Deutsche Zeitschrift für Onkologie 2016; 48(04): 174-177
DOI: 10.1055/s-0036-1597182
Praxis
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Brustkrebs: Trauma-Symptome im Blick behalten

Die Angst, schon vor dem Tod das Leben zu verlieren
Kerstin Hermelink
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Publication Date:
19 January 2017 (online)

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Unsere Gesprächspartnerin: Dr. rer. biol. hum. Kerstin Hermelink, Dipl.-Psych.

Studium der Psychologie an der LMU München; 2006 Promotion zum Thema Chemobrain; seit 2011 Leitung des Projekts Cogni-cares; seit 2013 Leitende Psychologin der Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der LMU München.

DZO: In einer aktuellen Studie haben Sie zeigen können, dass die Diagnose Brustkrebs im Sinne einer Belastungsreaktion kognitive Beeinträchtigungen auslösen kann. Vielleicht können Sie die Ergebnisse kurz schildern. Was war das Besondere an dieser sogenannten Cognicares-Studie?

Dr. Hermelink:

Nach einer Erkrankung an Brustkrebs sind in einer langen Reihe von Studien Beeinträchtigungen kognitiver Funktionen wie Gedächtnis und Konzentration beobachtet worden. Viele Patientinnen bemerken solche Beeinträchtigungen bei sich selbst und sind deshalb sehr besorgt. Bis vor einigen Jahren hat man angenommen, dass diese Probleme durch neurotoxische Wirkungen einer Chemotherapie verursacht werden. Mittlerweile ist aber klar, dass diese Erklärung nicht richtig sein kann: Auch Patientinnen, die gar keine Chemotherapie hatten, zeigen solche Beeinträchtigungen; sie treten sogar schon vor jeder Art von Behandlung auf.

In der Cognicares-Studie haben wir untersucht, ob eine krankheitsbedingte psychische Belastung, die sich durch Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung äußert, die Ursache der kognitiven Störungen ist. Cognicares steht für „Cognition in Breast Cancer Patients: The Impact of Cancer-related Stress“. Bisher galt, dass psychische Belastung zwar subjektiv empfundene kognitive Probleme verstärkt, aber nichts mit objektiv messbaren kognitiven Leistungen zu tun hat. Allerdings wurde psychische Belastung meist nur mit Screening-Instrumenten für Angst und Depression oder – selten – für posttraumatischen Stress erfasst, aber eine klinische Diagnostik psychischer Symptomatik fand nicht statt. Das haben wir in der Cognicares-Studie anders gemacht: Symptome einer akuten oder posttraumatischen Belastungsstörung wurden von Psychologinnen mittels eines validierten, auf DSM-IV-Kriterien basierten klinischen Interviews diagnostiziert.

Noch dazu haben wir sehr darauf geachtet, Verzerrungen zu vermeiden, die durch die Auswahl von Teilnehmerinnen der Patientinnen- und der Kontrollgruppe auftreten: In Studien dieser Art ist die Schwelle zur Teilnahme für Patientinnen oft viel niedriger, weil sie von ihren Ärzten direkt angesprochen werden. Teilnehmerinnen der Kontrollgruppe müssen sich dagegen selbst melden. Wer das tut, z.B. auf einen Aushang in der Klinik hin, ist wahrscheinlich auch besonders motiviert und interessiert – man vergleicht dann Äpfel mit Birnen. Auch manche anderen Rekrutierungs-techniken führen leicht dazu, dass die ge-sunde Vergleichsgruppe sich von der Patien-tinnengruppe systematisch unterscheidet. Wir haben einen recht großen Aufwand getrieben, um so etwas zu vermeiden.

Vermutlich deshalb haben wir anders als viele andere Studien nach der Diagnose nur minimale Unterschiede kognitiver Funktionen zwischen Patientinnen und gesunden Teilnehmerinnen gefunden – trotz umfangreicher neuropsychologischer Diagnostik. Diese wenigen Auffälligkeiten bei den Patientinnen hingen deutlich mit krankheitsbedingter posttraumatischer Symptomatik zusammen.

Wir haben die Patientinnen ein halbes und ein volles Jahr nach der Diagnose nochmals untersucht. Diese Daten sind noch nicht veröffentlicht, aber ich kann schon sagen, dass sich das Bild auch nach Abschluss der Primärtherapie nicht wesentlich verändert hat. Die Cognicares-Studie ist zudem eine der größten Studien, die es auf diesem Gebiet gibt.

