Umgangs mit Umsetzungsbarrieren, Verhaltensverträge und ein Nachsorgekonzept
soll der langfristige Nutzen verbessert werden. Hierzu werden 2 Vergleichsgruppen
von Rehabilitanden gebildet, die an der Fördermaßnahme zur Verbesserung der Nachhaltigkeit
teilnehmen (Treatmentgruppe) vs. nicht teilnehmen (Kontrollgruppe). Da die Rehabilitanden
per Zufall den Vergleichsgruppen zugeteilt werden, handelt es sich um eine randomisierte
kontrollierte Studie, die eine hohe interne Validität gewährleistet. Zudem wurde darauf
geachtet, dass die Studienteilnehmer die Population aller Rehabilitanden, für die
das Bewegungsprogramm konzipiert wurde, möglichst repräsentativ abbildet: Dies unterstützt
die externe Validität der Befunde. Die abhängigen Merkmale, die durch das Treatment
positiv beeinflusst werden sollen (z. B. gesundheitsförderliche Bewegungsverhalten
und bewegungsrelevante Einstellungen) müssen – genau wie alle anderen relevanten Merkmale
– mittels psychometrisch gut begründeter Verfahren objektiv, reliabel und valide erfasst
werden, um adäquate Aussagen über die Ausprägung und Veränderung ableiten zu können.
Mittels statistischer Methoden wird geprüft, ob sich die Ausprägung der abhängigen
Merkmale im Verlauf, nach und im langfristigen Verlauf nach der Beendigung der stationären
Rehabilitation in der Treatmentgruppe signifikant günstiger entwickelt als in der
Kontrollgruppe. Ist dies der Fall, kann abgeleitet werden, dass die Maßnahme theorie-
bzw. hypothesenkonform eine positive Wirkung hat.
Forschungsfragen, für die deduktive Forschungsansätze besonders erkenntnisfördernd
eingesetzt werden können, sind z. B.:
-
Bewirkt eine theoretisch gut fundierte Interventionsmaßnahmen eine Besserung der Symptomatik
und der Lebensqualität von Rehabilitanden? (Interventionsstudie)
-
Welche Merkmale begünstigen den Erfolg einer Behandlungsmaßnahme? (Analyse von Kovariaten
im Rahmen einer Interventionsstudie)
-
Unterscheidet sich die Wirksamkeit einer Therapie für verschiedene Patientengruppen?
(Moderatoranalyse im Rahmen einer Interventionsstudie)
-
Welche Merkmale stehen in einem systematischen Zusammenhang mit dem Therapieerfolg?
(Korrelative Studie)
-
Tritt bei Patienten, die sich aktuell in einer kritischen Belastungssituation befinden,
zukünftig eher eine Gesundheitsbeeinträchtigung ein, als bei Patienten, die nicht
exponiert sind? (prospektive Kohortenstudie)
-
Hinsichtlich welcher Merkmale unterschieden sich aktuell erkrankte Patienten von Menschen,
die nicht erkrankt sind, in der Vergangenheit? (retrospektive Fall-Kontrollstudie)
Die Ansprüche, die durch induktive vs. deduktive Zielstellungen und die damit in der
Regel einhergehende Nutzung einer qualitativen vs. quantitativen Forschungslogik an
die einzelnen Schritte und die Gesamtorganisation des Forschungsprozess gestellt werden,
divergieren hinsichtlich vieler Aspekte oder sind gegebenenfalls wechselseitig komplementär
[26]. Folglich ist ohne die explizite Klärung der forschungslogischen Herangehensweise
keine angemessene Bewertung der Qualität einer wissenschaftlichen Studie möglich.
Die folgende Tabelle fast wesentliche Merkmale zusammen, die den Kontrast der Zugangsweisen
verdeutlichen ([Tab. 1]).
