Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84(02): 99-102
DOI: 10.1055/s-0042-101592
Facharztfragen
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Fragen aus der Facharztprüfung Psychotherapie und Psychotherapie

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Publication Date:
08 March 2016 (online)

Was versteht man unter dem „Othello-Syndrom“?
Antwort:

Übermächtige, wahnhafte Eifersucht.

Kommentar:

Nach der Figur „Othello“ aus Shakespeares Trauerspiel benannt. Unerschütterlicher, aber unbegründeter Glaube bzw. Überzeugung, dass der (Ehe-)Partner untreu sei. Kein eigenständiges Krankheitsbild, aber ein charakteristisches Syndrom.

Um welches Phänomen handelt es sich?:
„Dann habe ich gesehen, dass eine Zigarettenkippe auf der Treppenstufe lag. Mir war sofort klar: das bedeutet, ich werde jetzt sterben.“
Antwort:

Wahnwahrnehmung.

Kommentar:

Eine Wahnwahrnehmung ist eine aus der Umdeutung einer an sich normalen Wahrnehmung entstandene Wahnidee. Kurt Schneider hat den besonderen „zweigliedrigen“ Charakter (Wahrnehmung des Gegenstandes unbeeinträchtigt, Deutung der Wahrnehmung abnorm) der Wahnwahrnehmung herausgearbeitet und sie unter den Erstrangsymptomen aufgeführt.

Diskutieren Sie die differenzialdiagnostische Bedeutung taktiler Halluzinationen und nennen Sie typische Inhalte.
Antwort:
  • Taktile Halluzinationen kommen vor u. a. bei schizophrenen Psychosen, bei organischen, insbesondere drogeninduzierten Psychosen und beim Dermatozoenwahn.

  • Halluziniert werden Berührungen, Wärmeeinwirkungen, oft auch die Bewegungen kleiner Tiere auf oder unter der Haut.

Kommentar:

Im letzteren Fall ist eine drogeninduzierte Halluzinose (z. B. Kokain) oder ein Dermatozoenwahn in Betracht zu ziehen.

Um welches Phänomen handelt es sich?:
Ein Patient erzählt: „Am Morgen hörte ich plötzlich, wie jemand draußen rief „Es ist Krieg“. Ich wachte davon auf. Später wurde mir klar, dass es sich um Einbildung handeln musste.“
Antwort:

Hypnopompe Halluzination.

Kommentar:

Hypnagoge (beim Einschlafen) und hypnopompe (beim Erwachen) Halluzinationen können akustischen, visuellen, taktilen oder kinästhetischen Charakter haben. Sie können bei Gesunden auftreten, aber auch im Zusammenhang mit Narkolepsie, toxischen oder febrilen Zuständen.

Welche Merkmale grenzen Pseudohalluzinationen von Halluzinationen im engeren Sinne ab?
Antwort:

Pseudohalluzinationen haben den Charakter von Vorstellungen, nicht von Wahrnehmungen, und spielen im subjektiven, nicht im objektiven Raum.

Kommentar:

Gemäß der klassischen Beschreibung durch Kandinsky und Jaspers sind Pseudohalluzinationen Sinnestäuschungen von bildhaftem, vorstellungsartigem Charakter („entbehren der Leibhaftigkeit“), die sich im inneren, subjektiven Raum abspielen. Weitere Merkmale wie mangelnde Deutlichkeit, Blassheit, erhaltene Einsicht, sind weniger zuverlässig. Während Halluzinationen im engeren Sinn auf eine endogene oder organische Psychose hindeuten, ist die diagnostische Valenz von Pseudohalluzinationen weitaus geringer. Im Einzelfall kann die psychopathologische Abgrenzung aber weniger scharf sein als in den klassischen Beschreibungen postuliert.

Um welches Phänomen handelt es sich?:
Ein Patient berichtet: „Wenn ich Wolkenmuster lange genug betrachte, kann ich darin Personen erkennen.“
Antwort:

Pareidolie.

Kommentar:

Als Pareidolie bezeichnet man eine Sinnestäuschung, bei der in tatsächlich vorhandene Objekte nicht Vorhandenes hineingesehen (oder gehört) wird. Das Phänomen ist üblicherweise ohne krankhafte Bedeutung, kann aber auch durch psychomimetische Drogen ausgelöst werden oder im Prodromalstadium eines Delirs auftreten. Von Illusionen unterscheiden sich Pareidolien dadurch, dass sie nicht vom Affekt getragen sind und bei vermehrter Aufmerksamkeit nicht verschwinden.

