Z Orthop Unfall 2014; 152(05): 418-419
DOI: 10.1055/s-0034-1395294
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interview zum Multiplen Myelom – Georg Herget: „Die Früherkennung des Multiplen Myeloms bleibt ein Problem“

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Publication Date:
14 October 2014 (online)

 
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    Privatdozent Dr. Georg Herget, geboren 1968, ist Oberarzt in der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Freiburg. PD Dr. Herget vertritt das Fachgebiet Orthopädie / Unfallchirurgie in den Tumorkonferenzen des Comprehensive Cancer Centers Freiburg (CCCF). (Bild: Uniklinik Freiburg)

    Dr. Georg Herget vom Universitätsklinikum Freiburg erklärt, wie Orthopäden bei Patienten mit Rückenschmerzen ein Multiples Myelom rechtzeitig diagnostizieren. Gerade wegen ihrer oft unspezifischen Symptome bleibt die Erkrankung oft lange unerkannt.

    ? Es gibt Erfahrungsberichte von Patienten mit Multiplem Myelom, nach denen es mitunter sehr lange dauert, bis die Krankheit richtig diagnostiziert wird. Ist das ein Problem, das auch Sie kennen?

    Ja. Die Früherkennung der Krankheit bereitet durchaus Probleme.

    ? Warum?

    Das Multiple Myelom oder das Plasmozytom stellt den Arzt quasi vor eine auf den Kopf gestellte Pyramide eines ganzen Arsenals möglicher Diagnosen.

    ? Was meinen Sie mit „auf den Kopf gestellt“? Offenbar landen viele Betroffene wegen ihrer Symptome zunächst beim Orthopäden?

    Viele Patienten suchen wegen Knochen- und vor allem Rückenschmerzen den Orthopäden auf. Diese Beschwerden können ein Symptom des Multiplen Myeloms sein. Doch können hinter Rückenschmerzen viele Diagnosen stecken, wovon das Myelom eine seltene ist. Grundsätzlich leiden sehr viele Menschen an Beschwerden im Rücken: etwa 85 % aller Menschen haben in ihrem Leben mindestens einmal Rückenschmerzen. Zugleich ist es so, dass man bei der Mehrzahl von Rückenschmerzpatienten kein sicheres Korrelat findet. Nur bei 10 bis 15 % der Betroffenen wird anhand der Bildgebung eine schmerzursächliche Diagnose gefunden, man spricht dann vom spezifischen Rückenschmerz. Beispiele hierfür sind z. B. Bandscheibenschäden, Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis und mit geringer Häufigkeit natürlich auch Tumorerkrankungen. Insbesondere beim älteren Menschen mit Rückenschmerz muss aber auch an die Differentialdiagnose Multiples Myelom gedacht werden.

    ? Was soll der Orthopäde tun, wenn ein 50-Jähriger mit einem Hexenschuss zu ihm kommt? Sofort röntgen, um ein Myelom zu finden oder auszuschließen?

    Sind die allgemeine und die spezifische Anamnese unauffällig, so kann initial auf eine Bildgebung verzichtet werden. Wenn der Rückenschmerz trotz z. B. physikalischer Maßnahmen 4 bis maximal 6 Wochen andauert, ohne dass sich eine Besserung einstellt, führe ich die Beschwerden einer bildgebenden Klärung zu.

    ? Klärung?

    Primär Röntgen, gegebenenfalls Schnittbilddiagnostik.

    ? Ein CT oder ein MRT?

    Bandscheibenschäden, aber eben auch ein Knochenmarkbefall, der einen Hinweis auf ein Myelom sein kann, lassen sich besser im Kernspin / MRT als im CT erkennen. Zudem bin ich der Ansicht, dass auch beim älteren Menschen Strahlenhygiene betrieben werden sollte, auch deshalb das Kernspin. Allerdings ist die Verfügbarkeit des MRTs oft begrenzt.

    ? Manche Betroffene werden allerdings erst mal für Monate bis Jahre klassisch orthopädisch behandelt, bevor die Diagnose Myelom gestellt wird. Ist das zu lang?