Tab. 1 Kernmerkmale und -kriterien Theorie generierender und prüfender Forschungsansätze.
|
Theorie generierende (meist qualitative) Zugangsweisen
|
Theorie prüfende (meist quantitative) Zugangsweisen
|
Forschungsgegenstand
|
Inhaltsbereich, zu dem nicht hinreichendes Wissen vorliegt, um ein geschlossenes Theoriemodell
zu formulieren
|
Inhaltsbereich, für den ein fundiertes Theoriemodell vorliegt
|
Forschungsziel
|
Theoriebildung: Identifikation und Systematisierung neuen Wissens
|
Theorieprüfung: Prüfung der Gültigkeit oder Nützlichkeit des Theoriemodells
|
Schlussweise
|
Induktiv: Durch Datenstrukturierung zur Theorie
|
Deduktiv: Theoriebasierte Vorhersage zu erwartender Datenstrukturen
|
Forschungsverlauf
|
Zirkulär/spiralförmig: Daten führen zu Annahmen, neue Daten werden zur Prüfung und
Konsolidierung gezielt erhoben usw.; Forschungsfragen und das Design werden ggf. verändert
und adaptiert.
|
Linear: Vor Beginn der Datenerhebung liegen die Forschungshypothesen und alle Details
des weiteren Vorgehens fest.
|
Fall- vs. Variablenorientierung
|
Die individuumsspezifische Untersuchung von Einzelfällen ist zentral (Personen-/Fallorientierung)
|
Die messtheoretisch begründete Erfassung von Merkmalsausprägungen ist zentral (Variablenorientierung)
|
Stichprobengröße
|
Kleine Stichproben; durch Einzelfallbetrachtungen sollen alle relevanten Phänomene
zugänglich werden; Kontrastierende Fallvergleiche besonders informativ
|
Große Stichproben, die die zugrundeliegende Population repräsentativ abbilden (i. d. R.
Fallzahlkalkulation erforderlich)
|
Gütekriterien der Informationsgewinnung
|
Offenheit, Prozesshaftigkeit, Kommunikation
|
Objektivität, Reliabilität, Validität
|
Datenformat
|
Informationshaltige Beobachtungen oder Textstellen
|
Numerische Indikatoren von Merkmalsausprägungen
|
Rolle des Forscher
|
Interpret sozialer Wirklichkeit; Involviertheit in das Forschungsfeld ist erwünscht
|
Stellt die wissenschaftliche Qualität der Studiendurchführung sicher; Neutralität
gegenüber dem Forschungsgegenstand
|
Forschungsergebnis
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Detaillierte Beschreibung aller relevanten Phänomene; datenverankerte Theorieexplikation
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Bestätigung vs. Ablehnung der Theoriegrundlage; ggf. Identifikation von Modifikationsbedarf
bzgl. der Theorie
|
Einsatz im Rahmen komplexer Forschungsprozesse
|
Frühe Phasen des Forschungsprozesses, in denen eine solide Theoriebasis für das weitere
Vorgehen ermittelt werden soll
|
Späte Phasen des Forschungsprozesses, in denen die Gültigkeit und Nützlichkeit der
Theoriebasis geprüft wird
|
Besondere „Stärken“
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Offenheit für neue Informationen, Gegenstandsangemessenheit und -nähe
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Wissenschaftlich geteilte Güte- und Entscheidungskriterien, Transparenz und Vergleichbarkeit
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Besonders kritische Aspekte
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Einfluss der Person und der Vorannahmen des Forschers aufgrund nur eingeschränkt dokumentierbarer
Entscheidungs- und Interpretationsprozesse; kein akzeptiertes Rational der Theorieprüfung
|
Durch die Theoriebasierung eingeschränkter Blick auf die in der Theorie nicht fokussierten
bedeutsamen Phänomene des Forschungsgegenstands
|
Notwendigkeit einer vielfältigen und integrierten Methodenpraxis in der Rehabilitationsforschung
Notwendigkeit einer vielfältigen und integrierten Methodenpraxis in der Rehabilitationsforschung
Dass die beiden Zugangsweisen in der Regel kaum vereinbare Anforderungen an die Durchführung
von Forschungsstudien stellen, darf jedoch nicht zu der Schlussfolgerung führen, dass
die Zugangsweisen den Nutzen des jeweils anderen Zugangs für eine hochwertige Forschungspraxis
in Frage stellen. Im Folgenden wird dies sowohl aus forschungstheoretischer als auch
evidenzorientierter Perspektive verdeutlicht.
