Zusammenfassung
Einer der am meisten verbreiteten Irrtümer in der Hämostaseologie ist die Vorstellung,
daß das Blut zuerst stillstehen müsse, um dann gerinnen zu können. Ausgehend von der
seit genau einem Jahrhundert (nämlich seit Eberth und Schimmelbusch, 1888 [20]) experimentell
gesicherten Tatsache, daß Blut zwar im Stillstand gerinnen kann, sich aber Thromben
in vivo ausschließlich bei erhaltener, wenngleich gestörter Strömung bilden können,
wird eine umfassende Theorie der Wechselwirkung zwischen Strömung und dem Ablauf thrombotischer
Prozesse entwickelt. Die Theorie basiert auf einer detaillierten Analyse der biophysikalischen
Grundlagen der physiologischen »Fließfähigkeit« des Blutes, der rheologischen Analyse
all der Vorgänge, die die Fließfähigkeit einschränken, sowie der Interpretation der
kinematischen, dynamischen und hämorrheologischen Wirkungen, die vom Vorgang der »Scherdeformation«
des Blutes ausgehen können. Erst die klare Trennung unterschiedlicher »Strömungseffekte«
läßt dann verstehen, wie verschiedene, im Körper vorkommende Strömungsanomalien wirken,
die sich allesamt an »nichtzylindrischen« Gefäßabschnitten in Form von »Sekundärströmungen«
manifestieren und bei denen es sich um laminare Wirbel handelt. Kennt man die Voraussetzungen
für die Bildung geschlossener laminarer Wirbel, lassen sich die biochemischen Folgen
(die sich aus ihrer Funktion als »Strömungsreaktoren« für enzymati-sche und zytologische
Reaktionen erklären) leicht vorhersagen. Somit läßt sich eine einheitliche Theorie
für alle »natürlichen« hämostatischen Reaktionen ebenso wie für die »pathologischen«
Formen der Thrombose in vivo und in künstlichen Organen entwik-keln. Sie greift die
Grundgedanken auf, die Virchow (94) bei der Postulierung der Kooperativität zwischen
»Wandschäden«, »Hyperkoagulabilität« und »gestörter Strömung« bei thrombotischen Vorgängen
formuliert hat, erweitert sie jedoch im Lichte zeitgenössischer enzymologischer, zy-tologischer
und fluiddynamischer Einsichten zu einer Theorie über streng lokalisierbare hämostaseologische
Wechselwirkungen. Diese Vorgänge sind biologisch auf kurzfristige, unspezifische »Reparaturaufgaben«
für Gefäßdefekte programmiert, können jedoch bei langfristiger, repetitiver Aktivität
zu (atherogenen) Gefäßläsionen Anlaß geben.