Methods Inf Med 1963; 2(02): 52-58
DOI: 10.1055/s-0038-1636324
Original Article
Schattauer GmbH

Zur Ätiologie des Dysmelie-Syndroms[*]

COMMENTS ON THE AETIOLOGY OF THE DYSMELIA SYNDROME
G. Sievers
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Eingegangen am: 15 November 1962

Publication Date:
19 February 2018 (online)

In klinisch-statistischen Untersuchungen über den Schwangerschaftsverlauf von nahezu 8 000 Frauen wird die Frage: ,,Thalidomid und Mißbildungen” untersucht. Das Material setzt sich aus 3 800 retrospektiven Anamnesen — in einer repräsentativen Zufallsauswahl gewonnen — und aus 4000 ante partum-Befragungen — in 20 Frauenkliniken bzw. Entbindungsanstalten auf dem Kreißsaal durchgeführt — zusammen. Außerdem wird über die summarischen Angaben von 240 geburtshilflichen Kliniken aus einem Zeitraum von 1½ Jahren berichtet. Die Ergebnisse gestatten folgende Aussagen: Bei den Müttern dysmeler Kinder findet sich häufiger als im Mittel zu erwarten ein vorwiegend gelegentlicher Schlafmittelkonsum. Dabei wurde Conter-gan häufiger registriert als aufgrund seines allgemeinen Verbreitungsgrades zu erwarten war.

Die Untersuchungen bestätigen frühere Befunde, wonach über 40 % der Mütter dysmeler Kinder eine Thalidomid-freie Anamnese aufweisen. Regionalen und zeitlichen Schwankungen in der Häufigkeit der Extremitätenmißbildungen gehen keine entsprechenden Unterschiede des Tha-lidomidverbrauches parallel.

Bei der Beurteilung der Schlafmittelanamnesen von Müttern dysmeler Kinder ist zu berücksichtigen, daß retrospektiv nur 5,2 % bei der ante partum-Untersuchung nur 6,5% aller Frauen eine gelegentliche oder regelmäßige Schlafmitteleinnahme angaben. In Westberlin beträgt der Anteil dieser Frauen 26 %, ohne daß sich dies in einer höheren Mißbildungsfrequenz äußern würde.

Analysiert man den Zeitpunkt der Thalidomid-Einnahme von Müttern dysmeler Kinder und solchen gesunder Kinder sowie die Arzneimittelanamnese von Müttern dysmeler Kinder, die mit Sicherheit kein Contergan eingenommen haben, dann tritt der von anderer Seite festgestellte Zusammenhang zwischen dem Termin der Thalidomid-Einnahme und dem Mißbildungstyp nicht in Erscheinung, dagegen legt diese Darstellung den Gedanken an weitere Momente, die an der Genese des Dysmelie-Syndroms beteiligt sind, nahe.

Aufgrund der summarischen Erhebung wird die Gesamtsumme aller von 1960 bis 1. 7. 1962 geborenen Dysmelien auf 2 450 geschätzt.

Ein Jahr intensivster wissenschaftlicher Aktivität hat bis jetzt lediglich erbracht, daß Thalidomid derjenige der erforschten Faktoren ist, der in den interessierenden Anamnesen am häufigsten registriert wurde. Inwieweit daraus ein direkter oder indirekter Kausalzusammenhang herzuleiten ist, kann beim gegenwärtigen Stand des Wissens noch nicht beurteilt werden.

In an effort to throw light on the problem of “thalidomide and malformations” the course of pregnancy was clinically and statistically evaluated almost 8,000 women. The material consists of 3,800 retrospective case histories obtained by representative random selecHon and 4,000 ante parturn interrogations in 20 gynaecological clinics and labour rooms of maternity hospitals. Areport is also given on summarised data received from 240 obstetric clinics covering aperiod of 18 months. On the basis of these results it may be said, that more mothers of dysmelic children took hypnotics than was to have been expected, the consumption being mainly sporadic. Contergan was found more frequently than might have been anticipated on the basis of its general distribution.

The investigations confirm earlier findings, according to which more than 40 % ,of the mothers of dysmelic children had no record of thalidomide ingestion. No parallel was found between regional and chronological fluctuations in the incidence of the extremital malformations and variations in the consumption of thalidomide.

In interpreting the sleeping drug anamneses of mothers of dysmelic children it should be borne in mind that occasional or regular taking of soporifics was indicated by only 5.2 % of all women in the retrospective and 6.5 % in the ante parturn enquiries. In West Berlin the proportion of such women was 26 %, but there was no corresponding increase in the incidence of malformations. After analyses of the time of thalidomide ingestion by mothers of dysmelic children and mothers of normal children and analyses of the drug anamneses of mothers of dysmelic children who had definitely taken no contergan, no association between the time of thalidomide ingestion and the type of malformation, such as has been determined by other authors, is evident. On the contrary, this inquiry suggests that other factors also playapart in the genesis of the dysmelia syndrome.

On the basis of the summarised findings the total number of dysmelies born between 1960 and 1st July 1962 is estimated at 2,450.

One year of the most intensive scientific activity has so far merely shown that of the factors investigated, thalidomide is that Wilicll was found most often in the relevant case histories. To what extent a direct or indirect causal association may be deduced can not yet be said in the light of our present knowledge.

* Vortrag auf der 7. Jahrestagung des ,,Arbeitsausschuß Medizin” in der Deutschen Gesellschaft für Dokumentation, Mainz, 22.-24. Oktober 1962.


 
  • Literaturverzeichnis

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