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DOI: 10.1055/s-0034-1395959
Heute auf dem Sofa: Andreas Egger
Sabine Hahn im Gespräch mit PflegeexpertenPublication History
Publication Date:
21 November 2014 (online)



Andreas Egger (diplomierter Pflegefachmann AKP, MAS Mental Health, Ausbilder SVEB 2) ist Leiter der Gerontopsychiatrie im Reusspark, Zentrum für Pflege und Betreuung, Niederwil, Schweiz.
Lieber Herr Egger, danke, dass Sie sich die Zeit nehmen und neben mir auf dem Sofa Platz genommen haben. Es gibt noch nicht viele gerontopsychiatrische Stationen außerhalb des Demenzsettings, die sich auf die Pflege psychisch erkrankter, alter, pflegebedürftiger Menschen spezialisiert haben. Was ist die Besonderheit dieser Bewohnenden?
Sie sind geprägt durch eine jahrzehntelange psychiatrische Erkrankung. Manche haben einen großen Teil ihres Lebens in einer Klinik verbracht. Sie sind eigen geworden, schrullig. Die jahrelange Neuroleptika-Therapie hat positive und negative Spuren hinterlassen. Seelisch und motorisch gedämpft haben sie gelernt, mit den Symptomen ihrer Grunderkrankungen zu leben und sind im Umgang damit Experten und Lebenskünstler geworden. Das Spektrum des Verhaltens reicht von liebenswert-originell bis kaum aushaltbar-querulierend.Mit zunehmenden, altersbedingten, körperlichen Beschwerden kommen sie in die Altersinstitutionen. Sie brauchen geriatrische und Psychiatrische Pflege. Im Umfeld von psychisch nicht veränderten Betagten werden sie in Bezug auf ihre Kontaktfähigkeit, das Sozialverhalten und die kognitive Leistungsfähigkeit überfordert. In eine Demenzabteilung gehören sie nicht, weil dieses Milieu für kognitiv sehr eingeschränkte Menschen die weitgehend intakten geistigen Fähigkeiten der psychiatrisch erkrankten Personen nicht genügend positiv anregen kann.
Häufig spricht man im Zusammenhang mit diesen Bewohnenden von herausforderndem Verhalten, komplexer Pflege, Aggression und so weiter. Wie sehen Sie das?
Herausforderndes Verhalten und Aggressionen treten häufig auf und führen uns manchmal an unsere Grenzen. Wir versuchen, lösungsorientiert die verschiedenen Faktoren, die zu einem Geschehen führen, zu verstehen und die einzelne Situation zu verbessern. Sehr bewährt haben sich ein strukturiertes Vorgehen im Zusammenhang mit der Einschätzung von Gewaltrisiken, ein Meldeverfahren bei Gewaltereignissen und Fallbesprechungen. Schon die Möglichkeit, eine Meldung zu machen und gehört zu werden, entlastet und hilft, die Situationen zu objektivieren.Am wichtigsten erscheint mir die Prophylaxe durch Milieu- und Beziehungsgestaltung. Die Bewohnerinnen und Bewohner sollen spüren, dass sie geschätzt und ernst genommen werden und wenn möglich auf ihre Bedürfnisse eingegangen wird. Auf der anderen Seite müssen um der Gemeinschaft willen nötige Grenzen klar vertreten werden, dazu braucht es Absprachen im Team und eine gemeinsame Haltung.
Sie haben gerade ihre These im MAS Mental Health zum Thema Lebensqualität in drei gerontopsychiatrischen Wohnbereichen erfolgreich abgeschlossen. Wie lässt sich die Lebensqualität von Menschen im gerontopsychiatrischen Wohnbereich beschreiben? Und was haben Sie aus der Studie gelernt?
Ich konnte in strukturierten Interviews einen Fragebogen verwenden, der die Lebensqualität in elf Dimensionen erhebt. Zu jeder Dimension wurden drei bis sechs Fragen gestellt, die in einer Dreierskala beantwortet werden konnten. Die Fragen sind sehr einfach formuliert und holen das unmittelbare Erleben der Befragten ab. Die 41 Interviews mit 58 Fragen ergaben ein recht tiefes Bild der Lebensqualität aus der Sicht unserer Bewohner.In der Literaturrecherche sprach mich das Modell von Hennessey und Mangold [1], [2] besonders an. Lebensqualität entsteht am Schnittpunkt von objektiv erbrachten Angeboten und dem subjektiven Erleben der Klienten. Universale subjektive Einflussfaktoren sind gemäß diesen Autoren Kompetenzerleben, Autonomie, soziales Eingebundensein und Sinn.In unserem konkreten Fall hat sich gezeigt, dass wir unsere Aktivitätsangebote überprüfen müssen und dass manche Bewohner das Interesse an der eigenen Person wenig erleben. Sehr zufrieden waren die Bewohner mit ihrer unmittelbaren Umgebung, alle fanden, sie würden freundlich behandelt und auch der Bereich „Würde“ wurde sehr positiv bewertet.Große Risiken für eine schlechte Lebensqualität bei den Bewohnern selbst sind eine hohe ADL-Abhängigkeit oder Depressionssymptome.