    Grundsätzlich ist diese Fragestellung gerechtfertigt, ja. Allerdings haben wir derzeit noch keine verlässlichen Zahlen dazu, wie viel Zeit durchschnittlich vergeht zwischen dem Auftreten erster Symptome bis zur Diagnose. Das wollen wir daher jetzt in einer Analyse an unserem Zentrum klären und ggf. Konsequenzen ableiten, z. B. ob vielleicht mehr Aufklärung stattfinden muss um Behandelnde für die Erkrankung zu sensibilisieren.

    ? Was noch außer Rückenschmerz kann an früher Symptomatik kommen?

    Beim Myelom sind Knochenschmerzen mit etwa 70 % das führende Symptom. Auch sehr häufig ist die Abgeschlagenheit bzw. die Fatigue.

    ? Wo sitzen die Schmerzen?

    Sie sind oftmals in der Wirbelsäule lokalisiert, aber auch in der Brustregion bei Herden in den Rippen; nicht selten werden die Beschwerden auch an Oberarm- oder Oberschenkel angegeben. Ein Hinweis können auch diffuse Knochenschmerzen sein.

    ? Typisch können also Schmerzen sein, die immer mal wieder kommen?

    Ja, immer wieder ein Auftreten von Schmerzen im Bereich einer, aber auch verschiedener Regionen. Hier muss man die Patienten ernst nehmen, weil es diese wechselnden Beschwerden eben gibt.

    ? Scheidet bei Knieschmerzen ein Myelom als Ursache aus?

    Hinter Knieschmerzen steckt relativ selten ein Myelom. Das Myelom kann aber durchaus auch einmal die Knieregion mit Unterschenkel befallen.

    ? Ein Blutbild liefert am Ende die Diagnose? Oder reicht auch schon das MRT oder CT aus?

    Ein MRT und auch ein CT geben sehr wichtige Hinweise, die Diagnose muss aber mit speziellen Laborparametern und einer Knochenmarkbiopsie unbedingt gesichert werden.

    ? Entwickelt sich aus einem isolierten Herd, Kennzeichen eines sog. isolierten ‚Plasmozytoms‘, immer ein Multiples Myelom?

    Es gibt durchaus isolierte Plasmozytome, d. h. einen lokalisierten Befall, die keinesfalls ein generalisiertes Myelom entwickeln, mit exzellenter Prognose, z. B. nach OP und Bestrahlung. Diese Patienten sehen und betreuen wir in Freiburg auch. Einige Patienten entwickeln im weiteren Verlauf aber ein Multiples Myelom, d. h. auch diese Patienten profitieren von einer engen, multidisziplinären Verlaufskontrolle und Betreuung.

    ? Wie gesichert ist eigentlich, dass eine möglichst frühe Diagnose und Beginn einer Behandlung, wirklich Leben rettet oder zumindest ein Mehr an Lebenszeit bedeuten?

    Genau das wird momentan kritisch diskutiert. Es gibt manche Ärzte, die bereits ein Screening auf das Multiple Myelom durchführen, national und international empfohlen wird dies aber aktuell nicht.

    ? Das geht über ein Blutbild?

    Nein, nicht nur allein über ein Blutbild, sondern u. a. über eine Eiweißelekrophorese und Immunfixation im Serum und Urin. Problematisch daran ist, dass damit auch Vorformen des Myeloms entdeckt werden, die sogenannte monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz (MGUS). Dabei muss man wissen, dass das MGUS relativ häufig bei ‚jungen Älteren‘ und vor allem Älteren vorkommt: unter den > 50-Jährigen findet man es bei 2 bis 3 %, bei > 80-Jährigen sogar in 15 %. Wir wissen, dass aus einem MGUS in der Regel erst nach vielen Jahren ein Multiples Myelom hervorgehen kann, aber nicht muss. Das MGUS selbst stellt aber meist keine Behandlungsindikation dar.

    ? Und was sagen Sie jetzt zum Screening?

    Wir am CCCF sagen, dass solch ein Screening aktuell wenig sinnvoll ist, weil das Risiko, dass sich aus einem MGUS tatsächlich irgendwann ein Myelom entwickelt, gering ist. Es gibt aber durchaus Hochrisikoformen, die man näher eingrenzen kann und engmaschiger kontrollieren sollte. Aber um ein generelles Screening zu empfehlen, reichen die Daten eben nicht aus.

    ? Leben behandlungsbedürftige Patienten bei einer frühzeitigen Diagnose länger?