DZO: Können Sie etwas darüber sagen, warum eine posttraumatische Belastungsreaktion auftritt?

Dr. Hermelink:

Die Begriffe „Trauma“ und „traumatisch“ werden in der Alltagssprache für praktisch alle Arten von belastenden Ereignissen und ihre Folgen ziemlich inflationär verwendet. Im engeren Sinne – in psychologischer Fachsprache – ist ein traumatischer Stressor aber ein Ereignis, bei dem der Betroffene fürchtet, zu sterben oder körperlich schwer geschädigt zu werden, oder miterlebt, wie das jemand anderem passiert. Auch der plötzliche oder gewaltsame Tod oder eine schwere Verletzung eines nahe stehenden Menschen gelten als traumatischer Stressor. Solche Ereignisse können die Bewältigungsmöglichkeiten der Betroffenen massiv überfordern; dann kommt es zu einer akuten oder – bei länger andauernden Symptomen – zu einer posttraumatischen Belastungsstörung. Nicht jeder, der ein solches Ereignis erlebt, entwickelt aber Symptome einer Belastungsstörung.

Im DSM-IV wurde die Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung erstmals explizit als traumatisches Ereignis aufgeführt. Das wurde im 2013 erschiene-nen DSM-V wieder zurückgenommen; im medizinischen Bereich gelten jetzt nur noch plötzliche katastrophale Ereignisse wie beispielsweise ein anaphylaktischer Schock als traumatische Stressoren. Wir haben noch nach DSM-IV-Kriterien diagnostiziert und bei den Studienteilnehmerinnen eine niedrige Rate von voll ausgeprägten Belastungsstörungen aufgrund der Krebserkrankung gefunden – am höchsten war sie mit knapp 4% vor Behandlungsbeginn –, aber posttraumatische Symptome fanden wir nach der Diagnose bei über 80% und ein Jahr später immer noch bei weit über der Hälfte der Patientinnen.

DZO: Gab es Patientinnengruppen, die vor diesen Belastungssymptomen besser geschützt waren?

Dr. Hermelink:

Es gab erstaunlich wenige Effekte sozio-demografischer Merkmale. Wir konnten weder nachweisen, dass jüngeres Alter ein Risikofaktor ist, noch erschienen allein lebende Frauen oder Mütter minderjähriger Kinder besonders gefährdet – letzteres haben wir in einer Doktorarbeit eingehend untersucht. Auch ein höheres Tumorstadium, eine Mastektomie oder eine Chemotherapie schienen nicht zu einer stärkeren posttraumatischen Belastung zu führen. Nur höhere Bildung hatte einen nachweisbaren Effekt: Akademikerinnen litten zwar zunächst ebenso stark unter Belastungssymptomen wie alle anderen Frauen, erholten sich aber deutlich besser davon als weniger gebildete Patientinnen.

Offenbar trifft also die Diagnose Brustkrebs ganz unterschiedliche Patientinnen zunächst einmal gleichermaßen hart. Dann haben aber höher gebildete Patientinnen bessere Ressourcen, diesen Schlag abzufedern – sie sind resilienter.

Frühere Studien haben gezeigt, dass eine vorangegangene Traumatisierung ein Risikofaktor für das erneute Auftreten einer Belastungsstörung ist. Diesen Effekt haben wir zwar auch in unserer Studie gesehen, konnten ihn aber nicht statistisch nachweisen, da nur eine sehr kleine Gruppe unserer Teilnehmerinnen zu einem früheren Zeitpunkt im Leben eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt hatte – zu wenige, um selbst einen großen Effekt statistisch signifikant werden zu lassen.

DZO: Gibt es Studien darüber, die zeigen, inwieweit die Stärke oder Dauer dieser Reaktion mit der weiteren Prognose korreliert?

Dr. Hermelink:

Soviel ich weiß, gibt es solche Studien nicht. Bisher wurden vor allem die Folgen von Depressivität für das Überleben nach einer Krebserkrankung untersucht.

DZO: Was kann vorbeugend dagegen getan werden, damit Brustkrebspatientinnen erst gar nicht solche Beschwerden entwickeln? Gibt es entsprechende Angebote, die von den Krankenkassen erstattet werden?