Pflegequalität und Lebensqualität hängen sehr eng miteinander zusammen. Wie sehen Sie das?
Die Pflegequalität ist für mich ein technischer Fachbegriff, dessen Inhalt durch die Profis und die Institutionen definiert wird. Wir zählen die Anzahl der Stürze und Dekubiti, messen Schmerzen, Medikamentenfehler und so weiter. All dies ist wichtig und richtig. Mit der Lebensqualität versuchte ich ergänzend zu erfassen, wie die Leistungen der Institution von den Kunden tatsächlich erlebt werden.Meines Erachtens wird in den gängigen Qualitätserfassungen die subjektive Erfahrung aus Bewohnersicht zu wenig berücksichtigt. Was nützt das teuerste Auto, wenn ich aus irgendeinem Grund trotzdem keine Freude daran haben kann?Dabei gilt es, ein besonderes Augenmerk auf die oben genannten universellen, subjektiven Faktoren – Autonomie, Kompetenzerleben, soziales Eingebundensein, Sinn – zu richten, um sie für die abhängigen alten Menschen, soweit möglich, trotz allem erlebbar zu machen. Für die Lebensqualität der Bewohner spielt zum Beispiel die erlebte Beziehung zu den Pflegenden eine viel größere Rolle als korrekt verrichtete Pflegehandlungen.
Als Leiter der Gerontopsychiatrie sind Sie maßgeblich für die Pflegequalität beziehungsweise Versorgungsqualität verantwortlich. Wo sehen Sie hier für das Management im gerontopsychiatrischen Bereich in der Schweiz den größten Entwicklungsbedarf?
Aus meiner Erfahrung braucht es einerseits Vorgaben, die bei den Pflegeteams auch eingefordert werden, andererseits dürfen die Rahmenbedingungen für die Auftragserfüllung nicht zu eng sein und sollen keinen unnötigen Druck ausüben. Die Faktoren, die zur Lebensqualität der Bewohner führen, müssen die Pflegenden am Arbeitsplatz selbst erleben. Wer selber keine Entscheidungen fällen kann, das Gefühl hat, nichts zu bewirken, sich gar sozial ausgegrenzt fühlt, wird den Bewohnern nicht ermöglichen können, dies im Stationsalltag zu erfahren.Gerontopsychiatrische Pflege muss komplexes menschliches Verhalten verstehen und flexibel darauf reagieren können. Krankheitsbilder verstehen, Medikamente kennen, betriebliche Vorgaben erfassen, soziale und finanzielle Aspekte einbeziehen – all das braucht Fachwissen, Abstraktionsfähigkeit und hohe Sozialkompetenz.Solches Expertenwissen entsteht durch fachlich reflektierte Erfahrung. Diese Mitarbeiterinnen kosten Geld. Leider ist es nicht einfach, gute, psychiatrieerfahrene Pflegende für die Alterspflege zu gewinnen. Dies bedingt, dass gute Löhne gezahlt werden sollten und auch in die Bildung des bestehenden Personals investiert werden muss.
Welche „alten Zöpfe“ gilt es im gerontopsychiatrischen Bereich endlich abzuschneiden? Oder ist das bereits geschehen?
Geriatrie und Gerontopsychiatrie sind für viele Pflegende immer noch unattraktive Einsatzgebiete, die nicht viel mehr Herausforderung zu bieten scheinen als täglich viel Grundpflege. In Wirklichkeit kann meines Erachtens in keinem Aufgabengebiet die Pflege so autonom handeln wie in der Langzeitpflege.Im Heim ist eine ganzheitlichere Sicht auf den Menschen möglich. Zwischenmenschliche Aspekte, Alltagsgestaltung, Einbezug der Angehörigen können besser im Pflegealltag berücksichtigt werden, als im Rahmen eines Klinikaufenthalts. Heute stehen viele anerkannte Methoden und Konzepte zur Verfügung, die eine hohe Fachlichkeit ermöglichen. Wer in der Geriatrie arbeitet, engagiert sich zudem für eine topaktuelle, große Herausforderung unserer Gesellschaft.
Warum ist es im Management wichtig, auch fachlich à jour zu bleiben? Beziehungsweise was hat Sie motiviert, sich noch vertieft in einem MAS mit der Pflege auseinanderzusetzen?