Zum Verständnis eines reflektierten, problemangemessenen Forschungsprozesses erweist
sich grundsätzlich der explizite Bezug zu Theorien, die das strukturierte Wissen über
relevante Merkmale, Einflussgrößen und Wirkbeziehungen formal repräsentieren, als
zentrales Orientierungsmerkmal ([Abb. 1]). Lediglich in Abhängigkeit davon, ob mit induktivem Erkenntnisziel neues Wissen für die theoretische Fundierung oder Anreicherung identifiziert werden
soll oder aber, ob mit deduktivem Erkenntnisziel ein Theoriemodell oder dessen Teilkomponenten geprüft werden sollen, ergeben sich
heterogene Anforderungen an den Forschungsprozess. Nach diesem Modell erfordert ein
gehaltvoller und nützlicher Forschungsprozess, dass Theorien induktiv entwickelt oder
angereichert bzw. für spezifische Forschungsgebiete empirisch fundiert adaptiert werden.
Erweisen sich theoretische Modelle für den avisierten Geltungsbereich als in sich
konsistent, widerspruchsfrei, klar strukturiert, relevant und anwendbar [27], so kann der induktive Modellbildungsprozess als abgeschlossen gelten. Eine empirische
Prüfung durch eine deduktiv orientierte, kritisch prüfende empirische Studienanlage
kann anschließend deren Bewährungsgrad bzw. Nützlichkeit prüfen.
Abb. 1 Schematische Darstellung eines integrativen Gesamtschemas theorieorientierter Forschungsprozesse
[31].
Dieses Grundmodell steht in Kongruenz zu dem Evidenzmodell komplexer gesundheitswissenschaftlicher
Evaluationsstudien von Campbell et al. [11]
[28]. Dieses betont, dass die Frage der Evidenz einer Maßnahme nicht – wie dies in der
Forschungspraxis zum Teil vereinfacht missverstanden wird – auf die Frage nach experimenteller
Prüfung im Rahmen einer randomisierten kontrollierten Studie (RCT) reduziert werden
darf [29]. Die reine Fokussierung auf diesen Studientyp wird als kritisch angesehen, weil
bei diesen oft die Entwicklung, Praxisadaptation und Implementierung im Behandlungsalltag
eine untergeordnete Rolle spielen, obwohl diesen für die Qualität und den Nutzen von
Maßnahmen in der Gesundheitsversorgung entscheidende Bedeutung zukommt [26]
[30] Die Notwendigkeit und der Nutzen der durch dieses Modell eingeforderten breiteren
und integrativen Methodenpraxis für die Rehabilitationswissenschaften werden deutlich,
wenn man sich das Spektrum rehabilitationswissenschaftlicher Forschungsgegenstände
und -fragestellungen vergegenwärtigt. Grundlegend können dabei folgende Zielstellungen
als zentral unterschieden werden, wenn die Verbesserung der Versorgungssituation von
Rehabilitanden angestrebt wird:
-
Identifikation neuen Wissens oder innovativer Modellvorstellungen und Interventionsmethoden: Rehabilitationswissenschaftliche Interventionsforschung soll belegen, dass konzeptuell
und theoretisch gut begründete Maßnahmen eingesetzt werden können, um bestimmte Effekte
zu bewirken (z. B. Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, berufliche
Wiedereingliederung). Existiert nicht hinreichend substantielles Wissen, um Modelle
(z. B. der Verhaltensänderung), Interventionen oder Forschungsypothesen zu formulieren,
so verfolgen Studien dieses Typs das Ziel, eine empirisch und theoretisch gut fundierte
konzeptuelle Basis zu schaffen.
-
Prüfung von Theoriemodellen: Liegt eine klar formulierte Theorie (z. B. Health action process approach [25]) vor, so wird empirisch geprüft, ob bzw. unter welchen Bedingungen Theorievorhersagen
(Hypothesen) zutreffen oder nicht. Hierdurch bestimmt sich der Bewährungsgrad oder
die Nützlichkeit einer Theorie.