Eine ältere Dame berichtet, vom Sessel aus regel mäßig kleine Hunde in ihrer Wohnung spielen zu sehen; sie sei durch den „Spuk“ wenig beunruhigt. Woran denken Sie, welche Detailinformationen werden Sie besonders explorieren?
Antwort:

Es könnte ein Charles-Bonnet-Syndrom sein.

  • Beeinträchtigung des Sehvermögens würde die Diagnose stützen.

  • Wichtig ist der Ausschluss hirnorganischer Veränderungen und einer sorgfältigen Medikamentenanamnese (z. B. L-Dopa-Halluzinose).

Kommentar:

Als Charles-Bonnet-Syndrom bezeichnet man visuelle Halluzinationen bei klarem Bewusstsein, die bei sonst psychisch gesunden Menschen auftreten. Häufig ist eine Sehminderung zu finden. Betroffen sind meist ältere Menschen. Eine Demenz ist mit der Diagnose nicht vereinbar.

Was versteht man unter „Coenästhesien“?
Antwort:

Coenästhesien (nach griech. koinos = allgemein) sind qualitativ abnorme Leibgefühlstörungen, die vorwiegend bei schizophrenen Psychosen Vorkommen, aber auch bei anderen Erkrankungen, z. B. im Rahmen depressiver oder hirnorganischer Störungen.

Kommentar:

Hilfreich ist die Unterscheidung Hubers in einfache, diagnostisch noch vieldeutige Missempfindungen-

  • Coenästhesien Stufe 1: qualitativ merkwürdige, bizarre Empfindungen,

  • Coenästhesien Stufe 2: „gemacht“ erlebte Leibhalluzinationen,

  • Coenästhesien Stufe 3: als Symptom ersten Ranges der Schizophrenie aufzufassen.

Wie heißt das folgende Phänomen, und was ist seine Bedeutung?:
„Ich spüre die ganze Zeit, dass jemand hinter mir herlief. Wenn ich mich bewegte, bewegte er sich auch.“
Antwort:

Leibhafte Bewusstheit.

Kommentar:

Von Halluzination und Pseudohalluzination unterscheidet sich die leibhafte Bewusstheit (Jaspers) dadurch, dass das Objekt außerhalb des eigentlichen Wahrnehmungsfeldes erlebt wird (deshalb auch fälschlich „extrakampine Halluzination“). Es handelt sich nicht um eine bloße Überzeugung, sondern subjektiv um eine Trugwahrnehmung. Ihre diagnostische Wertigkeit ist gering, häufig sind sie emotional ableitbar.

Wie kann man Hypochondrie und somatoforme Störung voneinander abgrenzen?
Antwort:
  • Kernmerkmal der Hypochondrie ist die Überzeugung, an einer ernsten Erkrankung zu leiden.

  • Kernmerkmal der somatoformen Störung sind multiple, oft wechselnde Symptome.

Kommentar:

Gemeinsam ist das Fehlen hinreichender objektiver Befunde.

Welche Wahrnehmungsveränderungen sind im Rahmen einer Manie zu erwarten?
Antwort:

Die Wahrnehmung des manischen Patienten ist gesteigert und intensiviert.

Kommentar:

Im Sinne der manischen Exaltation werden Geräusche, Farben und Gerüche intensiver wahrgenommen, alle in ihren positivsten Formen. Im Gegensatz zu schizophrenen Psychosen werden diese Wahrnehmungsveränderungen nicht als unangenehm empfunden.

Wie unterscheidet sich depressiver Affekt von gewöhnlicher Traurigkeit?
Antwort:
  • Viele an einer Depression erkrankte Patienten berichten über einen qualitativ andersartigen, „besonderen“ Charakter der Stimmungsveränderung.

  • Manchmal hat der depressive Affekt einen leibnahen, drückenden, „vitalen“ Charakter.

  • Es können auch negative wie positive Emotionen verblassen oder ganz aufgehoben sein. Man spricht dann vom „Gefühl der Gefühllosigkeit“.