In unserer Institution wurden zwei neue gerontopsychiatrische Wohnbereiche ins Leben gerufen, die ich von der Konzeptionsphase an als Bereichsleiter mitprägen durfte. Es war mein Anliegen, meine Entscheidungen auf aktuelle Erkenntnisse stützen zu können. Das Studium gab mir die Gelegenheit, mich mit Fachwissen auf Hochschulebene auseinanderzusetzen.Das Suchen von evidenzbasiertem Pflegewissen, das in einem nächsten Schritt im eigenen konkreten Alltag nutzbar gemacht werden kann, war für mich sehr bereichernd, hat mir „altem Hasen“ da und dort nochmals den Horizont erweitert und verschaffte mir mehr Sicherheit für meine Aufgabe.
In welche Richtung sollte sich nach Ihrer Meinung die gerontopsychiatrische Pflege in den deutschsprachigen Ländern weiterentwickeln?
Die ambulante gerontopsychiatrische Pflege sollte ausgebaut und weiterentwickelt werden, im Sinne eines individuellen Hilfs- und Beratungsangebots für Betroffene und ihr soziales Umfeld. Im Bereich der Demenz gibt es einige sehr vielversprechende, modellhafte Projekte, zum Beispiel unter dem Titel „Zugehende Beratung“. Sie helfen, dass Betroffene länger zu Hause bleiben können, sie dienen der Lebensqualität und führen durch den verzögerten Heimeintritt zu einer Kostenersparnis für das Gesamtsystem.
Welche politischen Anliegen gilt es für die gerontopsychiatrische Pflege stärker zu vertreten?
In der Schweiz müssen sogenannte Betreuungsleistungen in der ambulanten Pflege und im Langzeitbereich von den Betroffenen selber bezahlt werden. Die Krankenkassen finanzieren nur „medizinische Pflege“ im Sinne des Krankenversicherungsgesetzes. Die Betreuung wird in den allermeisten Fällen aufgrund krankheitsbedingter Defizite nötig und ist keine privat gewünschte Komfortleistung.Hier müsste umgedacht werden und die pflege- und betreuungsbedürftigen Personen sollten finanziell entlastet werden. Damit würde indirekt auch die anspruchsvolle Betreuungsleistung anerkannt, die in der Gerontopsychiatrie einen zentralen Stellenwert hat.Im Zusammenhang mit Betriebsbewilligungen und Finanzierungsverfahren werden heute unsinnige Datenmengen erhoben, die sich aufgrund der unterschiedlichen Instrumente manchmal noch überschneiden. So gehen wertvolle Zeitressourcen verloren, die an der knappen Pflege und Betreuung bei den Bewohnern eingespart werden müssen.
Wie sieht es mit dem Pflegenachwuchs im Bereich Gerontopsychiatrie aus? Welche Entwicklungen und wichtigen Aufgaben für das Pflegemanagement sehen Sie hier?
Es gilt, die Gerontopsychiatrie als attraktiven, interessanten Arbeitsort mit zeitgemäßen Arbeitsbedingungen und Entwicklungsmöglichkeiten zu etablieren und zu kommunizieren. Im Reusspark ([ Abb. 1 ]) werden ständig rund sechzig Fachangestellte Gesundheit ausgebildet. Jedes Jahr bleiben etwa ein Drittel der Abschließenden dem Betrieb erhalten und können sich bei Wunsch und Eignung über die Fachweiterbildung Langzeitpflege oder eine Höhere Fachausbildung weiterentwickeln. So bemühen wir uns, für junge Arbeitnehmende attraktiv zu sein und in ihre Entwicklung zu investieren.


Auch Sie blicken auf eine längere Berufskarriere zurück. Welche Personen haben Sie wesentlich beeinflusst?
Am allermeisten Personen, die mir etwas zugetraut haben und mir Raum gaben, um eigene Erfahrungen zu machen.
Ihr Engagement für die Gerontopsychiatrie ist im Gespräch sehr stark spürbar und ich hoffe, dass wir einige junge Pflegefachpersonen etwas „gluschtig“ auf dieses spannende Fachgebiet machen konnten. Zum Schluss stelle ich meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern die Frage, was in ihrem Reisegepäck nie fehlen darf. Wie sieht das bei Ihnen aus, Herr Egger?
Mein Frau und ich sind seit einigen Jahren begeisterte Reisemobilfahrer, da gehört unbedingt ein Navigationsgerät dazu, das uns sicher und entspannt zu unseren Zielen bringt.Auf meinen E-Book-Reader möchte ich auch nicht verzichten, da steht Literatur von der Bibel bis zum nordischen Thriller zur Verfügung – und er erlaubt mir, nachts im Dunkeln zu lesen ohne meine Partnerin zu stören.Schließlich noch einen Korkenzieher, um den vor Ort gekauften Wein jederzeit genießen zu können.
Das tönt für mich nach gemütlicher Reise und viel Ablenkung vom Berufsalltag. Vielen Dank für das Gespräch!
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Literatur
- 1 Hennessey R, Mangold R. Der Qualität Leben geben. Nova cura: 2008: 7
- 2 Hennessey R, Mangold R. Das Konzept Lebensqualität. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik 2012; 3