DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2015; 13(03): 5-7
DOI: 10.1055/s-0035-1546022
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Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart · New York

Im Gespräch mit … Jane Eliza Stark

Jean-Paul Höppner
,
Renate Schilling (Übersetzung)
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Publication Date:
10 July 2015 (online)

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Abb. 1 Jane Stark. Foto: © privat

Jane, Du bist die einzige Kanadierin weit und breit, deren Name häufig in der osteopathischen Literatur und bei internationalen Konferenzen erwähnt wird, und Du gibst regelmäßig Workshops in Europa. Wie kam es zu dieser internationalen Bekanntheit?

Ausgangspunkt meiner Reputation als Expertin zum Thema Still waren Interviews mit 37 erfahrenen Osteopathen aus aller Welt, die ich im Rahmen meiner Diplomarbeit über Stills Faszienkonzept durchführte. Eine meiner Forschungsfragen war: Was genau meinte Still mit seiner Aussage „Die Seele des Menschen mit all ihren Strömen reinen lebendigen Wassers scheint in den Faszien des Körpers zu wohnen“? Im Zusammenhang mit dieser und weiteren spannenden Fragen wurde mein Name unter diesen erfahrenen Osteopathen bekannt. Dazu kam, dass das Personal des National Center for Osteopathic History (ein Teil des Still-Museums) einige Anfragen an mich weiterleitete, was zu neuen (Internet-)Kontakten mit Osteopathen in aller Welt führte, außerdem zu einem Verleger namens Christian Hartmann.Meine erste internationale Einladung kam vom Deutschen Osteopathie-Kolleg. Bei dieser Konferenz traf ich dann Christian Hartmann persönlich, der mich schließlich dazu überredete, ihn meine Arbeit ins Deutsche übersetzen und publizieren zu lassen. Diese Publikation führte zu weiteren Einladungen nach Deutschland, aber auch nach Frankreich, England, Italien, Japan, Österreich, Belgien, Holland und in die USA.

Du bist also offenbar eine Expertin zum Thema Still und Geschichte der Osteopathie, aber in der Regel gibst Du Faszien-Workshops – ist das korrekt?

Über mich wird geschrieben, dass ich auch mit den Biografien von Sutherland und Littlejohn sehr vertraut bin, da ich auch über diese beiden bedeutenden Osteopathen geforscht habe. Doch sehr wenige osteopathische Organisationen oder Weiterbildungseinrichtungen sind daran interessiert, ein ausführliches Seminar ausschließlich über osteopathische Geschichte und Philosophie anzubieten. Sie wagen es einfach nicht, in der Annahme, dass ihre Schüler kein Interesse an der Historie haben, sondern nur am Erlernen von Techniken interessiert sind. Einerseits möchten potenzielle Anbieter also, dass ich mein Wissen über die frühe Geschichte der Osteopathie weitergebe, doch andererseits sollte es auch nicht zu viel davon sein – sie bestehen darauf, dass ich gleichzeitig Techniken lehre. Also war ich vor die Wahl gestellt, diese Informationen für mich zu behalten oder eben einige praktische Faszientechniken in meine Seminare einzubauen.

Welche Herangehensweise an die Faszie vermittelst Du dabei?

Nun, ich bin mir nicht sicher, ob es mein ganz eigener Zugang ist oder ob etwas Ähnliches auch anderswo gelehrt wird, doch ich habe versucht, auf der Grundlage der Schriften von Still, Littlejohn und Sutherland eine wirksame Herangehensweise zu entwickeln. Littlejohn hat eine auf die Lunge und die Atmung bezogenes Vorgehen vorgeschlagen, Still und Sutherland hingegen Annährungen, die mehr die Flüssigkeiten im Auge haben. Mein Zugang basiert also auf dem Flüssigkeitsmodell, wobei ich die Fasern zugunsten der Flüssigkeit in der Matrix fast ignoriere. Das Seminar ist im Endeffekt für die Teilnehmer wie auch für mich sehr befriedigend, auch wenn man anfangs die Ungeduld spüren kann, mit der viele Teilnehmer auf den technischen Teil des Programms warten.

Woher kommt Deine Abneigung, „Techniken“ zu lehren?

Weil das im Grunde der einfachste Teil der Osteopathie ist. Jeder kann eine „Technik“ entwickeln oder anwenden; es braucht keinen Lehrer, um so etwas zu demonstrieren. Wenn man dagegen die Prinzipien hinter den Techniken kennenlernt und versteht, wie diese Prinzipien entwickelt wurden, wird das Lehren von Techniken überflüssig.

Welche Art von Kursen besuchst Du selbst gern?