    Meiner Überzeugung nach ist die Prognose umso besser, je früher eine Erkrankung, die behandlungsbedürftig ist, erkannt wird.

    ? Ihrer Überzeugung nach? Anders gefragt: Werden manche Patienten zu spät diagnostiziert?

    Möglicherweise ja. Ich möchte aber nochmals bemerken, dass wir genau diese Frage gerade intensiv untersuchen wollen und kann daher jetzt noch nicht sagen, ob eine z. B. um ein halbes Jahr verzögerte Diagnose ein schlechteres Outcome bedingt.

    ? Wann muss der niedergelassene Orthopäde sich Rat holen, einen Patienten zum Spezialisten überweisen?

    Sobald er den begründeten Verdacht auf ein Multiples Myelom hat, wäre mein Rat, den Patienten an ein Zentrum mit Myelomexpertise zu überweisen.

    ? Gibt es solche Zentren an allen größeren Kliniken oder nur an Universitätskliniken?

    Es ist zu erwarten, dass jede größere Klinik eine Expertise in der Behandlung des Myeloms hat oder Kontakte zur Konsultation. Im Übrigen kann sicher auch ein gut vernetzter Verbund aus niedergelassenen Ärzten die Diagnostik und Behandlung steuern. Allerdings sollte nach meiner Überzeugung dann eine Schnittstelle zu einer spezialisierten Klinik gegeben sein.

    ? Wieso?

    Die Behandlung dieser Krankheit ist stark im Fluss, auch, da immer wieder neue Medikamente in Studien erforscht werden. Patienten profitieren daher von Tumorkonferenzen in einem Zentrum, weil eben dort Ärzte tätig sind, die eine Kenntnis der aktuellen Studienlage haben und diese auch anbieten können. Patienten können damit schon vor der Zulassung neuer Medikamente an diesen Fortschritten partizipieren. Weiter wird an Zentren wie z. B. am UKL Freiburg, eine interdisziplinäre Behandlung unter Einschluss sämtlicher Fachgebiete durchgeführt um den größten Benefit für die Patienten zu erwirken.

    ? Welche Rolle hat der Orthopäde bei der Behandlung?

    Der Orthopäde hat sowohl bei der initialen Diagnose als auch im Verlauf der Erkrankung durch die Beurteilung der Knochenstruktur und damit auch der Stabilität hinsichtlich der Beratung zu verschiedenen Versorgungskonzepten eine zentrale Bedeutung in dem interdisziplinären Zirkel. Hierzu zählen Strahlentherapeuten, Pathologen, Zytogenetiker, Nephrologen und auch der federführende Hämato-Onkologe.

    ? Was machen Sie, wenn die Knochenstabilität eines Patienten nicht mehr ausreicht?

    Eine Möglichkeit der Stabilisierung einer Osteolyse, z. B. im Oberschenkel, ist die Implantation eines Marknagels. Bei hüftnahen Lysen kann auch die Implantation einer Prothese notwendig werden. Auch konservative Therapien, wie z. B. Rumpforthesen bei eingetretener oder drohender Wirbelfraktur sind sehr gute und wichtige Optionen zur Stabilisierung der Knochen.

    ? Es gibt keine Heilung?

    Man kann mit der Erkrankung eines Multiplen Myeloms heute auch alt werden. Erst kürzlich haben wir über einen Patienten im Tumor-Board diskutiert, der seit 18 Jahren mit der Erkrankung lebt.

    Das Interview führte BE

    Weiterführende Informationen zu den jährlich aktualisierten, interdisziplinär erstellten Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie des Multiplen Myeloms (MM-Tumorboard) aus dem CCCF Freiburg sind einzusehen unter:

    http://www.uniklinik-freiburg.de/medizin1/behandlung/zentren-und-sektionen/sektion-klin-forschung-gcp-qm-und-ectu/chemotherapiemanagement.html und im „Blauen Buch“:
    www.springer.com/medicine/oncology/book/978-3-642-41740-5.


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    Privatdozent Dr. Georg Herget, geboren 1968, ist Oberarzt in der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Freiburg. PD Dr. Herget vertritt das Fachgebiet Orthopädie / Unfallchirurgie in den Tumorkonferenzen des Comprehensive Cancer Centers Freiburg (CCCF). (Bild: Uniklinik Freiburg)