-
Entwicklung theoriebasierter und praxisadäquater Interventionsmaßnahmen: Wurden in einem Theoriemodell wesentliche kausale Antezedenzien für angestrebte
Effekte formuliert, so muss eine Übersetzung in praxisgerechte rehabilitative Interventionsmaßnahmen
erfolgen. Hierbei gilt es sicherzustellen, dass sowohl die vermuteten Einflussmerkmale
(z. B. Motivation, Krankheitseinsicht) optimal verändert werden können als auch die
praktische Umsetzung adäquat erfolgen kann.
-
Prüfung der Effektivität theoriebasierter Interventionsmaßnahmen: Es wird geprüft, ob eine Intervention diejenigen Effekte hervorruft, die angestrebt
werden.
-
Implementation empirisch geprüfter Methoden in der Rehabilitationspraxis: Wurde eine Intervention unter kontrollierten Bedingungen als wirksam nachgewiesen
(efficacy), so erfordert die Herstellung optimaler Implementierungsbedingungen (insbes. Identifikation
und Elimination von Barrieren, Schaffung von Akzeptanz auf Seiten der Anbieter und
der Patienten) separate Forschungsbemühungen (Implementationsforschung [32]).
Die 5 skizzierten Schwerpunkte stehen im Einklang mit einem umfassenden Verständnis
der Evidenzbasierung in der Rehabilitation, da sie dazu dienen, die besten verfügbaren
Informationen zu berücksichtigen und zu nutzen, wenn Entscheidungen getroffen oder
Empfehlungen gegeben werden [33]. In diesem Sinne ist für hochwertige, evidenzorientierte Forschungsbefunde zu fordern,
dass diese (1) auf einer guten Theoriegrundlage basieren, die sowohl outcomerelevante
Einflussmerkmale als auch ggf. moderierende Situations-, Umwelt- und Personenmerkmale
berücksichtigt, (2) unter kontrollierten und natürlichen Bedingungen nachgewiesen
wirksam sind und (3) im Versorgungsalltag angemessen und zielgruppengerecht implementiert
werden können. Die Notwendigkeit der reflektierten Berücksichtigung sowohl theorie-
und methodenentwickelnder als auch -prüfender Forschungsziele bzw. -methoden ist für
solche komplexen Forschungsprozesse offensichtlich.
Das Konzept der Evidenzbasierung verlangt jedoch nicht nur die Identifikation von
wirksamen Maßnahmen, sondern fordert auch die individualisierte Urteilsfindung unter
Berücksichtigung der Präferenzen und Wünsche des Rehabilitanden (Partizipative Entscheidungsfindung
[34]). Somit kann die Auswahl evidenter Methoden von Fall zu Fall trotz identischer objektiver
Faktenlage variieren, wenn sich die Kommunikationsprozesse, die der Entscheidungsfindung
dienen, unterscheiden. Deswegen muss die Identifikation von Merkmalen der adäquaten
Gestaltung von Entscheidungsfindungsprozessen Gegenstand der Forschung sein: Wie müssen
Informationen für den Einzelfall aufbereitet und kommuniziert werden, damit eine patientengerechte
Entscheidung resultieren kann? Wie beeinflusst die Subjektivität des Behandlers und
des Rehabilitanden die Struktur, den Prozess und das Ergebnis der Entscheidungsfindung?
Zur Untersuchung dieser Fragestellungen sind individuumsorientierte, induktive Studien,
die die Subjektivität des Einzelfalls fokussieren, von wesentlicher Bedeutung [35], um ein valides Verständnis der Evidenzbasierung in der Rehabilitationspraxis gewährleisten
zu können.