Ich besuche gern Kurse, die Philosophie oder Prinzipien vermitteln, v. a. aber solche, bei denen es keine Rolle spielt, welche Ausbildungsebene man erreicht hat. Wenn ein Kurs so konzipiert ist, dass sowohl Anfänger im ersten Ausbildungsjahr als auch Osteopathen mit 20 Jahren Praxiserfahrung etwas lernen können, dann bin ich mit Begeisterung dabei. Natürlich nehmen die erfahrenen Teilnehmer etwas anderes mit als die Anfänger, doch alle können davon profitieren. Darum mag ich das EVOST-Programm so gern. Es besteht aus einer Reihe von theoretischen Kursen. Jeder Kurs zwingt einen, kritisch zu denken, statt einfach nur etwas nachzumachen, und der Kurs ist nicht nur für Osteopathen aller Erfahrungsstufen geeignet, sondern auch für Nicht-Osteopathen.

Wo siehst Du die Zukunft der Osteopathie?

Idealerweise sollte die Osteopathie erkennen, dass ihr Potenzial in der Behandlung kranker Menschen liegt und nicht nur in der Behandlung von Schmerzen des Bewegungsapparats. Es gibt genügend andere Berufsgruppen, die sich mit dem Bewegungsapparat beschäftigen. Die Geschichte der Osteopathie zeigt, dass die Mehrzahl der ersten Absolventen der American School of Osteopathy lernten, Menschen mit schweren Erkrankungen zu behandeln. Man sollte im Hinterkopf behalten, dass dies zu einer Zeit war, bevor Sutherland und Becker die Osteopathie im kranialen Bereich bzw. die Arbeit mit dem Stillpoint einführten. Natürlich gibt es zahlreiche Umstände, warum sich die Osteopathie als Berufsstand von der Behandlung schwerer Erkrankungen wegentwickelt hat – oder in manchen Fällen auch dazu gezwungen wurde. Doch es beunruhigt mich, dass wir nichts unternommen haben, um das Potenzial der Osteopathie zur Behandlung kranker Menschen zu erhalten oder weiterzuentwickeln.Es ist ganz offensichtlich, dass es der Osteopathie an qualifizierten Forschern fehlt. Stattdessen hat sich der Berufsstand in Bezug auf Forschung immer auf seine Studenten verlassen. Das ist eigentlich lächerlich, denn es gibt keinen anderen Beruf, der die Forschung den Studierenden überlässt. Meiner Ansicht nach fehlt es der Osteopathie in erster Linie an qualifizierten Vollzeitforschern – und natürlich an Forschungsförderung. Beides ist nötig, damit sie ihr volles Potenzial ausschöpfen kann.

Du hast einen Abschluss in klinischer Forschung, nicht wahr? Welche Art von Forschung braucht die Osteopathie Deiner Meinung nach?

Aus meiner Sicht brauchen wir in erster Linie Forschung zum Thema Palpieren. Aber nicht nur die Forschung dazu ist essenziell, es ist auch wichtig, dass wir die Studenten besser an den physiologischen und psychologischen Prozess heranführen, den wir als Palpieren bezeichnen. Ich empfinde es als eine Schande, dass wir von ihnen das Palpieren erwarten, ohne dass wir ihnen beibringen, wie es funktioniert. Es sollte bspw. Allgemeinwissen sein, dass jedes sensorische Körpersystem, auch das palpatorische, verschiedene Wahrnehmungsschwellen besitzt. Die erste Schwelle ist der Punkt, an dem unser sensorisches System uns mitteilt, dass es etwas wahrnimmt. Wenn z. B. bei einer Musikanlage der Ton aufgedreht wird, gibt es einen Punkt, an dem unser Gehör meldet: „Jetzt höre ich etwas.“ Das bedeutet noch nicht, dass wir den Ton identifizieren können oder wissen, dass es sich dabei um Musik handelt. Es bedeutet einfach nur, dass wir ab diesem Punkt etwas wahrnehmen können. Die nächste Schwelle ist der Punkt, an dem wir identifizieren können, was wir wahrnehmen. Im Beispiel der Musikanlage ist dies der Punkt, an dem wir das Musikstück erkennen können, z. B. als Hey Jude.Ich bin sehr davon überzeugt, dass Lehrer wie auch Lernende verstehen müssen, wie ein Osteopath das wahrnimmt und beeinflusst, was berührt wird. Beim Palpieren handelt es sich um unser grundlegendes Werkzeug als Osteopathen, doch es wird allzu oft als selbstverständlich vorausgesetzt.Ein zweiter Bereich, in dem großer Forschungsbedarf besteht, ist die Überprüfung unserer manuellen Diagnosetechniken, z. B. der verschiedenen Tests für das Iliosakralgelenk. Da kein Test, auch kein medizinischer Test, im Hinblick auf die Befunde eine 100-prozentige Sensitivität (richtig positive Befunde) oder 100-prozentige Spezifizität (richtig negative Befunde) aufweist, führt auch eine manuelle Diagnose immer zu falsch negativen und falsch positiven Befunden. Doch im Gegensatz zu medizinischen Testverfahren sind bei den osteopathischen Untersuchungsmethoden die positiven und negativen Vorhersagewahrscheinlichkeiten noch nicht bekannt. Daher wissen wir nicht genau, ob ein bestimmtes Verfahren besser als Ausschlusstest geeignet ist, der aussagt, dass der Patient das entsprechende Problem nicht hat, oder als Bestätigungstest, der den Verdacht auf einen bestimmten Zustand erhärtet. Das größte Hindernis bei der Validierung der osteopathischen Untersuchungsmethoden besteht darin, dass wir nicht viele Qualitätsstandards haben, mit denen wir unsere Untersuchungsergebnisse vergleichen könnten.

