Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2016; 51(06): 372-377
DOI: 10.1055/s-0041-105156
Fachwissen
Anästhesiologie
Intensivmedizin
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Hyperoxie in Anästhesie und Intensivmedizin – Zu viel des Guten?

Hyperoxia in Anesthesia and Intensive Care Medicine – too much of a good thing?
Marc Moritz Berger
1   Universitätsklinik für Anästhesiologie, perioperative Medizin und allgemeine Intensivmedizin, Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Salzburg, Österreich
,
Franziska Macholz
1   Universitätsklinik für Anästhesiologie, perioperative Medizin und allgemeine Intensivmedizin, Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Salzburg, Österreich
,
Peter Schmidt
1   Universitätsklinik für Anästhesiologie, perioperative Medizin und allgemeine Intensivmedizin, Paracelsus Medizinische Privatuniversität, Salzburg, Österreich
,
Ragnar Huhn
2   Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Düsseldorf
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Publication Date:
30 June 2016 (online)

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Zusammenfassung

Über Jahrzehnte gehörte Sauerstoff zur Standardtherapie zahlreicher akuter Krankheitsbilder, wie z.B. des akuten Myokardinfarkts. Im Bereich der perioperativen Medizin wird die Routine-Gabe hoher Sauerstoffkonzentrationen (>80%) u. a. zur Reduktion chirurgischer Wundinfektionen propagiert. Sauerstoff führt jedoch zum Anstieg des systemvaskulären Widerstands, zur Reduktion der Herzfrequenz sowie des kardialen Schlagvolumens und somit zur Reduktion der mikrovaskulären Perfusion, z.B. in den Koronar- und Hirngefäßen. Ergebnisse aus prospektiven, randomisierten und verblindeten Studien zu den Outcome-Effekten einer Hyperoxie in den Bereichen der Anästhesie und Intensivmedizin sind kaum vorhanden. Insbesondere jüngere Daten weisen jedoch darauf hin, dass Hyperoxie zur Erhöhung der perioperativen und intensivmedizinischen Morbidität und Mortalität führen könnte. Auch in den Leitlinien des European Resuscitation Councils von 2015 wird die Gabe von Sauerstoff bei verschiedenen Krankheitsbildern kritisch bewertet. Der vorliegende Artikel soll eine orientierende Übersicht zu den physiologischen und klinischen Effekten einer Hyperoxie geben und ihre Anwendung im perioperativen Bereich sowie in der Intensivmedizin beleuchten.

Abstract

For decades the administration of oxygen has been a corner stone in the treatment of various medical emergencies, e.g. acute myocardial infarction. Several arguments support the perioperative use of high oxygen concentrations (>80%) for the prevention of surgical site infections. However, effects of oxygen include an increase in systemic vascular resistance, a reduction in heart rate and stroke volume and thus an impairment of the microcirculation, e.g. in the coronary and cerebral vasculature. Adequately powered, prospective, randomized, blinded outcome studies on the effects of hyperoxia in anesthesia and intensive care medicine are scarce. Recent data suggest that hyperoxia may be more harmful than beneficial and may increase morbidity and mortality in surgical and intensive care patients. Also, the current guidelines from the European Resuscitation Council from 2015 address the potentially harmful effects of high oxygen concentrations in various emergency settings. The aim of this article is to give an overview about the physiological and clinical effects of hyperoxia with a focus on its use in perioperative and intensive care medicine.

Kernaussagen

  • Die gesamte Evolution des Menschen unterliegt einer O2-Konzentration von etwa 21 %. Einer Hyperoxie wird der Mensch v. a. im Bereich der Medizin ausgesetzt und dort insbesondere im Bereich der Anästhesie sowie der Intensiv- und Notfallmedizin.

  • Hohe O2-Konzentrationen begünstigen die Bildung reaktiver O2-Spezies und somit deren inflammatorische, pro-apoptotische und kardiovaskuläre Effekte.

  • Eine Hyperoxie reduziert die Herzfrequenz sowie das kardiale Schlagvolumen und führt zur Erhöhung des systemischen Gefäßwiderstands. Es resultiert ein vermindertes Herzzeitvolumen.

  • Bedingt durch die kardiovaskulären Effekte kann eine Hyperoxie paradoxerweise die Gewebeoxygenierung beeinträchtigen.

  • Ein Vorteil hoher O2-Konzentrationen zur Reduktion chirurgischer Wundinfektionen konnte bisher nicht klar gezeigt werden.

  • Die aktuellen Leitlinien des ERC weisen darauf hin, dass Patienten mit vermutetem akuten Koronarsyndrom (ACS) keinen zusätzlichen O2 benötigen, sofern sie nicht Zeichen der Hypoxie, Atemnot oder Herzinsuffizienz aufweisen.

  • Die aktuellen Leitlinien des ERC empfehlen, im Rahmen der Reanimation und bei Vorliegen einer zuverlässigen O2-Sättigungsmessung die inspiratorische O2-Konzentration so zu titrieren, dass eine O2-Sättigung von 94–98 % erreicht wird. Eine Hyperoxie scheint mit nachteiligen Effekten assoziiert zu sein.

  • Bei Patienten mit ischämischen Hirnschädigungen lässt sich für die Anwendung einer hohen FiO2 kein Vorteil ableiten.

  • O2 ist ein Medikament, das zur Prävention oder Therapie einer Hypoxie eingesetzt wird. Eine unlimitierte Gabe ist kritisch zu bewerten.

  • Zahlreiche Daten zu den Effekten einer Hyperoxie in der Anästhesie und Intensivmedizin stammen aus retrospektiven Analysen bzw. inhomogenen Patientenkollektiven. Weitere klinische Studien mit ausreichender Power und gutem Design sind dringend notwendig.