Kommentar:

Vitale Traurigkeit und ein Gefühl der Gefühllosigkeit sind Indikatoren der Schwere einer Depression und Merkmale des „melancholischen“ Subtyps.

Welche weiteren Merkmale kennzeichnen den melancholischen Subtyp der Depression?
Antwort:
  • Anhedonie,

  • aufgehobene Reagibilität auf äußere Ereignisse,

  • Früherwachen,

  • Morgentief,

  • objektive psychomotorische Hemmung oder Erregung,

  • Appetit-, Gewichts- und Libidoverlust.

Kommentar:

Synonyme sind das „somatische Syndrom“, „vitale Depression“, „endomorphe Depression“. Im Vergleich zu depressiven Symptomkonstellationen ohne melancholisches Syndrom sprechen melancholische Depressionen besser auf Elektrokrampftherapie an, sie haben häufiger eine unzureichende Cortisolsuppression im Dexamethason-Hemm-Test, reduzierte REM-Latenz, und sie weisen eine stärkere Neigung zur Remanifestation auf.

Wodurch sind gemischte bipolare Episoden gekennzeichnet?
Antwort:

Sie sind gekennzeichnet durch:

  • Nebeneinander depressiver und manischer Elemente in derselben Phase, z. B. ängstlich-traurige Stimmung,

  • Antriebssteigerung,

  • rascher Wechsel von depressivem und euphorisch-expansivem Affekt,

  • rascher Wechsel zwischen Hemmung und Agitiertheit.

Kommentar:

Die Beschreibung der gemischten bipolaren Störungen („Mischzustände“) geht auf Emil Kraepelin und Wilhelm Weygandt (18 991 zurück, aber erst in den letzten Jahren finden sie wieder verstärkte Beachtung. Als besondere Verlaufsform bipolarer Störungen haben sie wichtige prognostische und therapeutische Implikationen.

Welche Merkmale charakterisieren eine „atypische“ Depression?
Antwort:

Wichtigste Merkmale:

  • erhaltene affektive Reagibilität,

  • Hypersomnie,

  • Hyperphagie sowie

  • erhöhte Kränkbarkeit (auch außerhalb akuter Phasen).

Kommentar:

Die Abgrenzbarkeit der atypischen Depression als eigene Verlaufsform ist noch nicht endgültig gesichert.

Definieren Sie den Begriff des „Stupors“.
Antwort:

Definition: Abwesenheit von Spontan- und Reaktivbewegungen einschließlich sprachlicher Äußerungen bei bewusstseinsklaren Personen.

Kommentar:

Das Fehlen einer Bewusstseinstrübung offenbart sich durch kurzzeitige Fixierung des Blickes, aktiven Widerstand gegen Bewegen, Zusammenkneifen der Augen u. ä..

Bei welchen Störungen ist ein Stupor zu beobachten?
Antwort:

Differenzialdiagnostisch kommen in Frage:

  • stuporöse Zustände im Rahmen schizophrener oder anderer Psychosen mit katatoner Symptomatik,

  • ein depressiver Stupor,

  • organische Psychosen,

  • ein psychogener Ursprung.

Was ist Kataplexie?
Antwort:

Kataplexie ist ein plötzlicher Verlust des Muskeltonus, oft ausgelöst durch Überraschung oder plötzlich auftretende Emotionen.

Kommentar:

Kataxplexie ist pathognostisch für Narkolepsie.

Was ist Echopraxie?
Antwort:

Bei Echopraxie handelt es sich um die genaue Nachahmung der Bewegungen des Untersuchers durch den Patienten.

Kommentar:

Dabei handelt es sich um eine Erscheinungsform katatonen Verhaltens, insbesondere im Rahmen einer schizophrenen Psychose. Typischerweise hält der Patient sein Verhalten auch bei gegenteiliger Instruktion durch den Untersucher aufrecht.

Was ist Echolalie?
Antwort:

Als Echolalie wird ein mechanisches Nachsprechen von Worten und Sätzen durch den Patienten bezeichnet.

Was versteht man unter „Katalepsie“?
Antwort:

Psychomotorische Starre als Teilerscheinung katatoner Syndrome.

Kommentar:

Klassische Prägnanztypen sind die wächserne Biegsamkeit (Flexiblitas cerea; die Gliedmaßen des Patienten lassen sich passiv in unterschiedliche Stellungen bringen, die dann beibehalten werden) und Haltungsverharren in unbequemen, zuweilen bizarren Positionen.

