Diabetes aktuell 2016; 14(01): 17
DOI: 10.1055/s-0042-102839
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Diabetes ohne (Aus-) Grenzen

Bernd Kalvelage
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Publication Date:
23 March 2016 (online)

Soweit – so (Allgemein-) gut. Mitten in der aktuellen Debatte zur Migrationspolitik widmet Diabetes aktuell einen Schwerpunkt dem Thema „Behandlungsbedürfnisse von Migranten und Flüchtlingen mit Diabetes“. Wie bei den Parteien in der großen Politik gibt es auch in der Diabetologie als Wissenschaft dazu keine Patentlösungen, aber viel praktische Erfahrung von engagierten Ärzt*innen und Diabetesberater*innen vor Ort und inzwischen einen Kanon erprobter Behandlungsempfehlungen, die allerdings – wie die vorbildliche Arbeit vieler Flüchtlingshelfer an den aktuellen Brennpunkten im Land – zu wenig wahrgenommen werden. Was es gar nicht gibt, m. E. auch niemals geben kann, ist d a s ultimative, strukturierte Migranten-Schulungsprogramm. Für eine herkömmliche Schulung sind die Bedürfnisse und die individuellen Voraussetzungen zu heterogen und zu unstrukturiert: mal ist es die sprachliche Verständigung bei vielen verschiedenen Ethnien, mal erlittene Traumatisierung, dann Illiteralität oder fehlende Schulbildung (s. Wesselman), die uns zwingen, kreativ und einfühlsam zu improvisieren. Dabei wird die fremde „Kultur und Religion“ als Behandlungshindernis aus unserer Erfahrung vor Ort eher überschätzt, Sensibilität und psychosoziale Kompetenz sind für eine erfolgreiche Schulung entscheidend (s. Helfrich-Brand).

Das Selbstmanagement des Diabetes benötigt oft eine Starthilfe im quasi „vorschulischen“ Bereich, um die allgemeingültigen Therapieziele auf Umwegen zu erreichen. Das Neuland der „Vorschule“ soll in diesem Schwerpunkt wieder einmal neu kartiert werden. Dazu gibt Ünal einen erfahrenen Überblick über kulturelle Unterschiede und die Voraussetzungen für eine gelingende Integration. Die Herangehensweise könnte exemplarisch sein auch für die große Politik: unbedingte Wertschätzung, Schutz vor vermeidbaren Risiken und Diskriminierung, Improvisation, Zuwendung statt Ausgrenzung, kleine Schritte mit sozialem Augenmaß, Integration durch Kommunikation und großzügige Nutzung der gesetzlichen Spielräume im Interesse der Betroffenen (s. Janßen).

Die DDG hat als einzige wissenschaftliche Fachgesellschaft seit Jahren eine Arbeitsgemeinschaft Diabetes und Migranten. Ihre wichtigste Erkenntnis: Migranten mit niedrigem sozioökonomischen Status sind – genau wie ihre deutschen Nachbarn in gleicher Lage – besonders gefährdet, Therapieziele nicht zu erreichen und häufiger vermeidbare Folgekrankheiten zu erleiden. Femers und Altuntepe zeigen am Beispiel des Gestationsdiabetes, dass dies keine schicksalhafte Unabwendbarkeit bedeutet. Der Hebel zum Behandlungserfolg muss ansetzen an der wichtigsten Ursache, am Mangel an „Erfahrung der Selbstwirksamkeit“, der in Klinik und Praxis bei den Patienten gesehen und mit ihnen zusammen ausgeglichen werden muss. Wer in prekären Verhältnissen aufwächst und sich in seinem Leben – tatsächlich oder subjektiv – meist als Opfer, als Ver- oder Getriebener der Verhältnisse und prinzipiell benachteiligt erlebt hat, kann im Krankheitsfall nicht über Nacht zum Manager seines Diabetes oder irgendeiner anderen Herausforderung werden. Alle Autoren dieses Schwerpunkts bekräftigen allerdings in ihren Artikeln und mit ihrer alltäglichen Arbeit überzeugend: „Wir schaffen das!“

„Diabetes und Soziales“ zusammen zu sehen, stellt an Ärzte und ihre Teams höhere Anforderungen als sie die gleichnamige Leitlinie der DDG (zuletzt neu 2013) formuliert. Der in der Medizin erforderliche Paradigmenwechsel, das Soziale gleichwertig neben dem Seelischen und Somatischen wahrzunehmen, kommt nicht nur Migranten zugute, nicht nur Diabetespatienten, sondern all jenen, die in der Krankenversorgung bis heute nicht die Zuwendung erfahren, die ihr hohes, schichtbedingtes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko verlangte [1]. Die notwendigen Veränderungen sind nicht nur Konsequenz eines von uns selbst ernst genommenen „sozialen Rechtsstaates“, nicht nur (ethisch betrachtet) ein Gebot medizinischer Professionalität, sondern (gesundheitspolitisch gesehen) auch eines der ökonomischen Vernunft.

Alle Menschen sind Ausländer, fast überall, und

Migration ist die menschliche Seite der Globalisierung!