ergopraxis 2014; 7(10): 12-13
DOI: 10.1055/s-0034-1395187
wissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Quantitative Versorgungsforschung – Versorgung in Zahlen

Eva Trompetter

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Publication Date:
13 October 2014 (online)

 

In Deutschland erhält ein Viertel der Frauen mit einem Armlymphödem keine Lymphdrainage. Lediglich der Hälfte aller Menschen mit Fibro myalgie verordnen Ärzte aktive Maßnahmen. Und nur etwa 15 Prozent aller Menschen mit Rheumatoider Arthritis bekommen Ergotherapie. All diese Fakten wären ohne quantitative Versorgungsforschung nicht bekannt.


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Eva Trompetter

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Eva Trompetter hat Public Health studiert und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FH Bielefeld. Sie schreibt regelmäßig für die Zeitschriften ergopraxis und physiopraxis.

Das deutsche Gesundheitssystem gilt als eines der besten der Welt. Dennoch ist nicht jeder Deutsche optimal versorgt. So erhält beispielsweise lediglich ein Viertel der bei der BARMER GEK Versicherten mit sekundärem Armlymphödem eine Kombi nation aus Kompressionsbehandlung und Lymphdrainage – obwohl diese auf der Basis bestehender wissenschaftlicher Erkenntnisse zu empfehlen ist. Weitere 26 Prozent der betroffenen Frauen bekommen nicht einmal eine der beiden Maßnahmen [1, 2]. Derartige Versorgungslücken aufzudecken ist eines der Ziele von Versorgungsforschung. Dabei unterscheidet man zwei Forschungsansätze: Mit quali tativer Versorgungsforschung lassen sich subjektive Sichtweisen von Patienten und Akteuren erfassen – etwa mittels Interviews – und so Lücken in der Gesundheitsversorgung aufdecken (ergopraxis 7–8/14, S. 10, „Qualitative Versorgungsforschung“ ). Quantitative Versorgungsforschung hingegen deckt Lücken und Unterschiede in der Versorgung durch konkrete Zahlen auf. Sie erfasst zum Beispiel regionale Besonderheiten der Gesundheitsversorgung ([ „Indikationen und Verordnung von Ergotherapie“ ]). Oder sie untersucht, welchen Einfluss soziodemografische Merkmale wie Alter und Geschlecht auf die Inanspruchnahme von Leistungen haben.

Um diese Ziele zu erreichen, haben Versorgungsforscher ein breites Spektrum an Möglichkeiten. Sie können unter anderem eigene Daten auswerten, die sie zum Beispiel anhand von Fragebögen erheben. Oder sie analysieren sogenannte Routinedaten, zu denen Daten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV- Daten) oder Datensätze aus der Reha bilitations- und Pflegestatistik gehören [3].

Versorgungsforscher ermitteln auch, wie wirksam bestimmte Therapien unter Alltagsbedingungen sind.

Routinedaten auswerten

Die Routinedaten der GKV umfassen Zahlen zur ambulanten und stationären Versorgung, zur Arbeitsun fähigkeit und zur Arznei-, Heil- und Hilfsmittelversorgung [3]. In erster Linie dienen sie der GKV zur Abrechnung von Leistungen mit den Leistungserbringern. Doch sie helfen auch Versorgungsforschern. Diese können damit unter anderem analysieren, wer mit welchen Leistungen versorgt wurde. So ist es möglich, Aussagen dazu zu treffen, welche Patienten mit welcher Erkrankung welche Maßnahmen in Anspruch nehmen [4].


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Krankenkassen unterstützen Versorgungsforschung

Heil- und Hilfsmittel sind in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus von Versorgungsanalysen geraten. Denn die Ausgaben dafür stiegen im Verhältnis deutlich stärker als in anderen Bereichen: zwischen 2007 und 2012 um 26,7 Prozent bei den Heilmitteln und um 17 Prozent bei den Hilfsmitteln [4, 5]. Damit sie die Verordnungs- und Ausgabenentwicklung für Heilmittel verfolgen können, haben die Spitzenverbände der GKV ein Heilmittel-Informations-System (HIS) aufgebaut [4, 6].