Gütemerkmale einer integrativen Methodenpraxis im Rahmen eines Mixed-Methods-Ansatzes
Gütemerkmale einer integrativen Methodenpraxis im Rahmen eines Mixed-Methods-Ansatzes
Die Erfüllung und Dokumentation von Gütekriterien sind unabhängig vom Forschungsansatz
zentral, um die Aussagekraft, Verlässlichkeit und Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnisse
transparent zu machen und sicherzustellen. Im Rahmen Theorie prüfender, quantitativer
(insbes. experimenteller) Studien beziehen sich die Gütekriterien dabei eher auf „technische“
Aspekte des Forschungsprozesses (z. B. Aussagekraft bzw. interne und externe Validität
des Designs; Objektivität, Reliabilität und Validität der Merkmalserfassung; Repräsentativität
der Stichproben; Signifikanzprüfung; [7]). Für solche Studien existieren allgemein akzeptierte Standards, die bei der Projektplanung,
-durchführung und Ergebnispublikation berücksichtigt und adäquat berichtet werden
müssen (z. B. CONSORT-Kriterien für die Darstellung und (darauf aufbauend) die Bewertung
von Experimentalstudien [36]
[37]
[38]
[39].
Im Rahmen qualitativer Studien – bei denen der Forscher quasi selbst als zentrales,
aktives und interpretierendes „Erkenntnisinstrument“ fungiert – beziehen sich die
Gütekriterien v. a. darauf, Transparenz bzgl. der Datenangemessenheit und Belastbarkeit
der Dateninterpretationen zu gewährleisten. Hierbei muss jedoch angemerkt werden,
dass verschiedene Gütekriterien im Rahmen der z. T. sehr heterogenen qualitativen
Zugänge differenziert und methodenspezifisch auf ihre Anwendbarkeit hin geprüft bzw.
begründet adaptiert werden müssen [40]
[41]. Als Kernmerkmale, die potentiell zur Beurteilung qualitativer Forschung herangezogen
werden können, definiert bspw. Steinke [14]: (1) Intersubjektive Nachvollziehbarkeit, (2) Indikation des Forschungsprozesses,
(3) Empirische Verankerung, (4) Limitation, (5) Reflektierte Subjektivität, (6) Kohärenz,
(7) Argumentative Interpretationsabsicherung sowie (8) Regelgeleitetheit. Für die
qualitative gesundheitswissenschaftliche Forschung wurden ebenfalls Standards vorgeschlagen
([42]; COREQ-Kriterien [12]; RATS-Kriterien [43]). Die Angemessenheit der Festlegung allgemein verbindlicher Kriterien ist in der
Community qualitativer Forscher jedoch nicht unumstritten, da die Adaptivität, Offenheit
und Gegenstandsbezogenheit der Forschung in gewisser Weise einer Standardisierung
von Forschungsprozessen entgegensteht. Zudem ist für die einzelnen Gütekriterien nur
vage festgelegt, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit die Gütekriterien als
erfüllt gelten können. So sind z. B. Unterschiede in der Interpretation des Datenmaterials
(Forschertriangulation [8]) nicht notwendigerweise als methodische Mängel im Sinne der ‚Intersubjektiven Nachvollziehbarkeit‘
zu werten, da Interpretationsambiguitäten und -differenzen wesentliche Hinweise für
ein adäquates Verständnis des Gegenstandsbereiches liefern können. Da diese Gütekriterien
mit den traditionellen Gütekriterien insbesondere experimenteller Studien zum Teil
unvereinbar sind, resultiert hieraus oft eine grundlegende Problematik für die Akzeptanz
qualitativer Forschung in der Publikations- und Förderpraxis. Da eine Vertiefung dieser
Problematik diesen Beitrag sprengen würde, sei auf die Darstellungen bei Atteslander
[2], Daly et al. [42], Meyer et al. [40] und Stahmer et al. [41], verwiesen. Eine integrierte Methodenpraxis im Rahmen von Mixed-Methods-Ansätzen
dient dabei grundsätzlich dem Ziel, die Stärken der beiden Paradigmen zu kombinieren
bzw. Schwächen der jeweiligen Forschungsrationale wechselseitig zu kompensieren [4]
[9]
[27]
[44]
[45]. Auf welche Art und Weise eine solche Integration möglich ist, wird dabei ausführlich
diskutiert, wobei i. d. R. Sequenz- oder Phasenmodelle, in denen eine Zugangsweise
