Derzeit keine Behandlungsoption
Diese hochrangige Studie zu dem faszinierenden Thema Blasenersatz liefert sehr ernüchternde
Ergebnisse. Deshalb ist diese Studie so wertvoll und eine Pflichtlektüre für all diejenigen,
die sich mit diesem Thema beschäftigen. Der Traum vom (funktionierenden) Blasengewebeersatz
ist zwar nicht so alt wie der vom Fliegen aber die vorliegenden Studienergebnisse
zeigen, dass dieser Traum im Vergleich zu dem anderen noch andauert.
Mit anderen Worten: Bislang gibt es keinen funktionierenden Blasenersatz auf der Basis
der Gewebezüchtung, selbst in der derzeit aufwändigsten Form mittels bioabbaubarer
Matrix, auf der autologe Blasenmuskelzellen und Blasenmukosazellen angezüchtet wurden.
Vielversprechende Ergebnisse aus dem Tierlabor lassen sich eben nicht eins zu eins
auf die Behandlung unserer Patienten übertragen.
Studie methodisch stark
Dabei ist diese Arbeit als prospektive Phase-II-Studie methodisch sehr stark. Seriell
durchgeführte Untersuchungen (vor allem Urodynamikuntersuchungen) der Patienten nach
6, 9, 12, 18, 24 und 36 Monaten, die zudem extern unabhängig ausgewertet wurden, übertreffen
hinsichtlich der Methode viele andere Publikationen, die zu diesem Thema veröffentlicht
worden sind. Aber auch in dieser Studie wird lediglich über 10 Patienten berichtet,
die zudem in 4 verschiedenen nordamerikanischen Zentren in einem doch recht langen
Zeitraum zwischen 2006 und 2011 behandelt wurden.
Jeder, der Patienten mit neurogener Blasenentleerungsstörung behandelt, wüsste die
Existenz funktionierenden Blasenersatzgewebes zu schätzen. So könnten unter Umständen
die nicht unerheblichen und zu bedenkenden Folgekomplikationen nach herkömmlicher
Augmentation, z. B. als Enterozystoplastik, vermieden werden. Die Folgekomplikationen
in metabolischer Hinsicht bedürfen nicht nur einer lebenslangen Kontrolle und ggf.
Korrektur, eine mögliche Adenom-Adenokarzinom-Sequenz kann hinsichtlich des Langzeitverlaufs
heute noch nicht sicher vorausgesagt werden und belastet die Patienten zusätzlich.
Morphologie ist nicht gleich Funktion
Aufbauend auf vielversprechenden Ergebnissen aus der Arbeitsgruppe um Tony Atala [
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] wurde diese Studie nun angelegt. Sicher ist es heute möglich, über Gewebezüchtung
Blasenersatzgewebe mit einem gewissen morphologischen Ergebnis zu implantieren. Aber
Morphologie ist nicht gleich Funktion. Die Blase ist in ihrer Funktion äußerst komplex
hinsichtlich der verschiedenen Aufgaben des Harnspeicherns und des (willkürlichen)
Miktionierens. Es ist sicher zu einfach und mechanistisch gedacht, durch einen gezüchteten
Gewebeersatz diese komplexe Funktionalität, die zudem bei diesen Patienten neurogen
gestört ist, ersetzen zu können. Das wird durch diese Studie eindrücklich belegt und
sollte dazu führen, sich von dieser einfachen Hoffnung zu verabschieden. Dabei ist
dies nicht wissenschaftsfeindlich gemeint aber diese Erkenntnis sollte vielmehr weitere
Patienten vor dieser noch nicht ausgereiften Technik schütschützen, da nicht nur die
erwarteten Ergebnisse nicht erzielt werden können, sondern zusätzlich die Patienten
mit erheblichen Komplikationen belastet werden.
Ich habe selber einige Patienten mit neurogener Blasenentleerungsstörung erneut operieren
müssen (im Sinne einer Enterozystoplastik), die mit SIS (small intestinal submucosa)
Jahre zuvor augmentiert wurden. Auch bei diesen Patienten zeigte sich nicht die erwartete
Verbesserung hinsichtlich der Kapazität und Compliance [
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]. Gerade dieses Verfahren erscheint so verlockend, da auf eine Zellanzüchtung vermeintlich
verzichtet werden kann und das Material im Laufe der nächsten Monate abgebaut und
durch Blasenwandgewebe ersetzt wird. Vielversprechende histologische Bilder können
dies im Tierversuch und zuletzt auch am Menschen belegen [
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]. Aber das ist eben auch nur Morphologie und nicht Funktion, insbesondere im Langzeitverlauf.
Fazit
Zusammengefasst können durch die Technik der Gewebeanzüchtung als Ersatz für die primär
oder sekundär geschädigte Blasenwand heute (histo-)morpholgisch vielversprechende
Ergebnisse erzielt werden. Gleichwohl kann den Patienten nur durch eine Normalisierung
der Blasenfunktion geholfen werden, welches insbesondere bei neurogener Blasenentleerungsstörung
durch diese Technik nicht gelingt. Um die Patienten nicht mit den z. T. erheblichen
Komplikationen zusätzlich zu belasten, stellt diese Technik derzeit im klinischen
Alltag keine Behandlungsoption dar. Diese Einschätzung wird durch die vorliegende
Studie eindrucksvoll belegt.
Prof. Dr. Maximilian Stehr, Nürnberg