Dr. Hermelink:

Das gesamte Behandlungsteam, buchstäblich jeder und jede, ist gefragt, wenn es darum geht, die psychische Belastung von Patientinnen so gering wie möglich zu halten und die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung oder einer anderen psychischen Störung zu vermeiden. Schon „Basics“ wie Freundlichkeit, Zuverlässigkeit, eine ermutigende Haltung und Respekt sind absolut nicht banal, sondern wirken sich stark auf das Befinden der Patientinnen aus. Respekt zeigt sich beispielsweise auch darin, dass man nicht durch vermeidbare Wartezeiten die Zeit der Patientin verschwendet, was viele Patientinnen nicht nur als ärgerlich, sondern als entwertend und kränkend empfinden. So etwas trifft Patientinnen sehr und ist immer wieder Thema in den Gesprächen, die ich führe. Menschen, die durch die Diagnose einer Krebserkrankung sehr verunsichert sind und sich vom Behandlungsteam abhängig fühlen, legen verständlicherweise jedes Wort und jedes Verhalten auf die Goldwaage.

Eine besondere Rolle bei der Prävention von psychischen Störungen infolge einer Krebserkrankung kommt aber natürlich der Psychoonkologie zu, deren Wirksamkeit mittlerweile gut nachgewiesen ist, insbesondere in einer Übersichtsarbeit und Metaanalyse deutscher Wissenschaftler um Herrmann Faller, die im Journal of Clinical Oncology (2013; 31: 782–793) veröffentlicht worden ist.

Mit der Finanzierung durch die Krankenkassen sprechen Sie einen heiklen Punkt an. In Akutkliniken, in denen präventive psychoonkologische Versorgung einen wichtigen Platz hat, können psychoonkologische Leistungen nicht gesondert abgerechnet werden, sondern sind in den Fallpauschalen inbegriffen. Psychoonkologen verursachen also Kosten, ohne aber Geld einzubringen. Solange das so ist, besteht in Akutkliniken sicher die Tendenz, nicht mehr psychoonkologische Versorgung anzubieten als unbedingt erforderlich, um z.B. die Kriterien für eine Zertifizierung als Organzentrum zu erfüllen. Für Patientinnen und – überlastete – Psychoonkologinnen ist das ungünstig.

DZO: Welche konkreten Hilfestellungen bietet das psychoonkologische Team Patientinnen in der Frauenklinik des Klinikums der Universität München an?

Dr. Hermelink:

Die Patientinnen können schon vor Behandlungsbeginn, in allen Phasen der Behandlung und auch jederzeit danach Einzelgespräche in Anspruch nehmen. Angehörige und andere der Patientin nahestehende Menschen können selbstverständlich mit einbezogen werden oder sich auch selbst an uns wenden.

Das, was wir tun, möchte ich hier nur kurz zusammenfassen: Meist geht es zunächst einmal um geduldige Hilfe zum Verständnis all dessen, was auf die Patientin einstürmt und oft als überwältigend erlebt wird. Das schafft Orientierung, vermindert Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht und nimmt dem Geschehen einen Teil seines Schreckens. Weiterhin erkunden wir mit den Patientinnen ihre individuellen Ressourcen, die ihr bei der Bewältigung der Situation helfen – was gibt ihr Kraft, macht ihr Freude und sollte in ihrem Leben vielleicht mehr Raum bekommen? Umgekehrt gibt es vielleicht Umstände, aber auch Denk- und Verhaltensweisen, die der Patientin nicht guttun – jetzt, angesichts der Krebserkrankung, ist es vielleicht besonders dringend, sich darüber klar zu werden und Änderungen herbeizuführen. Wir versuchen, die Patientinnen zu ermutigen, ihr Leben auch mit einer Krebserkrankung gut zu gestalten, und ihnen die Zuversicht zu vermitteln, dass sie das können, selbst wenn es vielleicht viele ernste Verluste zu betrauern gibt. Eine Krebserkrankung erfordert immer große Anpassungsleistungen – wir versuchen, mit jeder Patientin in jeder Situation ihren individuellen Weg der Bewältigung zu finden und sie darauf zu begleiten und zu bestärken, soweit es nötig ist.

Bei Bedarf vermitteln wir Patientinnen weiter in niedergelassene Psychotherapie, zu Angeboten der Selbsthilfe, der Krebsberatungsstellen und anderer Einrichtungen wie zum Beispiel in die Familiensprechstunde, die der Verein Lebensmut e.V. im Klinikum der Universität München glück-licherweise anbietet.

DZO: Was raten Sie ärztlichen Kollegen, worauf bei der Mitteilung einer schwerwiegenden Diagnose und im weiteren Verlauf der Betreuung geachtet werden sollte?