nur flankierend (in einer Teil- oder Nebenfunktionen) fungiert, als unkomplizierter
eingeschätzt werden als Modelle, in denen zwei Zugänge gleichwertig miteinander kombiniert
werden sollen [46]. Insgesamt fordern Mixed-Methods-Ansätze, dass der inhaltlichen Fragestellung ein
zentraler Stellenwert bei der Bestimmung der anzuwendenden Forschungsmethode zukommt
und dass verschiedene Zugänge gewinnbringend kombiniert werden. Hierbei ist aber zu
berücksichtigen, dass daraus nicht eine Beliebigkeit oder Intransparenz der forschungsmethodischen
Prinzipien resultieren darf, sondern dass für einzelne Forschungsschritte nach wie
vor spezifische Gütekriterien Anwendung finden müssen – auch wenn diese zwischen den
Forschungsschritten evtl. variieren. Gerade bei einem Mixed-Methods-Ansatz besteht
daher ein besonderer Anspruch darin, die Erfüllung methodische Gütekriterien trotz
Verflechtung verschiedener Forschungsrationale zu dokumentieren. Um eine paradigmenübergreifende
Denkweise in der rehabilitationswissenschaftlichen Forschungspraxis zu unterstützen,
sind in [Tab. 2] Kriterien aufgelistet, die zur Beurteilung sowohl Theorie generierender als auch
Theorie prüfender Studien herangezogen werden können. Das Phasenmodell zur Evaluation
komplexer Interventionen von Campbell [10]
[28] bietet einen interessanten Rahmen um diesem Anspruch in der rehabilitationswissenschaftlichen
Interventionsforschung Rechnung tragen zu können. Im Unterschied zu den rein paradigmenspezifischen
Standards umfasst diese Checklist sowohl übergreifende Aspekte, die für beide Herangehensweisen
gleichermaßen gelten, als auch solche, die für die Kontrastierung und Integration
theoriegenerierender und -prüfender Methoden von Bedeutung sind und für sich alleine
genommen nicht in allen Fällen Anwendung finden können. Diese Kriterien stellen eine
allgemeine Beurteilungsgrundlage für empirische Studien dar, die sowohl bei integrierter
Anwendung qualitativer und quantitativer Methoden anwendbar ist als auch die bewusste
Reflexion der Auswahl des Zugangs – ohne per se einen der beiden Zugänge aufgrund
ausgereifterer oder akzeptierterer Standards als überlegen oder wissenschaftlich gehaltvoller
zu werten – fördern soll.
Tab. 2 Beurteilungskriterien für empirische Studien, die quantitative und/oder qualitative
Methoden nutzen.
I.1 Wurde der aktuelle Forschungsstand (theoretischer Rahmen, empirische Studien)
auf Basis einer systematischen Literaturrecherche umfassend berücksichtigt?
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I.2 Dient die Fragestellung der Theorienentwicklung oder der Theorieprüfung? Erfolgt
die Wissensstrukturierung orientiert an Gütekriterien?Im Falle einer Theorieentwicklung:
Im Falle einer Theorieprüfung:
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II. Fragestellung und theoretische Rahmung
|
II.3 Ist die Fragestellung angemessen auf den theoretischen Rahmen bezogen? Im Falle einer Theoriegenerierung:
-
Fokussiert die Fragestellung bestehende Informationslücken oder Inkonsistenzen der
Theoriebasis?
-
Ist die Fragestellung ausreichend offen (schließt sie keine möglicherweise relevanten
Aspekte aus)?
-
Im Falle einer Theorieprüfung:
-
Weisen zugrundeliegende Theorien eine ausreichende Güte auf (Widerspruchsfreiheit,
Präzision, Relevanz)?
-
Lassen sich untersuchbare Hypothesen ableiten, die kritisch für die Gültigkeit der
Theorie sind?
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II.4 Ist die Fragestellung präzise formuliert und ist sie prinzipiell empirisch untersuchbar?
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II.5 Wurden alle relevanten Informationsquellen bei der Differenzierung der Fragestellung
berücksichtigt?
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II.6 Wurden fundierte Vorüberlegungen zur gewünschten Aussagekraft und zum gewünschten
Geltungsbereich der Untersuchung angestellt?
