Balint Journal 2016; 17(01): 24-25
DOI: 10.1055/s-0042-104179
Nachruf
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Nachruf: Abschied, Nachlese und Neubeginn

Obituary: Leave, Gleanings and Restart
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Publication Date:
12 April 2016 (online)

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Wir nehmen Abschied von 4 hochverdienten, langjährigen Mitgliedern der DBG, trauern mit ihren Familien und verneigen uns vor:

Frau Dr. med. Dr. phil. Adeleid Krautschik, Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapie in Mühlheim a. d. Ruhr;

Herrn Dr. med. Bern Carrière, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Lübeck;

Herrn Dr. med. Fritz Karsten, Arzt für Kinderheilkunde und Psychotherapie in Berlin

Frau Dr. med. Maria Rohde, Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalyse/Psychotherapie in Nebel bei München.

Früh traten sie der Deutschen Balintgesellschaft bei. Stark haben sie diese von ihren Anfängen bis heute mitgeprägt. Beispielhaft dafür sind ihre Beiträge im Balint Journal. Wir erinnern uns und lesen nach:

Krautschik A.: Als Ärztin zwischen Institution und Patient In: B.J. 1 (2000):14–16)

Carrière B.: Einige Fragen zur Balintgruppenleitung (oder wie viel „Regeln“ verträgt Balintarbeit“?) In: B. J. 2 (2001):116–117

Karsten F.: „Gebrochenes Licht““ Berlin, Neu Zittau, Selbstverlag 2004

Rohde M.: Forschung in Balintgruppen- Evaluierung „Page Studie“. Dieses Projekt ist unseres Wissens nicht abgeschlossen.

Frau Krautschik war von 1971–1974 in der Balintgruppe von Max B. Clyne, der seinerseits als Wiener Emigrant in England in der ersten Budapester Emigranten Gruppe M. Balints war. In ihren Gruppen saßen meist niedergelassene Ärzte, aber auch Assistenzärzte in der Weiterbildung und Studenten. Frau Krautschik versuchte, ihnen bei ihrem „Selbstbehauptungskampf“ zwischen Institutionen und Patienten beizustehen. Viele von ihnen suchten nach Nischen in theoretischen Institutionen, Medien, Industrie. Sie aber versuchte ihnen aus der Fülle ihres Lebens das nahe zu bringen, was zu einer „gelingenden Arzt- Patient Beziehung“ gehört. Ein kleines Gedicht von ihr, die auch die Poesie liebte, finden Sie – in ihrer besonderen Schrift – abgedruckt im B.J. 2001:2 S. 113:

Balintgruppe: Notfall – mit einem heute wieder oder immer noch sehr aktuellen Thema.

Herr Carrière betonte: Balintarbeit ist keine Supervision! Er beobachtete in vielen Seminaren zur Balintgruppenleitung, wie die Leiter den Prozess in der Gruppe unterbrachen. Sie folgten bestimmten Regeln zur Strukturierung der Balintgruppenarbeit, die aus der Sicht anderer Kollegen besonders für Anfänger bei dieser Arbeit hilfreich sein können. Er aber fragte: „Warum lassen Sie die Teilnehmer nicht sofort die bei dem Bericht des Referenten aufgetauchten Empfindungen, Gedanken und Phantasien äußern?“ Er wiederholte den Hinweis von A. Trenkel/ Bern auf das „Spontan- Lebendige“, das in der Balintarbeit zu erhalten und zu fördern sei. Auch die sog. „Verständnisfragen“ könnten diesen Prozess stören, wenn nicht gar unterbrechen. Es mögen doch alle Fragen und Gedanken, die während des Berichtes auftauchen, auch geäußert werden. Es gäbe kein „richtig“ oder „falsch“. Die Fragen von Carrière richteten sich ganz im Sinne von M. Balint gegen jeden Verschulungsprozess bei dieser Arbeit. Und er stellte die Frage „Hat das wirklich alles mit dem Fall zu tun?“ und wies damit immer wieder auf die Gruppendynamik hin, die sich nicht ausschließlich auf die Arzt-Patient-Beziehung zurückführen lässt.

In der von der Redaktion angeregten Diskussion zu diesem Beitrag widersprechen E. Holzbach und W. Bauer (B. J. 3 (2002): 26) diesem Ansatz und weisen darauf hin, dass insbesondere Anfängergruppen blockiert sind, wenn für Fragen kein angemessener Raum geschaffen wurde…

Wir empfehlen dem heutigen Leser, diese Beiträge und auch den von Frau Dr. Krautschik wegen ihrer Aktualität noch einmal nachzulesen.

Ganz anders hat sich Maria Rohde geäußert. Sie fühlte sich besonders der psychodynamischen analytischen Gruppentherapie Forschung verpflichtet. Sie ging in den Fragen nach der Evaluation der Balintgruppenarbeit dem Zeitgeist nach. Diesem aber zu widersprechen macht Forschung schwer und mag der Grund sein, warum sie ihre Ergebnisse, auch wenn sie nur vorläufig waren, nicht publizierte.

Wie Maria Rohde scheint auch Fritz Karsten die Einsamkeit erfahren zu haben, die daraus resultiert, dass man dazwischen liegt und keine andere Alternative hat, als sie auszuhalten. Zusammen mit seiner Frau Helga war er einer der ersten Teilnehmer, die zu dem jungen Dozenten E. R. P. bei dem großen Berliner Ärzte Kongress Mitte der siebziger Jahre in die Balintgruppe kamen. Er und seine Frau wurden gewissermaßen seine Eisbrecher. Bei dieser Nachlese möchten wir Fritz Karsten selbst das Wort geben. In seinem Buch „Gebrochenes Licht“ schreibt er über sein Leben während der Nazizeit im verdeckten Untergrund:

„Ich gehörte weder zu den Juden noch zu den Christen. Ich war so in der Mitte. Davon ist etwas bis heute geblieben. Und auch das Gefühl der Einsamkeit begleitet mich noch immer. In der ganzen Nazizeit war ich vereinsamt, ohne es (damals) richtig zu merken… Im Rückblick muss ich sagen: Ich bin in einer Beziehungsarmut aufgewachsen. Außerdem trage ich in mir ein „Urmisstrauen“, wie andere Menschen von einem „Urvertrauen“ getragen werden. Ich fühle mich streckenweise immer noch verfolgt, obwohl es doch nichts mehr zum Verfolgen gibt… Vielleicht hängt das mit der Sehnsucht nach Kontakten zusammen. Ich möchte am liebsten allen Leuten, denen ich begegne ‚Guten Tag‘ sagen. Aber so etwas gibt es nur auf dem Dorf. Wer grüßt sich schon in der Großstadt? Misstrauen und Sehnsucht nach Kontakten – ist das ein unvereinbarer Gegensatz oder ein gegensätzliches Geschwisterpaar?

Wir werden diesen lieben Kolleginnen und Kollegen durch die Balintarbeit immer dankbar verbunden bleiben.

E. R. Petzold, Kusterdingen

Heide Otten, Wienhausen

Günther Bergmann, Heidelberg