Wenn die Zukunft der Osteopathie Deiner Ansicht nach in der Forschung liegt, wie sollte man dann diejenigen ansprechen, welche die Geschichte der Osteopathie für irrelevant halten?

Ich habe nicht gesagt, dass die Zukunft in der Forschung liegt – vielmehr, dass sie in der erfolgreichen Behandlung kranker Menschen liegt. Forschung, insbesondere in Bezug auf das Palpieren, ist aber notwendig, um uns weiterzubringen, v. a., wenn wir den Berufsstand der Mediziner – sie sind der Osteopathie gegenüber am skeptischsten – davon überzeugen möchten, dass wir mit unseren Händen tatsächlich spüren können. Die Geschichte hilft uns dabei, die Forschungsrichtlinien festzulegen. Sollen wir, wie Still sagte, nach Gesundheit suchen oder nach Krankheit, nach Läsionen? Diese Debatte läuft schon ewig. Doch wenn man ihr folgt, dann stellt man fest, dass die Befürworter beider Seiten oft einfach nur Stills Aussage wiederholen, „es sollte das Ziel des Arztes sein, Gesundheit zu finden“, ohne den Kontext zu berücksichtigen und ohne sich zu bemühen, zu verstehen, wie Still selbst dabei vorging. Stattdessen verwenden sie das Zitat einfach nur als Plattform für ihre eigenen Zwecke. Ich sehe meine Rolle darin, einen Kontext für diese Aussage zu schaffen.Ein anderes Beispiel ist Stills berühmte Aussage, der Liquor sei „das wichtigste bekannte Element“. Es ist richtig, dass er das im Jahr 1899 in dieser Form geschrieben hat. Doch 1902 revidierte er diese Aussage und sagte, der Liquor sei „eines der wichtigsten bekannten Elemente“. Nun war aber das Buch von 1902 mehr als 80 Jahre lang vergriffen und es gab praktisch keine Exemplare mehr. Als es schließlich wieder aufgelegt wurde, wurde die Originalausgabe irrtümlicherweise auf 1892 datiert. Man dachte also fälschlicherweise, Stills letzte Aussage zu diesem Thema sei, dass es sich beim Liquor um „das wichtigste bekannte Element“ handle. Nach intensivem Quellenstudium konnte ich belegen, dass das Buch, das angeblich aus dem Jahr 1892 stammte, erst 1902 gedruckt worden war – was bedeutet, dass Still den Liquor letztlich doch nicht für das wichtigste bekannte Element hielt. Ich könnte noch zahlreiche solcher Beispiele aufführen, die zeigen, warum die Geschichte der Osteopathie immer noch von Bedeutung ist, aber stattdessen werde ich Dich an einem meiner Kurse teilnehmen lassen.

Was war Deine wichtigste Erkenntnis im Zusammenhang mit Deiner Forschung über Stills Faszienkonzept?

Da gab es gleich mehrere. Zunächst einmal die Tatsache, dass jeder der erfahrenen Osteopathen, mit denen ich sprach, eine andere Sichtweise auf die Faszie hatte, und dass ihre Sichtweisen anders waren als die von Still. Doch ich glaube, was mir wirklich die Augen geöffnet hat, war die Entdeckung, dass die meisten meiner Interviewpartner die Werke von Still entweder schon lange nicht mehr oder sogar überhaupt nie gelesen hatten oder dass sie ihn nicht verstanden hatten, selbst wenn sie das behaupteten.

Gibt es irgendetwas, was Du zum Abschluss noch sagen möchtest?

Osteopathie ist nichts, was ich einfach nur mache, es ist vielmehr zu einer Lebensweise geworden. Osteopathie ist eine sehr persönliche Erfahrung. Beim Studieren oder Praktizieren von Osteopathie sollten wir immer danach streben, wir selbst zu sein – denn nur dort können wir die Wahrheit finden.

Jane, vielen Dank für dieses Gespräch!