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III. Methoden
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Werden Stichprobenziehung (III.7), Erhebungsmethoden/-instrumente (III.8) und Design (III.9) bzgl. der Fragestellung und etablierter Methodenstandards begründet?Im Falle einer Theoriegenerierung:
-
Kann davon ausgegangen werden, dass durch die Personen in der Untersuchungsstichprobe
valide Informationen zum gesamten relevanten Informationsspektrum zugänglich werden?
(III.7)
-
Ermöglicht die Erhebungsmethodik (z. B. Interview, Beobachtung) die valide Erfassung
der hinsichtlich der Fragestellung relevanten Merkmale? (III.8)
-
Wird ein Design (z. B. Einzelfall-, Verlaufsstudie) gewählt, das einen unvoreingenommenen,
validen Einblick in theorierelevante Aspekte (insbes. individuelle Problemsituation)
ermöglicht? (III.9)
-
Kann aufgrund neuer Erkenntnisse die Untersuchungsanlage (Design, Stichprobenzusammensetzung,
Erhebungsmethodik) flexibel adaptiert werden (zirkulärer bzw. spiralförmiger Forschungsprozess)?
(III.9)
-
Sind mehrere Beurteiler an der Durchführung und Validierung interpretativer Schritte
beteiligt? (III.8/9)
Im Falle einer Theorieprüfung:
-
Ist die Stichprobe für die Zielpopulation repräsentativ? (III.7)
-
Wird die Stichprobengröße angemessen begründet? (III.7)
-
Erfüllen die Erhebungsinstrumente (z. B. Beobachtung, Interview, Fragebögen, Test)
psychometrische Gütekriterien (insbes. Objektivität, Reliabilität, Validität)? (III.8)
-
Sind die interne (z. B. durch experimentelle Versuchspläne oder die Identifikation
und Kontrolle potentieller Störvariablen) und die externe Validität des Designs gewährleistet?
(III.9)
-
Werden (insbes. im Falle nichtexperimenteller Designs) Nachteile des Designs transparent
gemacht? (III.9)
-
Liegt ein klar definiertes Hypothesentestungsschema zugrunde? (III.9)
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III.10 Werden die Datenanalyseverfahren bei der Begründung und Darstellung der Methodik
berücksichtigt?
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III.11 Werden die methodischen Entscheidungen hinsichtlich Vor- und Nachteilen begründet?
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IV. Datenauswertung
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IV.12 Werden die Zusammensetzung der Stichprobe und etwaige Veränderungen im Studienverlauf
dokumentiert? Werden potentielle Verzerrungen berücksichtigt?
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IV.13 Ist die Qualität und Aussagekraft der Daten empirisch plausibel und werden entsprechende
Kennwerte berichtet?
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Entsprechen die gewählte Auswertungsmethode und deren Anwendung den Kriterien des
gewählten Forschungszugangs hinsichtlich folgender Aspekte? IV.14 Transparenz der
Datenstrukturen IV.15 Transparenz und Begründung des Analyseprozesses IV.16 Ergebnisdarstellung
IV.17 Forschungsmethodische Gütekriterien Im Falle qualitativer Auswertungsmethoden:
-
Liegen Transkripte der Datengrundlage vor? (IV.14)
-
Werden die Merkmale und methodischen Schritte eines etablierten Datenanalyseverfahrens
zugrunde gelegt (z. B. Qualitative Inhaltsanalyse, Grounded Theory)? (IV.15)
-
Sind die Regeln der Datenanalyse klar erkennbar? (IV.15)
-
Erfolgt die Datenauswertung ausreichend ergebnisoffen? (IV.15)
-
Ist der Weg von den Daten zu den Analyseergebnissen in allen Schritten vollständig
nachvollziehbar? (IV.15/16)
-
Wird ein hinreichend enger Bezug zwischen Theoriekonzepten und Datenmaterial hergestellt
(z. B. Ankerbeispiele)? (IV.16)
-
Ist die Beurteilerübereinstimmung bei interpretativen Schritten zufriedenstellend
bzw. wurden eventuelle Differenzen systematisch reflektiert und zur Person des Forschenden
in Beziehung gesetzt? (IV.15/16)
-
Erlaubt das Format der Analyseergebnisse (z. B. Zitate, Kategorien, Typologien) die
Beantwortung der Forschungsfragen? (IV.16)
-
Wird explizit auf die Gütekriterien qualitativer Forschung Bezug genommen und können
diese als erfüllt gelten? (IV.17)
Im Falle quantitativer Auswertungsmethoden:
-
Erfolgt eine deskriptive Darstellung der Stichprobenmerkmale? (IV.14)
-
Wird ein expliziter Bezug von Analyseschritten und Hypothesen hergestellt? (IV.15)
-
Sind die Voraussetzungen der Analyseverfahren erfüllt? (IV.15)
-
Sind die Analyseverfahren optimal geeignet, um die Forschungsfrage(n) zu beantworten?