Dr. Hermelink:

Patientinnen möchten realistisch informiert werden, aber sie möchten gleichzeitig Hoffnung vermittelt bekommen. Das hat beispielsweise eine große britische Studie von Brown und Kollegen gezeigt, die online 2010 im European Journal of Cancer Care (Print: 2011; 20: 56–61) erschienen ist. Beides gut hinzubekommen, vor allem wenn eine Erkrankung nicht mehr geheilt werden kann, ist sicher eine Kunst. Es wird nicht einfacher dadurch, dass Patientinnen unterschiedlich sind, schon was das Bedürfnis nach Information betrifft. Während es der einen Patientin hilft, über Details und Hintergründe ihrer Erkrankung viel zu erfahren, sind diese Informationen für eine andere unverdaulich oder zusätzlich belastend. Es hilft, mit der Patientin darüber zu sprechen, wie detailliert sie aufgeklärt werden möchte. Noch schwieriger ist es sicher, den Patientinnen Hoffnung zu vermitteln, selbst dann, wenn es keine realistische Hoffnung auf ein längeres Überleben mehr gibt.

Patientinnen fürchten aber nicht nur, bald sterben zu müssen. So furchtbar das sein kann, sind andere Ängste oft noch be-drückender: Ängste vor Siechtum und Schmerzen sowie vielfältige Befürchtungen, schon vor dem Tod „das Leben zu verlieren“. Es geht um Ängste, nicht mehr dazuzugehören, nicht mehr wichtig zu sein, aus vielen gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhängen herauszufallen, Gestaltungsmöglichkeiten für das eigene Leben ebenso zu verlieren wie einen großen Teil der eigenen Identität – und die Angst davor, auf die Rolle der bedauernswerten Krebskranken reduziert zu werden. Hier gibt es viel Raum für Hoffnung. Ärzte können einer Patientin vermitteln, wie wichtig sie unter allen Umständen ist, dass sie als Persönlichkeit wahrgenommen wird und dass alle Entscheidungen, die sie betreffen, letztendlich bei ihr liegen – selbst wenn sie sich dafür entscheiden sollte, den Arzt allein über die Behandlung bestimmen zu lassen. Ärzte können Patientinnen ermutigen, der Krebskrankheit nicht mehr Raum zu geben als unbedingt notwendig und soweit wie möglich unter erschwerten Umständen ihr Leben aktiv und selbstbestimmt weiterzuführen. Dank der Möglichkeiten der Palliativmedizin kann man Patientinnen eine wirksame Behandlung von Schmerzen und anderen Symptomen zusagen.

Empfehlungen zu „breaking bad news“ und allgemein zur Kommunikation mit schwerkranken Patienten sind in Schemata wie SPIKES und NURSE kurz und bündig zusammengefasst und es werden Seminare angeboten, in denen Ärzte diese Techniken lernen und trainieren können, was ganz bestimmt sehr sinnvoll ist. Gute Technik allein ist aber noch nicht optimal, sondern wichtig ist darüber hinaus eine verbindliche, von Akzeptanz und Wärme geprägte Beziehung zur Patientin. Die wichtigste „Technik“ dazu ist sicherlich das Zuhören, und zwar nicht unbedingt endlos langes, dafür aber aufrichtig interessiertes Zuhören! Für Patienten ist die Eigenschaft, gut zuzuhören, das wichtigste Merkmal eines guten Arztes – das hat eine Studie von Jagosh and Kollegen festgestellt, die 2011 in Patient Education and Counseling (2011; 85: 369–74) publiziert wurde.

Wenn es gelingt, eine vertrauensvolle Beziehung zu schaffen, ist das für die Patientin eine sehr wertvolle Ressource, wie ich immer wieder erlebe. Ich habe den Eindruck, dass Ärzte manchmal gar nicht wissen, wie wichtig sie über Diagnostik und Therapie hinaus für Patientinnen sind.

DZO: Welchen Stellenwert messen Sie Entspannungsverfahren, wie z.B. Autogenem Training, Achtsamkeitsmeditationen und Entspannungstechniken (Yoga, QiGong) in der Krankheitsbewältigung bei?