Um welches Phänomen handelt es sich?
Eine schizophrene Patientin zeigt ein eigenartiges Verhalten, das sie über lange Zeit auf gleichartige Weise wiederholt. Sie klopft immer wieder mit einem Teelöffel 2-mal kurz auf Wände und Möbelstücke, ohne dass sie erklären kann, warum.
Antwort:

Motorische Stereotypien.

Kommentar:

Stereotypien können Motorik, Sprache, Denken und Ausdruck betreffen. Wie andere katatone Symptome auch (Erregungs- und Hemmungsphänomene, Negativismen, Manirismen) sind sie bei Schizophrenien häufiger als heutzutage diagnostiziert. Sie sind aber keineswegs schizophreniespezifisch. Katatone Symptome können bei affektiven Störungen, organischen Psychosyndromen und Intelligenzminderung auftreten, aber auch bei psychogenen Störungen.

Das Münchhausen-Syndrom gilt als Sonderform einer artifiziellen Störung und auch als besondere Form der Pseudologia phantastica (Anton Delbrück 1891).
Wodurch ist es ausgezeichnet?
Antwort:

Mithilfe oft dramatisch aufgemachter, erfundener Angaben, gefälschter Identitäten und Manipulationen werden besondere Zuwendung und Aufmerksamkeit durch wiederholte Krankenhausaufnahmen erreicht.

Kommentar:

Diese spektakuläre Variante artifizieller Störungen wurde anfangs auch als „hospital addiction“ bezeichnet; gelegentlich werden derartige Verhaltensweisen auch als „Koryphäenkiller-Syndrom“ bezeichnet.

DD: Münchhausen-by-proxy-Syndrom.

Wodurch ist eine mittelgradige Intelligenzminderung gekennzeichnet?
Antwort:
  • Psychometrisch entspricht eine mittelgradige Intelligenzminderung einem IQ zwischen 35 und 49.

  • Klinisch sind Spracherwerb, statomotorische Entwicklung und Sauberkeitsentwicklung verzögert.

  • Es wird eine Sonderschule für geistig Behinderte besucht.

  • Kulturtechniken werden nur teilweise erlernt, meist ist eine einfache Konversation möglich.

  • Im Alltag wird nur teilweise Unabhängigkeit erreicht.

  • Nur einfache praktische Tätigkeiten sind ausführbar.

Kommentar:

Häufiger als bei der leichten Intelligenzminderung findet sich bei der mittelgradigen Intelligenzminderung eine spezifische organische Ursache. Bei allen Schweregraden geistiger Behinderung besteht ein höheres Risiko für psychische Störungen.

Was versteht man unter „Münchhausen-by-Proxy“?
Antwort:

Variante des Münchhausen-Syndroms, bei dem Eltern ihre Kinder mit Symptomen zum Arzt bringen, die sie vortäuschen oder ihnen selbst willkürlich beigebracht haben.

Kommentar:

Auch „Münchhausen-Syndrom der Angehörigen“. Oft werden bewusst falsche Angaben zur Anamnese gemacht, z. B. generalisierte Krampfanfälle geschildert. Entsprechende Manipulationen können z. B. in künstlicher Blutbeimengung zum Harn bestehen oder auch in der Verursachung von Symptomen durch die Verabreichung von Psychopharmaka.

Welche Stadien der Suizidalität können differenziert werden?
Antwort:

Differenziert werden können Stadien

  • der Erwägung,

  • der Ambivalenz,

  • der Planung,

  • des Entschlusses.

Woran denken Sie, wenn ein Patient sich überraschend von zuvor bestehender Suizidalität distanziert?
Antwort:

Es besteht die Möglichkeit, dass der Patient unvermittelt in das Stadium des Entschlusses eingetreten ist.

Kommentar:

Im Stadium des Entschlusses ist eine scheinbare Beruhigung eingetreten („Ruhe vor dem Sturm“), Suizidabsichten werden verneint, nur indirekte Hinweise kündigen den bevorstehenden Vollzug der Suizidhandlung an. Das Stadium des Entschlusses ist – insbesondere ohne Kenntnis des Verlaufs im Vorfeld – schwer zu diagnostizieren.