Auch einzelne Krankenkassen fördern wissenschaftliche Analysen ihrer Daten, im Bereich der Heil- und Hilfsmittel etwa die BARMER GEK. Die Ergebnisse der Versorgungsforscher werden im jährlich erscheinenden BARMER GEK Heil- und Hilfsmittelreport publiziert. Hinsichtlich der Versorgung mit Heilmitteln können die Autoren allerdings nur Aussagen darüber treffen, welche Maßnahmen Ärzte auswählen. Welche Therapiemethoden eine Ergotherapeutin in die Behandlung hat einfließen lassen, bleibt unklar. Zudem ist es oftmals schwierig, Diagnose und Verordnung in einen Zusammenhang zu bringen – unter anderem dann, wenn Folgeverordnungen ohne direkten Arztkontakt erfolgen oder ein Patient mehrere Diagnosen hat [2].


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Wirksame Therapiemethoden zu selten verordnet

Die Versorgungsforscher analysieren für den BARMER GEK Heil- und Hilfsmittelreport nicht nur Abrechnungsdaten und Diagnosen, sondern ermitteln auch die Datenlage zur Wirksamkeit der Therapiemethoden. Dadurch fanden sie in den letzten Jahren heraus, dass es Methoden gibt, die trotz ge sicherter oder vielversprechender Evidenz bei Verordnungen teilweise nicht genügend berücksichtigt werden [5]. Leidtragende waren zum Beispiel Versicherte der BARMER GEK mit Rheumatoider Arthritis und Lungenemphysem (COPD). Und das, obwohl Studien im Rahmen der Ergotherapie eine starke Evidenz für die Effektivität von Instruktionen zum Gelenkschutz und zum effizienten Funktionsgebrauch belegen. Darüber hinaus erwies sich die Schienenversorgung für Menschen mit Rheumatoider Arthritis als effektiv in der Schmerzreduktion und zur Steigerung der Handkraft. Bei der interdisziplinären Zusammenarbeit in der Behandlung von Patienten mit COPD wird die Ergotherapie noch nicht einmal erwähnt. Die Leitlinie der Deutschen Atemwegsliga und der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin nennt Ergotherapeuten jedoch explizit als Komponente der pneumologischen Rehabilitation [7].

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Indikationen und Verordnung von Ergotherapie – regionale Differenzen
(Anteile in Prozent)
Für die Berechnungen zur Indikation wurden folgende Erkrankungen berücksichtigt: Schädel-Hirn-Trauma, Enzephalitis, zerebrale Blutung, zerebraler Tumor, Insult, Zerebralparese, Parkinson, Multiple Sklerose, ALS, Querschnittssyndrom und Polyneuropathie.
Abb.: BARMER GEK Heil- und Hilfsmittelreport 2013

Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse haben sich die Autoren der Reporte dafür ausgesprochen, dass die Verordnungen dringend an den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand angepasst werden müssen – eine Chance für Ergotherapeuten, Patienten zukünftig so zu therapieren, wie es die aktuelle Evidenz empfiehlt.


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Mittler zwischen Forschung und Alltag

Übrigens: Die Gründe für diese Ergebnisse kann qualitative Versorgungs forschung ans Licht bringen. Die Forscher können beispielsweise Interviews mit Ärzten führen und sie darin zu ihrem Verordnungsverhalten befragen. Möglich wäre auch, die Patienten zu interviewen, um zu erfahren, was sie tatsächlich brauchen.

Worin auch immer das Verordnungsverhalten der Ärzte begründet ist – die Ana lysen von Heil- und Hilfsmittelverordnungen machen unter anderem deutlich, dass evidenz basierte Therapieansätze nicht automatisch ihren Weg in den Versorgungsalltag finden. Damit unterstreichen sie die Bedeutung der Versorgungsforschung als Mittler zwischen der klinischen Forschung und dem Versorgungsalltag. Und sie eröffnen vielfältige Forschungsmöglichkeiten für die Absolventen gesundheitsbezogener Studiengänge.


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Indikationen und Verordnung von Ergotherapie – regionale Differenzen
(Anteile in Prozent)
Für die Berechnungen zur Indikation wurden folgende Erkrankungen berücksichtigt: Schädel-Hirn-Trauma, Enzephalitis, zerebrale Blutung, zerebraler Tumor, Insult, Zerebralparese, Parkinson, Multiple Sklerose, ALS, Querschnittssyndrom und Polyneuropathie.
Abb.: BARMER GEK Heil- und Hilfsmittelreport 2013