Dr. Hermelink:

All das kann sehr hilfreich sein und eine Patientin auf einer anderen Ebene ansprechen, als es in Gesprächen möglich ist. Unproblematisch sind diese Verfahren aber nicht. Bei Entspannungsübungen kann es für eine Patientin frustrierend sein, wenn sie bestimmte Empfindungen nicht erzeugen kann, vielleicht aufgrund krankheitsbedingter neurologischer Probleme oder aufgrund von Schmerzen. Bei Achtsamkeitsübungen besteht meiner Erfahrung nach weniger die Gefahr, dass die Patientin sich unter Druck gesetzt fühlt. Auch mit Imaginationsübungen sollte man vorsichtig umgehen: Wenn eine Patientin etwa bei der „Reise zum sicheren Ort“ feststellt, dass sie sich einen sicheren Ort nicht einmal vorstellen kann, ist das nicht hilfreich. Man sollte gut überlegen, welche Übung für eine Patientin passt. Außerdem: Nicht jeder Patientin – und nicht jeder Psychoonkologin – liegen solche Verfahren.

DZO: Welche Herausforderungen erwarten Sie aus Ihren Forschungsergebnissen für die Zukunft?

Dr. Hermelink:

Zunächst einmal: Die Studien zu kognitiven Störungen bei Brustkrebspatientinnen müssen einfach besser werden, die vielfältigen methodische Probleme – von der Rekrutierung der Teilnehmerinnen bis hin zur den statistischen Analysen – müssen besser gelöst werden. Es gibt unglaublich viele Fehlerquellen und selbst kleine Variationen in der Methodik können zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führen! Nur mit sehr viel Sorgfalt können Verzerrungen durch Methodenartefakte vermieden werden.

Dann hat sich die Forschung zu diesem Thema lange auf toxische Effekte der Chemotherapie konzentriert. Als sich herausgestellt hat, dass es andere Ursachen geben muss, da die Störungen ja auch ohne Chemotherapie auftreten, sind als Nächstes Nebenwirkungen der endokrinen Therapie in den Focus gerückt. Aber auch damit lassen sich die Beeinträchtigungen kognitiver Funktionen schon vor Beginn einer systemischen Therapie natürlich nicht erklären – deshalb wurde eine gemeinsame genetisch bedingte Vulnerabilität sowohl für Krebserkrankungen als auch für kognitive Störungen postuliert. Das finde ich, ehrlich gesagt, ziemlich abenteuerlich.

Psychische Ursachen sind bisher stiefmütterlich behandelt und nur sehr oberflächlich untersucht worden, und das, obwohl insbesondere eine Brustkrebserkrankung häufig mit einer psychischen Störung einhergeht und Beeinträchtigungen kognitiver Funktionen unspezifische Symptome vieler psychischer Störungen sind, darunter Major Depression, Dysthymie, Generalisierte Angststörung, Akute und Posttraumatische Belastungsstörung. Ich denke, eine sorgfältige Untersuchung der Zusammenhänge nicht nur von posttraumatischer, sondern auch anderer psychischer Symptomatik einerseits und Beeinträchtigungen kognitiver Funktionen bei Krebspatientinnen andererseits ist wirklich überfällig und würde die Forschung zum sogenannten „Chemobrain“ möglicherweise aus einer Sackgasse führen. Das ist aber natürlich aufwendig. Die Erfassung psychischer Symptome mittels Selbstbericht ist zu anfällig für Verzerrungen beispielsweise durch persönliche Antwortstile und allgemeine Neigungen der Patientinnen, eher zu klagen oder eher die Zähne zusammenzubeißen.

DZO: Frau Dr. Hermelink, zum Schluss noch eine persönliche Frage: Was tun Sie für sich, um gesund zu bleiben?

Dr. Hermelink:

Als Psychoonkologin arbeite ich mit Patientinnen an intensiven Gefühlen von Angst und Verzweiflung angesichts eines oft tragischen Geschehens. Ich bilde mir nicht ein, dass das über die Jahre hinweg spurlos an mir vorübergeht. Eine gute Einbindung in ein Team und Supervision helfen. Vor allem aber habe ich neben der Arbeit andere Lebensbereiche und Interessen, die mir sehr wichtig sind und mir sehr viel Freude bereiten. Und schließlich beginnt und endet jeder Arbeitstag für mich mit 25 Minuten Bewegung an der frischen Luft. Ich fahre mit dem Fahrrad zur Arbeit, durch Wiesen, Wald und Felder, bei Wind und Wetter. Das klingt vielleicht banal, aber es tut einfach gut.

DZO: Frau Dr. Hermelink, vielen Dank für das Gespräch.