(IV.15)
-
Erfolgt die Anwendung der Verfahren gut begründet, transparent und ökonomisch? (IV.15)
-
Werden Informationen zur statistischen Signifikanz und empirischen Bedeutsamkeit berichtet?
(IV.16)
-
Wird Mängeln im Design bzw. dessen empirischer Umsetzung (z. B. fehlende Werte) Rechnung
getragen? (IV.16/17)
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Werden ggf. Maßnahmen zur kritischen Prüfung oder Erhöhung der internen und externen
Validität angewendet? (IV.16/17)
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V. Interpretation und Diskussion der Ergebnisse
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V.18 Werden die empirischen Befunde der Datenanalyse von weitergehenden interpretativen
Überlegungen explizit getrennt?
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V.19 Werden theoretische Annahmen oder individuelle Vorannahmen der Forscher reflektiert
und in Rechnung gestellt?
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V.20 Sind die getroffenen Schlussfolgerungen zulässig im Hinblick auf Design, Stichprobe
und Erhebungsmethode?
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V.21 Werden mögliche Alternativerklärungen ausreichend berücksichtigt sowie begründet
ausgeschlossen?
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V.22 Wird die Ergebnislage bzgl. des Theorie- und die Literaturstands hinreichend
reflektiert und diskutiert?
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V.23 Werden potentielle Einschränkungen und methodische Defizite in Bezug auf forschungsmethodische
Gütekriterien dokumentiert?
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V.24 Werden Hinweise zu relevanter Anschlussforschung gegeben?
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V.25 Wird die Ergebnislage im Sinne eines mehrphasigen Verständnisses des Forschungsprozesses
bzgl. relevanter Voraussetzungen (z. B. Ist das Theoriemodell gesättigt?) und notwendiger
Folgeschritte (z. B. Welche Annahmen bedürfen (weiterer) Prüfungen?) eingeordnet?
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In den Rehabilitationswissenschaften wird zum Teil eine zu starke Fokussierung auf
kontrollierte, standardisierte, quantitative Forschungsansätze [46]
[47] und ein Defizit an Nutzung der spezifischen Potenziale qualitativer Forschungsansätze
bemängelt [18]
[35]. Quantitative Studien dominieren die Literatur und sind auch häufiger Gegenstand
von Forschungsförderung. Eine wesentliche Ursache kann darin gesehen werden, dass
quantitative Forschung aufgrund festgelegter Gütekriterien und ausgereifterer Standards
der Dokumentation in höherem Maße eine für wissenschaftliche Diskurse notwendige Transparenz
und Kommunizierbarkeit der Forschungsprozesse gewährleistet. In diesem Beitrag wurde
dargestellt, welche Potenziale sich durch eine Integration und systematische Kombination
qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden zur Verbesserung von Theoriestandards
und zum besseren Verständnis der Versorgungspraxis eröffnen. Die präsentierte Checkliste
bietet eine paradigmenübergreifende Orientierung für eine qualitätsorientierte integrierte
Methodenpraxis: Durch eine bewusste, explizite Begründung und Kombination der Zugänge
zum Forschungsgegenstand und eine strikte Berücksichtigung von Gütekriterien kann
die Vielfalt und der Nutzen der rehabilitationswissenschaftlichen Forschungspraxis
gezielt weiterentwickelt werden.