Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84(03): 133
DOI: 10.1055/s-0042-104054
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wunsch- und Wahlrecht in der Medizinischen Rehabilitation

The Right to Choose in Medical Rehabilitation in Germany
C. W. Wallesch
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Publication History

28 February 2016

29 February 2016

Publication Date:
30 March 2016 (online)

Ich bitte um Verständnis, dass ich an dieser Stelle auf eine „Verschlimmbesserung“ in der Gesundheitsgesetzgebung zur Medizinischen Rehabilitation hinweise, die für unsere Patienten potenzielle Nachteile birgt. Die medizinische Rehabilitation ist seit 2007 Pflichtleistung der Gesetzlichen Krankenkassen, die nur mit Begründung abgelehnt werden kann. Für „berechtigte Wünsche“ des Versicherten gilt ein Wunsch- und Wahlrecht. Dazu führt § 9 SGB IX aus, dass „bei der Entscheidung über die Leistungen und bei Ausführung der Leistungen zur Teilhabe (…) berechtigten Wünschen der Leistungsberechtigten entsprochen“ werden soll. Im Fall, dass Versicherte in einer anderen als der von der Krankenkasse vorgeschlagenen Einrichtung behandelt werden wollen, sind sie auf das Widerspruchsverfahren angewiesen, in dessen Rahmen in der Regel eine Prüfung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) erfolgt. Eine Zuzahlung des Versicherten war bislang nur vorgesehen, wenn er sich für eine Rehabilitationsmaßnahme in einer nicht zertifizierten Einrichtung entschied.

Der dem zugrunde liegende § 40 SGB V wurde im Rahmen des kürzlich in Kraft getretenen GKV-Versorgungsstärkungsgesetzes dahin gehend geändert, dass er das Wunsch- und Wahlrecht des Leistungsempfängers jetzt berücksichtigt und erstmals in einem Leistungsgesetz verankert. Die entsprechende Passage in § 40, Abs. 2 lautet:

„Wählt der Versicherte eine andere zertifizierte Einrichtung, so hat er die dadurch entstehenden Mehrkosten zu tragen; dies gilt nicht für solche Mehrkosten, die im Hinblick auf die Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts nach § 9 des Neunten Buches angemessen sind.“

Im Ergebnis dieser Gesetzesänderung berufen sich manche Krankenkassen, u. a. die Knappschaft, darauf, grundsätzlich eine Leistungserbringung in einer günstigen, oft wohnortfernen Einrichtung bewilligen zu können und dem Versicherten bei etwaiger Wahl einer anderen zertifizierten Einrichtung die Mehrkosten (dies können € 50,– am Tag und mehr sein) aufzubürden. Widerspruchsverfahren und Klage vor dem Sozialgericht sind weiterhin möglich, würden aber die Erbringung der indizierten Rehabilitationsleistung erheblich verzögern. Der MDK-Begutachtung stellt sich eine neue, schwierige Frage: Was ist angemessen?

Bei einem Gespräch im Bundesgesundheitsministerium (BMG) im letzten Sommer trug der Vorstand des Bundesverbands NeuroRehabilitation seine Bedenken und Befürchtungen einer Schlechterstellung der Leistungsempfänger von Maßnahmen der Medizinischen Rehabilitation in Kostenträgerschaft der Gesetzlichen Krankenkassen vor. Es sei davon auszugehen, dass jede Rehabilitationsklinik, die über einen Versorgungsvertrag mit den Gesetzlichen Krankenkassen verfügt, wirtschaftlich arbeitet. Andernfalls hätte ein Versorgungsvertrag nicht abgeschlossen werden dürfen. Unterschiede in den Tagessätzen beruhten auf regional unterschiedlichen Kostenstrukturen und unterschiedlichen Leistungsprofilen.

Das BMG will die weitere Entwicklung durch die Etablierung des Wunsch- und Wahlrechts in seiner jetzigen Form beobachten. Es sei zu erwarten, dass die sozialgerichtliche Rechtsprechung Hinweise und Regeln erarbeiten werde, die „solche Mehrkosten, die im Hinblick auf die Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts angemessen sind“ (§ 40 SGB V, Absatz 2) definieren werden. Dies wird dauern, vermutlich länger, als bis das nächste GKV-Reformgesetz verabschiedet wird.

Im Ergebnis sollten gesetzlich Krankenversicherte, die in einer anderen als der von ihrer Krankenkasse vorgeschlagenen Rehabilitationsklinik behandelt werden wollen, auch weiterhin das Widerspruchsverfahren nutzen und begründet geltend machen, dass auftretende Mehrkosten unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts angemessen sind. Dabei sind neben medizinischen auch soziale Gesichtspunkte zu berücksichtigen, z. B. die Entfernung zum Wohnort bei gebrechlichen oder kranken Angehörigen.

Ich bitte darum, Ergebnisse von einschlägigen Widerspruchsverfahren der Geschäftsstelle der Deutschen Gesellschaft für NeuroRehabilitation mitzuteilen.

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Prof. Dr. med. C.-W.Wallesch